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März 2007
Erwachen
von Esther Schmidt

Mit rotgeweinten Augen und laufender Nase hockte Sonja auf dem Sofa, die Beine angezogen, die Eiscreme-Schachtel fest umklammert. Ihr kleiner Kater Mikesch war seit drei Tagen tot. Wenn sie daran dachte, wie er sich sonst an sie geschmiegt hatte, wie er mit mitfühlendem Gurren sein Köpfchen an ihrem Arm rieb, dann schwollen die Schluchzer in ihrer Kehle zu einem Wimmern an. Ohne ihn gab es niemanden mehr, der sie hätte trösten können.
Sie schob sich den letzten Löffel "Chocolate Chip and Cream" in den Mund und zuckte zusammen, als es klingelte. Uwe konnte es nicht sein. Der spielte wie jeden Samstag Fußball im Park. Und sonst gab es nicht mehr viele Leute, die bei ihr klingelten. Seit sie mit Uwe zusammen lebte, hatten sich ihre Freunde zurückgezogen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben - zumeist war sie es gewesen, die sich zurückgezogen hatte. Denn die meisten von Sonjas Freundinnen sagten Uwe nicht zu. Die eine benahm sich zu zickig, die andere zu bestimmend, die dritte beschimpfte er als "Proll". Seine eigenen Freunde gehörten zu einem ganz anderen Menschenschlag - kultivierte Akademiker mit Erziehung und gutem Verdienst. So, wie er selbst. Ihre Freunde passten nicht dazu. Nach und nach waren sie ihr immer fremder geworden und seit einem halben Jahr hatte sich niemand mehr gemeldet.
Die erinnerte sich noch gut an Uwes triumphierendes Grinsen.
"Siehst du? Und so was nennt sich 'Freundin'." Wenigstens er blieb ihr noch - und Mikesch. Aber den gab es jetzt auch nicht mehr.
Wieder klingelte es, ungeduldiger diesmal, und Sonja rutschte seufzend vom Sofa. Hastig versteckte sie die leere Eiscreme-Schachtel unter den Taschentüchern im Papierkorb. Auf dem Weg zur Tür überprüfte sie kurz ihre Erscheinung im Flurspiegel. Sie wischte über die roten Augen. Dagegen konnte sie jetzt auf die Schnelle nichts mehr machen. Stärker missfiel ihr die leichte Wölbung, die sich über den herausstehenden Beckenknochen abbildete. Sie erkennte einen ganzen Liter Eiscreme - aber darum würde sie sich nachher kümmern.
Er klingelte zum dritten Mal.
"Schon gut!" murmelte sie und schlurfte zur Tür.
Es konnte nur ihre Mutter sein. Tatsächlich tippelte ein zierliches Persönchen in Jeans und Leoparden-Top die Treppe hinauf. Das Gesicht, zerfurcht und verbraucht, wollte so gar nicht zu dem Rest der auf Jugendlich getrimmten Erscheinung passen.
"Kannst du deinen fetten Hintern nicht schneller bewegen?", fauchte sie. Gleichgültig, wie viele Pfunde Sonja verlor, für ihre Mutter würde sie immer die pummelige Zwölfjährige bleiben, die von den Nachbarskindern gehänselt wurde. "Ich habe heute noch anderes zu tun! Und überhaupt! Wie siehst du wieder aus?" Die Besucherin bedachte den ausgewaschenen Jogging-Anzug mit einem missbilligenden Blick und schob sich zur Tür hinein. "Seid ihr heute Abend nicht eingeladen?"
"Doch", murmelte Sonja schuldbewusst. Die Küchenuhr zeigte gerade mal elf - genug Zeit, um sich aufzustylen. Aber sie sagte nichts weiter.
Ihre Mutter fegte in die Küche und stellte klirrend eine Plastiktüte auf den Tisch.
"Der Sekt, wie versprochen. Dein Vater und ich trinken ihn sowieso nicht, dann kannst du ihn heute Abend auch mitnehmen!" Sie drehte sich um und nahm eine von Sonjas morgendlich ungekämmten Haarsträhnen zwischen die Finger. Ekel verzog ihre Mundwinkel.
"Die solltest du aber schon noch waschen!"
Sonja hatte nichts anderes vorgehabt, aber sie nickte bloß folgsam.
"Also wirklich. Wie du wieder aussiehst! Du kannst dem Herrgott auf den Knien danken, dass Uwe sich noch nicht von dir getrennt hat!"

Sonja seufzte auf, als sie die Tür hinter der Mutter schloss. Mechanisch trottete sie zum Bad hinüber. Den Finger brauchte sie schon lange nicht mehr, der Anblick der Toilettenschüssel genügte völlig. Sie hatte sich kaum auf die Knie niedergelassen, als sie schon spürte, wie die sämige Flüssigkeit, zu der das Eis geworden war, sich den Weg ihre Kehle hinauf bahnte.

Später fing sie an, sich schön zu machen: drehte die Haare auf, lackierte die Fingernägel. Sie wollte hübsch sein, wenn er zurückkam. Gegen drei hörte sie seinen Schlüssel. Er warf die Sporttasche in die Ecke, wo sie sie später ausräumen würde, dann erst sah er sie im Flur stehen: die Haare lockig und glänzend, das Make up sorgfältig angelegt. Seine Augen weiteten sich voll Erstaunen. Einen Moment lang schlug ihr Herz schneller in der Hoffnung auf ein paar nette Worte, doch er sagte bloß:
"Willst du etwa mitkommen?"
Sie nickte zaghaft.
"Wir sind doch beide eingeladen, oder?"
"Natürlich." Er schloss die Tür, verlegen, nachdenkend. Dann nahm er ihre Hände und sah sie mitfühlend an. "So unhöflich wären die nicht. Du gehörst ja zu mir. Aber du weißt doch, dass sie dich nicht mögen."
Sonja nickte. Ja, das wusste sie. Sie passte einfach nicht zu ihnen, war nicht klug, nicht fein genug. Wie ihrer Mutter sagte: Sie konnte froh sein, dass er sie noch nicht verlassen hatte.

Doch die gemeinsame Wohnung strahlte noch zu viel von Mikesch aus, die Leere bedrückte Sonja zu sehr, als dass sie es einen einsamen Samstag Abend lang ertragen hätte. Darum begleitete sie ihn, erleichtert darüber, dass keiner von Uwes Freunden ihr zeigte, wie unwillkommen ihre Anwesenheit war. Sie hielt sich im Hintergrund, bemüht, nicht aufzufallen, und dankbar, dabei sein zu dürfen. Wenn sie schon sonst nichts zum Abend beitragen konnte, versuchte sie wenigstens, sich beim Abräumen des Tisches nützlich zu machen.
"Dankeschön." Sylvie, die Gastgeberin, nahm ihr die Teller aus der Hand und sortierte sie in die Spülmaschine ein. "Ich hab das mit deinem Kätzchen gehört. Herzliches Beileid. Ist immer schlimm, so ein Tierchen zu verlieren. "
Sonja nickte zaghaft.
"Danke, dass ich kommen durfte", murmelte sie. "Ich weiß ja, dass ich eigentlich störe, aber ich hätte es ganz alleine zu Hause nicht ausgehalten."
"Machst du Witze?" Sylvia drehte sich um und sah Sonja entgeistert an. "Du störst überhaupt nicht. Im Gegenteil. Wir haben uns alle schon gefragt, warum du in letzter Zeit kaum noch dabei bist!"
Die absolute Ehrlichkeit in Sylvias Blick traf Sonja wie ein Faustschlag. Ihr Magen krampfte sich zusammen, es riss sie nach vorne und während sie hilflos ins Waschbecken kotzte, dämmerte ihr die Wahrheit.
Er hatte sie belogen, bewusst und mit Berechnung. Und mit einem Mal wurde ihr klar, dass er nicht nur mit ihr leben wollte, sondern sie besitzen. Er wollte über sie verfügen können, wie ein Eigentümer.
"Alles in Ordnung?" Sylvia klang besorgt, während Sonja mit zitternden Fingern das Wasser anstellte, um ihren Mund auszuspülen.
"Es tut mir entsetzlich leid", murmelte sie entschuldigend. "Ich bin wohl doch noch nicht so ganz auf den Beinen."
"Magst du dich hinlegen?"
Sie schüttelte den Kopf. Nein. Sie musste raus, weg von ihm. Sie taumelte in den Flur, wo einige der anderen Gäste standen und sie betroffen anstarrten. Auch er - Uwe.
"Komm, ich fahr dich nach Hause."
Er nahm sie am Arm und als sie in seine Augen blickte, erstarrte sie. Sie kannte diesen Ausdruck, den sie bisher für einen liebevollen Blick gehalten hatte. Doch jetzt erkannte sie mit einem Mal, was darin wirklich aufleuchtete: der feiste Stolz des Besitzers, die befriedigte Machtgier eines Despoten.
"Danke, Schatz", sagte sie und versuchte, fest zu klingen, "aber ich will dir nicht den Abend verderben. Lass mich nur ein wenig frische Luft schnappen." Sie wand sich aus seinem Griff und lächelte schwach.
"Das kannst du doch auch hier auf dem Balkon. Es ist schon dunkel draußen."
Spürte er, dass sie ihm zu entschlüpfen drohte? Doch sie nahm ihre Jacke vom Haken und er ließ sie gehen. Er fühlte sich ihrer wohl zu sicher.
Ohne zu wissen, wohin, stapfte sie durch den Nieselregen. Gedanken und Gefühle wirbelten in ihr herum.
Warum tat er ihr das an? Weshalb wollte er sie zerstören? Oder lag es an ihr? Vielleicht tat sie ihm unrecht, verstand alles falsch. Vielleicht stimmte das, was ihre Mutter ihr von Kindheit an eingeredet hatte: Sie war nichts Wert, musste froh sein, dass jemand sich erbarmte, sie ertrug.
Auf der Brücke am Ende der Fußgängerzone blieb sie stehen, starrte ins Wasser.
In ihrem Kopf formte sich ein Bild davon, wie er sich jetzt von seinen Freunden bemitleiden ließ. Sie würden ihm auf die Schulter klopfen, ihm bescheinigen, wie geduldig er doch mit ihr umging und wie viel er ertrug. Sie stellte für jeden eine Belastung dar - für ihre Eltern, für ihren Freund. Und sonst gab es ja niemanden mehr in ihrem Leben. Für alle wäre es nur eine Erleichterung, wenn sie Schluss machte. Niemand würde sie vermissen.
Auf dem nachtschwarzen Wasser glitzerten die Uferlaternen, blinkten wie lockende Schmetterlinge. Sie beugte sich weit über die Brüstung und starrte hinunter. Es wäre so einfach!
"Nein!", schrie etwas in ihr und sie ballte die Fäuste auf dem kalten Metall. Sie wollte nicht sterben! Sie wollte leben! Endlich leben!
Abrupt drehte sie sich um und wieder trugen ihre Füße sie durch die Nacht, doch diesmal nicht ziellos. Kurz darauf klingelte sie an einer Tür, von der weiße Farbe in schmalen Streifen abblätterte.
"Ja?" meldete sich die Gegensprechanlage.
Sonja zitterte. Seit drei Monaten hatte sie nicht mehr mit der Freundin gesprochen. Sie wusste, sie würde nicht willkommen sein. Aber es war ihre letzte Hoffnung. So nahm sie ihren letzten Mut zusammen und holte tief Luft.
"Hallo Heike", sagte sie heiser. "Du hast mal gesagt, ich könne bei dir unterkommen, wenn ich mich von Uwe trenne."
Eine kurze Pause folgte. Dann: "Sonja? Mensch, komm hoch! Ich warte schon seit Jahren darauf, dass du endlich aufwachst!"

Letzte Aktualisierung: 27.03.2007 - 17.50 Uhr
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