Honigfalter
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Februar 2007
Ein Blick ins Dunkel
von Tanja Muhs


Ira hörte dieses leise „Plopp“, dieses fast unmerkliche, eher erahnte als gehörte Geräusch, das Seifenblasen machen, wenn sie platzen, bereits an dem Tag, als Norman mit dem Brief des Notars, der halb aus dem Briefkasten hervorgelugt hatte, die Treppe heraufgepoltert kam. Zur Feier des Tages hatten sie sich beim Chinesen etwas zu essen geholt und pusteten ihre Träume, große und schillernde Seifenblasenträume, in das karge Wohnzimmer hinaus.
Eine Weltreise. Ein eigenes Haus für Norman und sie, ein Haus, in das er seine Schulfreunde würde einladen können, ohne sich zu schämen. Ein eigenes Zimmer würde er haben, Ira ein Schlafzimmer.
Plötzlich war es da, das „Plopp“. Nicht ausgelöst, hörbar gemacht durch die Tatsache, dass sie als letzte lebende Verwandte der Schwester ihres Vaters zwar das Inventar des Hauses in der Kastanienallee 12 geerbt hatte, aber das Haus selbst an ein Kloster ging. Auch nicht, dass Ira sich gewundert hätte, warum eine ihr unbekannte Tante, die sie nie besucht, nie kennen gelernt hatte, ihr überhaupt etwas vererbte. Diese beiden Dinge waren ihr ziemlich egal, denn sie wusste, dass Tante Klara reich gewesen war, sich einen, wie Papa immer gesagt hatte „Immobilien-Fuzzi“ geangelt hatte und dass das Haus voller Reichtümer sein würde. Edle Teppiche, wertvolle Gemälde und Antiquitäten, die Ira gut brauchen konnte.
Nein, das „Plopp“ kam von einem bröseligen Glückskeks. „Hängen Sie Ihr Herz nicht an Geld und weltlichen Tant, dann wird das Schicksal Sie reich belohnen!“. Noch nicht einmal das Sprüchlein selbst bereitete Ira Sorgen, sondern dieser Schreibfehler, dieses „Tant“ statt „Tand“, bei dem sie unweigerlich an ihre Tante dachte. Ira träumte trotzdem weiter - denn wer glaubte schon an billige Glückskeks-Prophezeihungen? -, machte weiter neue, aber sicherheitshalber, um großen Enttäuschungen vorzubeugen, kleinere Seifenblasen, gefüllt mit reparierten Autos, einem Wochenendurlaub in Disneyland mit Norman und entspannterem Leben, ohne die Notwendigkeit, jeden Stein drei Mal umdrehen zu müssen, um zu schauen, ob darunter die nächste Monatsmiete lag.

„Ich lasse Sie dann mal allein. Schauen Sie sich in Ruhe um. Sie können mir später Bescheid geben, ob und wenn ja, für wann Sie einen Wagen bestellen wollen, um die Gegenstände, die Sie haben möchten, abzutransportieren. Aber bleiben Sie nicht zu lange. Es wird bald dunkel. Der Strom ist abgestellt.“ Die schwarzen Bugatti-Schuhe des Notars tönten durch die Halle, als steppte er, als tanzte er auf dem Grab ihrer so klein gewordenen Träume hinaus.

Wäre es nicht so traurig gewesen, hätte Ira jetzt, als sie zum ersten Mal in Tante Klaras Eingangshalle stand, laut gelacht. Einen Möbelwagen für einen alten, ausgefransten Teppich über den schon viele Füße gegangen waren, und den niemand mehr würde kaufen wollen? Für den gelben Putz, der hinunter auf den grau gefliesten Boden bröckelte? Oder für was sonst in dieser kalten, zugigen Leere?
Aber vielleicht gäbe es ja in einem der anderen Räume etwas. Zögernd betrat sie eines der Zimmer auf der gegenüber liegenden Seite der Halle. Doch auch hier nichts Wertvolles, noch nicht einmal Brauchbares, außer einem unbewohnten Vogelbauer und einem von Kinderhänden gemalten Bild einer lachenden Frau, auf dem „Für Klara“ stand, einfach nichts. Nichts in diesem Raum, nichts im nächsten und auch nicht in einem der anderen.
Unglaublich, sie hatte wirklich nichts geerbt außer dem Inhalt eines großen, leeren Hauses.

Unschlüssig griff Ira nach dem Treppengeländer. Wie viel Uhr mochte es sein? Es war schon so dunkel. Nur ein kurzer Blick in die anderen Zimmer im ersten Stock, einfach um sicher zu gehen, um sich später nicht vorwerfen zu müssen, etwas, irgendetwas Verwertbares, übersehen zu haben. Sie streckte ihre Hand nach dem abgegriffenen Knauf der schweren Eichenholztür aus. Er ließ sich leichter drehen, als sie es auf Grund seiner Massigkeit vermutet hätte und bewegte sich so spielend, als habe man ihn gerade gestern frisch geölt. Ungläubig starrte sie in den Raum hinein, zurück in die leere Halle und wieder hinein. Dieses Zimmer war so unwirklich, unpassend in diesem Haus und doch so genau das, was sie erwartet, was sie erhofft hatte. Es war nicht leer.

Der ovale Raum war viel kleiner als die anderen Zimmer durch die sie gegangen war. Gegenüber der Tür drei große, weiße Fenster, die bis an den Boden reichten. Schemenhaft konnte sie den Garten sehen, darüber den Himmel voller Gewitterwolken. Vor den Fenstern eine gepolsterte Sitzbank. Zu ihrer Rechten ein Kamin aus Marmor in der Wand, daneben einige Regale mit Büchern. Auf dem Sims, in den Regalen, etliche Fotos, bunt, schwarz-weiß und sepia. Iras Blick wanderte über die Wände. Auch dort zahllose Fotos, gerahmt in Holz. Es war inzwischen so dunkel im Raum, dass sie ganz nah herantreten musste, um etwas zu erkennen. Eine junge Frau Mitte zwanzig mit einem großen Hut. Das musste Klara sein. Hübsch war sie. Sie lächelte dem Mann zu, der neben ihr abgelichtet war. Dem Mann, Iras Vater, im adretten Anzug, der ein verhaltenes Fotografielächeln lächelte. Iras Großeltern auf dem nächsten Bild, das Hochzeitsfoto. Klaras Hochzeitsfoto, darunter ein fein besticktes Tuch, mir Rosen umrandet. „Das Haus ist so leer ohne dich. Du bist zu früh gegangen.“ Klara mit zwei Nonnen im Habit, jetzt ohne Hut und in einfachem Kleid, noch immer lächelnd, in einer Gruppe von Kindern, ein Schild im Hintergrund „Kinder- und Jugendheim St. Severin“. Wieder eine Kinderzeichnung, eine lachende Frau mit grauem Haar, um sie herum viele lachende Kinder, darüber in krakeliger Kinderhandschrift: Klaras Schätze.
Es war einfach zu dunkel. Ira musste das Licht einschalten. Draußen polterte der Donner. Sie tastete an der Wand nach dem Lichtschalter und fand ihn endlich. Drückte ihn, ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Dann fiel ihr der steppende Notar ein, der sie auf den abgeschalteten Strom hingewiesen hatte. Ärgerlich sah sie zur Decke hinauf, wo sie die Lampe vermutete. In diesem Moment erhellte ein Blitz den Raum und das Licht fing sich in einem schillernd glitzernden Kronleuchter.

Der Postbote kommt. Er gibt Ira eine Karte in die Hand und streicht ihr übers Haar. „Frohes Fest und lass dich schön beschenken!“ sagt er. Dabei guckt er betreten auf seine Schuhe, als hätte er dort einen großen Fleck entdeckt. Die Karte ist rot und golden, mit einer Schleife. So samtig-weich, exotisch, warm wie eine Verheißung. Ira läuft in die enge Küche, nur auf Socken. „Papa, Papa, schau. Eine Karte von Tante Klara!“ Papa reißt ihr die Karte aus der Hand und wirft sie in den Müll. Dabei muss er noch nicht einmal von seinem Stuhl aufstehen. Sie geht zu Papa hinüber, schiebt sich ihm unter seinem Arm auf seinen Schoß, aber er stößt sie weg. „Papa, bitte, bitte!“ heult, wimmert, bettelt sie. „Lass uns Tante Klara besuchen, bitte, bitte, bitte!“ Die Verheißung glüht noch in ihr. Sie umklammert jetzt das Stuhlbein, weil sonst nichts da ist, was sie umklammern könnte. Mama steht an der Spüle. Papa schnaubt abfällig: „Mutter Teresa aus der Kastanienallee!“ Sie versteht nicht, was er damit meint, aber obwohl es böse klingt, wenn er es sagt, weiß sie, dass es etwas Gutes ist. Fremd, so anders als all das, was sie kennt, seidig, schön wie die Weihnachtskarte. Papa geht ins Wohnzimmer, trinkt einen Schnaps. Von dort ruft er: „Wir besuchen Klara nicht- basta!“
Mama schüttelt den Kopf und geht hinaus zu Papa. Ira bleibt neben dem Küchenstuhl sitzen, hört Mamas Schritte auf dem abgewetzten Teppich. Papa spricht laut. Er ist wütend. Jetzt kommen sie in die Küche gelaufen. Papa geht zum Mülleimer und holt die Karte heraus. Er tobt, sein Gesicht ist rot. Mama ist kurz hinter ihm. „Ja, willst du sie behalten? Hier hast du sie!“ Er schleudert die Karte auf den Küchentisch. Eine Kartoffelschale fliegt in hohem Bogen auf Ira hinunter. Jetzt sagt Mama: „Hans, das Kind!“, deutet auf sie, aber Papa sieht gar nicht hin. Er läuft auf und ab wie ein Tiger im Käfig, brüllt. Mama muss jetzt auch schreien, denn Papa ist so laut, dass er Mama gar nicht hören kann. Mama weint.
„Sie ist deine Schwester! Sie schreibt jedes Jahr eine Karte, die treue Seele, sie lädt uns ein!“ Und du? Du sitzt auf deinem hohen Ross und denkst nur an Geld, Geld, Geld. Als wenn das alles wäre!“
„Aber es ist alles! Schau dich doch um, Herrgott! Meinst du, mir gefällt es, hier in diesem Dreckloch zu leben? In diesem kleinen, miesen Dreckloch. Meine Kinder hier groß werden lassen zu müssen, während meine Schwester die Retterin der Armen spielt? Hier, hier sitzen die Bedürftigen und nicht in Kalkutta oder irgendwelchen Kinderheimen. Wirft das Geld irgendwelchen Rotzblagen in den Rachen! Sie sollte lieber einen Scheck schicken statt einer dusseligen Karte! Sie hat Geld wie Heu und schickt eine verdammte Karte.“ Papa spuckt, als er das sagt.
Jetzt sitzt er am Küchentisch, stützt sein Gesicht in seine großen Hände. Mama läuft weinend hinaus.
„Wir werden Klara nicht besuchen - basta!“ sagt Papa, fast trotzig. Ira sitzt noch immer neben dem Küchenstuhl, als hätten Mama und Papa sie vergessen. Der tropfende Wasserhahn macht „Plopp“, wechselt sich ab mit dem „Plopp“ des Regenwassers, das in das Aluminium-Schälchen platscht, das unter dem undichten Fenster auf der Fensterbank steht.

Ira sah wieder auf die Fotografien, Klaras Schätze. Sie steckte so viele der Bilder in ihre Tasche wie hineinpassten und eilte hinaus zum Auto.
Norman hatte bestimmt schon Hunger. Sie würde ihm ein Butterbrot schmieren, mit ihm im Arm auf der Couch sitzen, von dem leeren, großen Haus erzählen und ihm Tante Klaras Bilder zeigen.

Letzte Aktualisierung: 21.02.2007 - 19.50 Uhr
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