Mainhattan Moments
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März 2007
Das Fest ausklingen lassen
von Chris Bendig

Wir saßen beim Dessert, und zum ersten Mal an diesem Tag ließ die Spannung nach. Alles nach Plan: die Zucchini-Suppe und der Rehbraten samt Beilagen gelungen, auch die Tofuwürfel für die Fleischverweigerer. Warum ich als gute Gastgeberin bei jedem Familienfest so angespannt war, konnte ich nicht verstehen.

Bis zuletzt waren wir nicht sicher, dass mein Vater seinen Fünfundachtzigjährigen noch erleben würde. Der leichte Schlaganfall hatte ihm zugesetzt; die angedeutete Lähmung an der Unterlippe gab ihm paradoxerweise ein stets wohlgelauntes Aussehen. Er hatte uns in ein Restaurant einladen wollen, aber ich hatte mich durchgesetzt mit der privaten Feier. Bestimmt genoss er die Vertrautheit des majestätischen Esstisches und der schweren, dunklen Stühle mit ihren hohen Lehnen, die wir nach dem Tod meiner Mutter übernommen hatten.

Gerade reichte mein Vater Irene das Schälchen, um sich noch etwas eisgekühlte Himbeeren mit Sauerrahm und Baiserstaub auffüllen zu lassen. Er tätschelte kurz ihre Hand, und ich zog die Nase kraus. Meine Schwester Irene hatte wie üblich den Nachtisch gemacht, und sie hatte die Früchte wieder mit Schnaps getränkt, trotz meiner Warnung. Na gut, sie hatte noch eine Schüssel ohne Alkohol mitgebracht, aber selbst meine Kinder aßen nicht davon.

Während mir die Beeren auf der Zunge zergingen, blickte ich von einem zum anderen. Max, mein Goldstück, wirkte mit seinen blonden Haaren und der Figur eines Leichtathleten wie eine neue Ausgabe von Prinz William im Teenager-Alter. Die Größe hatte er von seinem Vater, die Sportlichkeit von mir.

Daneben Sarah. Nicht wirklich ein Sorgenkind, aber in einer kritischen Phase. Seit ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie sich verunstaltet, bunte Haare, überall diese Metalldinger in der Haut, und jetzt auch noch eine Tätowierung. Natürlich machte ich mir Sorgen. Ich hatte gelesen, dass die Löcher später wieder zuwachsen können, wenigstens das!

Auf der anderen Seite des Tisches legte mein Vater die gestärkte Serviette zusammen und verließ das Zimmer. Sein Griff um den Knauf des Kirschbaum-Stockes war jetzt weniger kraftvoll, die Schritte zögerlicher, aber er hielt sich noch stolz und gerade wie früher. Immer noch der alte Patriarch, der die Familie zusammenhielt. Ich konnte mir nicht vorstellen, was nach seinem Tod werden würde. Hätten wir dann noch Familienfeste? Zweifelnd blickte ich Irene an. Hätten wir überhaupt noch Kontakt?

Sie war so ganz anders, in ihrem Geschmack, den Freunden, den Beschäftigungen. Und sie nahm immer alles so persönlich! Ach, was hatte sie mir die Bemerkung übelgenommen, dass Frauen über Vierzig keine langen Haare mehr tragen sollten? Es war zwar meine Meinung, aber ich hatte das doch nur als Scherz gesagt. Aber sie hielt mir einen Vortrag über Selbstverwirklichung und Autonomie, und plötzlich wusste ich, wer Sarah die Flausen in den Kopf gesetzt hatte, so oft wie die zusammengluckten.

Als mein Vater von der Toilette zurückkam und ankündigte, dass er heim wollte, weil ihm alles ein wenig zuviel sei, wechselte ich Blicke mit Günter, meinem Mann. Natürlich, er würde ihn fahren, während wir das Fest ausklingen lassen und den Tisch abräumen konnten. Ich sprang auf und begleitete die beiden zur Garderobe, half meinem Vater in den Mantel. Er tätschelte mir die Wange und für einen Moment erwartete ich ein: „Hast du gut gemacht, Angelika. Danke für deine Mühe.“ Nur kurz, dann zogen sich seine Gesichtsmuskeln wieder zusammen, und er fragte: „Kommst du morgen zum Einkaufen, oder ist Irene dran?“
„Ich, Vater. Wie ausgemacht, drei Uhr.“

Im Wohnzimmer roch es nach Kaffee. Sarah stellte Keramikbecher und Milch in die Durchreiche und fragte mich: „Mama, willst du auch einen?“
„Wir haben doch die Porzellantassen, passend zum Service.“
„Ach, das ist doch doppelt zum Spülen! Mit Bechern brauchen wir keine Untertassen. Komm, mach es dir gemütlich!“
„Du musst immer deinen Willen durchsetzen!“, raunte ich sie an. „Kann es nicht einmal schön und harmonisch sein, kann nicht einmal alles zueinander passen?“ Ich war etwas erstaunt über die Heftigkeit in meiner Stimme, doch sie zuckte zusammen und lenkte ein:
„Na gut, wenn es dir so wichtig ist!“ Missmutig räumte sie die Becher weg.

Wenig später hallte aus dem Küchenschrank ihre Stimme: „Mama, wo sind denn die Tassen?“
„Junge Dame, lebst du hier schon länger?“, entgegnete ich schnippisch. „Im Wohnzimmer natürlich, wo das ganze Service ist.“ Ich fühlte mich unwohl, und irgendwie schien alles zu kippen. Mein Gott, das schöne Fest! Tief atmete ich durch, doch die Angst blieb hartnäckig. Lauernd legte sie sich um mein Herz. Ich musste die Krise abfangen.
„Sarah ...“, stammelte ich und versuchte, ihr die Hand auf die Schulter zu legen, als sie an mir vorbeikam, doch sie wich mit einer Drehung aus.
„... füll die Milch in ein Kännchen, murmelte ich leise.
„Mach ich!“ Irene und Matthias hatten den Tisch abgeräumt, und meine Schwester verschwand in der Küche.

Etwas später nippten wir schweigend an unseren Tassen. Nur Matthias hatte sich ein braunes Getränk eingeschenkt und drückte Knöpfe auf seinem Gameboy.
„Hast du Cola mitgebracht?“, fragte ich meine Schwester. Sie wusste doch, dass ich gegen gesüßte Limonaden war. Kopfschütteln.
„Und was ist das?“, fragte ich meinen Sohn.
„Malzbier, Mama. Keine Sorge!“

Ich ärgerte mich. Seit jeher gab es bei uns Mineralwasser und zuckerfreie Fruchtsäfte. Dazu Wein aus dem Ökoladen und alkoholfreies Bier für Günter. Etwas anderes kam uns nicht ins Haus. Das war früher wenigstens eine Übereinstimmung gewesen zwischen meiner Schwester und mir: gesunde Nahrung. Bis sie sich der fleischlosen Ernährung verschrieben und meine Tochter gleich mitangesteckt hatte. Pah, dafür schob sie sich dann und wann eine Fertigpizza in den Ofen. Ich stellte die Tasse beiseite und goss mir noch Wein in mein Glas.

„Ja, das ist einfach verdammt wenig Geld!“, riss mich Sarahs Stimme aus meinen Gedanken. Ging es um Taschengeld?
„Es geht auch nicht mehr darum, dass die Leute in Würde leben“, entgegnete Irene. „Sie sollen alles tun, um da wieder runter zu kommen.“
Ach, das leidige Thema! Wie oft hatten die beiden schon über Hartz IV diskutiert?
„Aber ohne Stellen? Wie soll denn das gehen?“, ereiferte sich Sarah zum –zigsten Male; ihre Stimme wurde schrill.
„Vielleicht sollten die Leute einfach besser mit ihrem Geld umgehen“, gab ich zu bedenken. „Wenn ich manchmal sehe, was die sich in den Einkaufswagen tun ...“
„Wie kannst du so was sagen, Mama?“, empörte sich Sarah.
„Vielleicht sind sie einfach nur dumm“, redete ich stur weiter. „Sie brauchen nicht mehr Geld, sondern Ernährungslehre und Kochkurse, dann kaufen sie auch nicht diesen raffinierten Schrott. Dann können sie sich was Gesundes kochen; Zeit genug haben sie ja als Arbeitslose.“ Irene und Sarah sahen mich mit offenen Mündern an.

„Das kannst du nicht so meinen, Angie!“ Irene schüttelte den Kopf. „Das klingt nur verächtlich!“
„Was denn? Willst du es wieder persönlich nehmen?“
„Es ist persönlich. Ich bin jetzt eine von ihnen. Arbeitslosengeld ist ausgelaufen.“
„Und du kommst nicht mit dem Geld aus?“ Ich verdrehte die Augen. „Warum hast du dann den Ein-Euro-Job nicht angenommen, den dir meine Freundin vermitteln wollte?“
„Weil das ein Scheiß-Job war! Die Fahrtkosten hätte ich selbst bezahlen müssen, und die vierzig Stunden hätten meine Ehrenämter verhindert. Warum können sie nicht meine Beratungen als Arbeitsgelegenheit einrichten? Bedarf ist doch genug.“
„Damit du die anderen aufhetzt?“ Ich schniefte.

„Mama“, fing jetzt Sarah in einem weinerlichen Ton an, „so will ich dich nicht sehen. Das kannst du doch nicht wirklich so meinen!“
„Wir haben damals, als Papa im Krankenhaus war, auch wenig Geld gehabt, und wir haben nicht schlecht gelebt“, setzte ich an.
„Ach, das wieder!“, stöhnte Irene , aber ich ließ mich nicht beirren.
„Wir hatten kein Geld für ein Auto – gut, dann sind wir halt zu Fuß gegangen. Wir hatten kein Geld für den Fernseher – gut, dann haben wir gespielt. Es gab immer genug zu essen, genug zum Basteln, und es war die schönste Zeit in meinem Leben!“
„Ohne Günther?“, höhnte Irene. „Und überhaupt: Mutter hat dir immer was an Lebensmitteln zugesteckt ...“
„Das ist nicht wahr!“, sagte ich laut.
„Die schönste Zeit?“, kam der Angriff von Sarah. „Du hast gemeckert und geschrieen, und immer hast du zu allem NEIN gesagt. Und auf Papa hast du geschimpft, dass er dich so im Stich lässt!“
„Das ist nicht wahr!“ Ich schrie fast.
„Ich erinnere mich auch noch an die Zeit.“ Wir alle starrten Max an, der mich taxierte. Fiel er mir auch in den Rücken?
„Da habe ich im Kindergarten meine Brote gegen Milchschnitten eingetauscht.“

In dem Moment hörten wir, wie Günter das Zimmer betrat.
„Was ist denn hier los?“, fragte er irritiert. Betretene Gesichter rundum. „Kann man euch nicht mal kurz allein lassen?“
Tränen kullerten mir aus den Augen. Ich dachte an all die Arbeit, die ich in die Vorbereitungen gesteckt hatte: Aufräumen, Putzen, Kochen ...
„Ich hab’ mir so gewünscht, dass es ein schöner Tag wird“, heulte ich.
„Wir haben uns auch alle Mühe gegeben“, weinte jetzt auch Sarah. „Nicht wahr, Irene?“ Sie nickte.
„Vielleicht sollten wir es beim nächsten Mal ein bisschen weniger versuchen!“, schlug Günther vor. „Angefangen damit, dass wir in ein Restaurant gehen.“
„Ja“, stimmte Irene zu, „Dann hast du nicht soviel Arbeit, Angie, und wir können uns ein Essen aussuchen. Ein Luxus, den ich nur noch selten habe.“
„Aber es ging doch um Vater. Hier, mit den Möbeln ...“, setzte ich wieder an.
„Er hasst die Möbel, Angie!“, fiel sie mir ins Wort. „Er mochte sie schon nicht, als Mutter sie ausgesucht hat, aber seit ihrem Tod ... Und Günter kann die Möbel auch nicht ab.“
Ungläubig starrte ich meinen Mann an, doch der nickte stumm.

Es wurde doch noch ein schöner Ausklang. Irene hatte ein Gesellschaftsspiel mitgebracht, zu dem sogar Max Lust hatte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte ich Spaß bei einem Familienfest und die Ahnung, wie es mal weitergehen könnte mit unserer Familie. In Zukunft.

Letzte Aktualisierung: 13.03.2007 - 09.03 Uhr
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