Ganz schön bissig ...
Ganz schön bissig ...
Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Jasmin Seidl IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
März 2007
Wie im Märchen
von Jasmin Seidl


Dort vorne sitzt sie, stolz und schön wie eine Königin. Nein, wie eine Märchenprinzessin – meine Märchenprinzessin. Ich bin erst der Vierte in der Reihe, aber sie spürt bereits meine Gegenwart und kann es kaum erwarten, mich zu begrüßen, mich mit ihrem zierlichen Mund anzulächeln, zu fragen, ob ich mit meinen Einkauf zufrieden war.
Seit sie hier arbeitet, vergeht kein Tag, an dem ich nicht dahin schmelze, wenn ich an ihre Kasse trete. Diese Augen. So tief und schwarz wie ein verwirrendes Geheimnis. Dieses Haar. Gelockt und gewunden trägt mich sein Anblick in den Himmel wie berauschende Essensdüfte einen Hungernden beflügeln. Ihr Hals. Die schlanken Arme. Die feingliedrigen Hände, so zierlich und klein. Wenn sie mir das Rückgeld reicht, berührt sie absichtlich meine Handfläche mit ihren samtweichen Fingerkuppen. Ihre süße Stimme nennt mir den Betrag, gebannt und verzaubert spreche ich die Worte mit, denn ich habe mich vorbreitet und kann die Summe im Chor mit ihr nennen. Heute werden es fünf Euro dreiundzwanzig sein.
Auf dem Namensschild steht: Melissa Cantopoulos. Welch sagenhaftes Wort. Einer griechischen Göttin würde dieser Name gerecht, doch sie will unter allen Umständen mein Aschenputtel bleiben. Das hat sie mir zwar nicht gesagt. Doch es ist klar, wie die Verhältnisse stehen. Dass jenes garstige Weib mit der eckigen Lesebrille, die Stiefmutter, meine Prinzessin schikaniert. Nicht einen Fehler macht Melissa, doch dieses Weibstück herrscht sie an, sie solle sich mehr anstrengen und neues Wechselgeld gäbe es erst in einer halben Stunde. So bringt sie mein Aschenputtel in höchste Not und lacht sich selbst ins Fäustchen.
Und an der Kasse gegenüber, da sitzt die Stiefschwester höchstpersönlich. Neidet ihr mit jedem Blick die Schönheit und mich, ihren Prinzen. Wie sie mich manchmal anfunkelt… Feuer speit sie wie ein Drache! Anbrüllen möchte ich sie, das Schwert gegen sie erheben, sie an den Haaren packen und von der Kasse wegschleifen. Diese glatten, graublonden, langweiligen Haare. Ihr Gesicht sieht aus wie ein schlapper Pfannkuchen, die Augen hängen schräg im Gesicht, zu eng bei der Nase. Aber was kümmert es mich. Es mag sie hier sowieso keiner, alle Kunden stehen an Melissas Kasse Schlange.


Melissa erhob sich von ihrem Drehstuhl und schaute in den Einkaufswagen. „Wollten Sie den Korkenzieher auch kaufen?“
Manchmal kam es vor, dass die Kunden etwas im Wagen liegen ließen und man durfte nicht einmal daran denken, dass sie es vielleicht mit Absicht getan hatten. Wer so dachte wurde schnell voreingenommen und behandelte unschuldige Kunden falsch. Sachlich bleiben war alles, was half.
Melissa ließ sich ihre Arbeit als Kassiererin von niemandem vermiesen. Sie hörte nicht auf die Lästereien ihrer Kolleginnen, sie ignorierte die Ruppigkeit der Kassenleiterin, die neue Münzrollen brachte. Sie ließ sich nicht von stinkenden Alkoholikern einschüchtern, die ihr Heiratsanträge in den Ausschnitt säuselten, sie war auch nicht von dem einen oder anderen attraktiven Männergesicht zu beeindrucken. Melissa behandelte jeden Kunden gleich. Sie hielt nicht lange an den schönen Momenten fest, vergaß die unschönen schon im nächsten Augenblick. Nur so konnte sie unbeschwert die viereinhalb Stunden im Supermarkt überstehen.
Zum Glück für Melissa war auch ihre Freundin Emma als Kassiererin eingestellt worden und oft passierte es, dass die Leiterin sie an zwei gegenüberliegende Kassen setzte. So konnten sie sich aufmunternde Blicke zuwerfen oder um Hilfe bitten, wenn ein Artikel nicht ausgepreist war. Emma war Melissas beste Freundin.
Außenstehende hätten es wahrscheinlich nicht für möglich gehalten, dass die beiden sich so nahe waren. Oft wurden sie mit Tag und Nacht verglichen, denn Emma hatte nichts von der zarten Schönheit ihrer Freundin. Melissa hingegen konnte nur den Kopf über die Naivität der Leute schütteln, die das Äußere für ausschlaggebend hielten. Warum musste man sich von einem weniger schönen Menschen abgestoßen fühlen?
Bei ihrer Arbeit trat sie für kurze Zeit in engen Kontakt mit den Kunden und erlebte, wie originell gerade die Menschen waren, die dem Betrachter als ordinär erschienen. Jedenfalls zog Melissa die verlotterte Frau, die jeden Tag nur eine Banane kaufte, dafür aber den Bon verlangte und auch ihren Abschiedsgruss erwiderte, jener gut gekleideten Dame vor, aus deren Blick nur Verdruss sprach und die Melissa keinen schönen Tag wünschte.

Heute ist es soweit. Die ganze Nacht über habe ich Bücher gewälzt, jetzt habe ich das passende Rezept gefunden. Ich werde Melissa zum Abendessen einladen! Einen Trank will ich für sie zaubern, nach dem sie sich alle zehn Finger ablecken wird… ein Liebesschmaus soll es werden, wie er im Buche steht.
Die Einladung trage ich bei mir, sie ist in goldener Tinte verfasst. O, ich bete, sie möge mich erhören. Aber nickt sie mir nicht immer freundlich zu, wenn ich sie anstrahle? Ihre Stimme verurteilt mich auch nicht, wenn ich eine Münze fallen lasse, weil ich meinen Blick nicht von ihr wenden kann…


Melissa legte das Briefchen neben ihren Kassenschieber, ignorierte es aber, um den jungen Mann nicht verlegen zu machen, der es ihr mit zitternden Fingern überreicht hatte. Insgeheim musste sie schmunzeln. Sie beobachtete ihn oft dabei, wie er sich nach Emma umwandte und ihr heimliche Blicke zuwarf. Wenn er sich anschließend wieder auf seinen Einkauf zu konzentrieren versuchte, war er immer besonders aufgeregt und tollpatschig…
Im selben Moment erschien David, Melissas Ehemann. Er holte sie jeden Abend von der Arbeit ab und stand stets so lange bei den Kassen bis sie abgelöst wurde. Heute hatte sie später Schluss als gewöhnlich und David hatte versprochen das Abendessen vorzukochen. Er war einfach wundervoll!
Melissa packte ihre Sachen zusammen und verließ Kasse 3, nicht ohne das Briefchen einzustecken. Als sie an Emma vorbeiging, reichte sie ihr das winzige Kuvert.
„Von dem jungen Mann, der sich manchmal so verstohlen nach dir umdreht. Ich bin sicher, er hat sich nicht getraut, es dir selbst zu geben. Vielleicht erwartet dich ein aufregendes Rendezvous?“ Beide lachten.
„Vielleicht ist er der Froschkönig, den ich erlösen soll? Tschüss, Melissa, schönen Feierabend!“

…

Die Türklingel. Das ist sie, Melissa, Märchenprinzessin! Ich höre ihre Schritte. Drei Treppenabsätze sind es bis zur Wohnung, da bleibt mir Zeit, mich in den Nebenraum zu schleichen. Meine Nachricht ist fest an die Tür geheftet, das habe ich jetzt schon hundertmal geprüft. Ich glaube, es ist deutlich: Sie soll sich schon alleine an die Tafel setzen… während sie auf mich wartet, wird sie bestimmt von dem Trank kosten. Er duftet so betörend, sie wird nicht anders können. Da, sie ist fast oben, ich muss mich verstecken.

Emma holte tief Luft. Hier musste es sein. Goldene Lettern wie in der Einladung schimmerten ihr von einem Blatt Papier entgegen, das an der Wohnungstür befestigt war.
Als Melissa erzählte, um welchen jungen Mann es sich handelte, schlug Emmas Herz schneller. Vor zwei Wochen hatte sein Blick sie zum ersten Mal getroffen, wild flackerte es in seinen Augen und auf den ersten Blick verliebte sie sich in ihn.
Emma trat ein.
Wie im Märchen, dachte sie und blickte träumerisch in den von hundert Kerzen erleuchteten Raum. Auf dem Tisch konnte sie unzählige Töpfe und Schüsseln erkennen, dazu zwei elegante Gedecke. Aufgeregt setzte sich Emma und wartete.

Sie ist da, ich kann ihren Atem hören. Melissa, schöne Prinzessin! Sobald du von dem Liebestrank probiert hast, werde ich mich offenbaren. Der Zauber ist so stark, dass du sekundenschnell entflammst und nur noch mich allein begehrst. Niemand kann unser Glück dann trüben, nicht Stiefmutter und nicht garstige Stiefschwester.

Mit einem Seufzer stellte Emma den Kelch ab. Der Duft des glitzernden Getränks war so bezaubernd, sie konnte nicht länger an sich halten. Beinahe ganz ausgetrunken hatte sie! Der Wein schmeckte aber auch wie der Himmel auf Erden.

Jetzt ist es Zeit. Der Liebeszauber fließt durch ihren Körper, ich kann mich ohne Bedenken von ihr sehen lassen… Die vielen Kerzen werfen tausend Schatten, fast kann ich ihr Gesicht nicht klar erkennen. Doch da, sie erhebt sich und kommt auf mich zu, Melissa…
Wie? Das ist ja gar nicht sie! Was sucht denn diese Kröte hier? O weh! Mein kluger Plan ist fehlgeschlagen! Wer kann mir jetzt noch helfen?


Sein von Entsetzen verzerrtes Gesicht erschreckte Emma nicht im Mindesten. Wie schön er war! Rein und vollkommen. Nur eines wollte sie jetzt tun. Sie trat an ihn heran und küsste ihren Prinzen, der es, zur Salzsäule erstarrt, geschehen ließ.
Emmas Mund, der für wenige Sekunden selbst dem Liebestrank ein Kelch gewesen war, strahlte dessen Kraft noch immer aus. Mit jedem Quäntchen Begehren, das sie dem jungen Mann durch ihren Kuss einflösste, trank er gleichwie von jenem Zauber. Zusehends milderte sich sein Blick.

Wie wird mir? Ich fühle mich so leicht und frei, wie neu geboren komme ich mir vor. Zum ersten Mal sehe ich diesen Raum und diese Frau, die schöner ist als alles, was ich mir erträumen könnte. Dort drüben steht ein Tisch für uns gedeckt. Was stehen wir noch hier? Wir sollten etwas essen!

„Komm, mein Prinz, wir warten schon zu lange. Die Speisen werden kalt!“, und Emma fasste seine Hand und zog den jungen Mann mit sich.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann essen sie noch heute.

Letzte Aktualisierung: 21.03.2007 - 13.18 Uhr
Dieser Text enthält 9577 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.