Charlotte schloss die Hand fester um ihren Schlüssel. Sie bemühte sich, keine Seitenblicke in alle Richtungen zu werfen, sondern starr auf ihr Ziel zu schauen. Abermals lief ein Kribbeln wie die Berührung einer Geisterhand ihren Rücken hinunter. Sie zog die Schultern hoch.
Zum Glück war sie nur noch wenige Meter von ihrer Haustür entfernt. Das Gefühl, verfolgt zu werden, hatte auf dem Nachhauseweg beständig zugenommen. Inzwischen konnte sie es kaum mehr ertragen.
Hastig schloss sie die Haustür auf und trat ins dunkle Treppenhaus. Doch die aufgeregte Spannung in ihrem Bauch nahm nicht ab, im Gegenteil. Sie hatte Hunger und fühlte sich verletzlich und geschwächt. Als sie das Licht anschaltete, befürchtete sie fast, jemanden hinter sich zu sehen, aber dort war niemand. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihr, dass es schon nach Mitternacht war. Die anderen Mieter schliefen bereits.
Zwei Stufen auf einmal nehmend hastete Charlotte die Treppe hinauf. Sie verfluchte die Überstunden, die ihr Chef ihr aufbrummte, und verfluchte ihren Hunger. Mit zitternden Fingern öffnete sie die Wohnungstür.
Ihre Hand erstarrte wenige Zentimeter vor dem Lichtschalter. Sie wollte sich umdrehen, schreien, wegrennen, doch im nächsten Moment zerrte sie jemand in die Wohnung. Die Tür schlug krachend hinter ihr zu.
Die Dunkelheit im Flur ließ sie ihren Angreifer nur als Schemen sehen.
Eine heisere Stimme flüsterte an ihrem Ohr: „Darf ich dich zum Essen einladen?“
Die Worte durchfuhren sie wie Eis. Verwirrung mischte sich in ihre Angst. „Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“
„Wie ich bereits sagte: Ich will Sie zum Essen einladen.“
Endlich schaffte sie es, den Lichtschalter zu drücken. Der Einbrecher riss den Arm vor das Gesicht und wich geblendet zurück.
Die Starre löste sich langsam von Charlotte. Sie griff nach der Türklinke. Doch bevor sie fliehen konnte, sprang der Mann auf sie zu und packte ihre Oberarme. „Wenn du schreist …“ Seine Drohung blieb offen.
Voller Schrecken starrte Charlotte in die blutroten Augen des Mannes. Wildes schwarze Haare umrahmten sein blasses Gesicht. Er musste nicht einmal die spitzen Eckzähne entblößen, damit sie es wusste: Ein Vampir.
Er beugte sich vor und schnupperte an ihrem Hals. „Besonders schmackhaft riechst du nicht“, murmelte er. „Welcher Jahrgang?“
„Äh, ’77“, stammelte sie. Ihr Kopf fühlte sich leer an. Sie zitterte am ganzen Leib, ihre Hände pressten sich an die Tür. „Das … das liegt nur daran, dass ich noch nichts gegessen habe. Mit den wenigen Nährstoffen im Blut …“
Der Mann zog den Kopf zurück und betrachtete sie skeptisch. „Was du nicht sagst.“ Er schaute sie aus den Augenwinkeln prüfend an. „Und wenn du isst, wird das anders?“
Charlotte zuckte mit den Schultern. „Ich – ich denke, ja.“
Ihre Unterlippe zitterte. Sie musste ihn auf jeden Fall dazu bringen, sie essen zu lassen. Es war ihre einzige Rettung.
Aber auch er schien das zu ahnen. „Du planst doch irgendetwas. Ich mag zwar ein Vampir sein, aber ich habe genug schlechte Hollywood-Filme gesehen. Du wirst hinter meinem Rücken Hilfe holen oder aus dem Fenster klettern.“
Charlotte wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie holte tief Luft. „Na gut. Dann bringen wir es hinter uns.“
Der Mann hob einen Finger. „Einen Moment. Das Angebot klingt ganz verlockend, ich hatte schon lange nichts halbwegs Schmackhaftes mehr.“
Seine roten Augen glühten auf.
„Ich habe eine Idee.“
Endlich ließ er sie los. Ihre Beine zitterten noch immer, allerdings nicht mehr so stark. Sie musterte den Vampir langsam. Seine Kleidung wirkte etwas altmodisch auf sie, aber nicht wie aus dem neunzehnten Jahrhundert. Vielmehr trug er eine Tweedjacke und Cordhosen. Damit erinnerte er sie trotz seines jugendlichen Aussehens an ihren Großvater.
Sie versuchte, ihre Erleichterung zu verbergen. Er durfte nichts ahnen, sonst ging ihr Plan nicht auf. Zum Glück hatte er es nicht gerochen.
Er packte sie am Handgelenk und zog sie hinter sich her in die Küche. Sie stolperte fast über den Teppich im Flur, aber fing sich dann wieder.
„Wie sind Sie herein gekommen?“, fragte sie, hauptsächlich, um mit dem Gespräch die Nervosität zu vertreiben. Sie fühlte, wie ihr das Blut vor Aufregung in die Wangen schoss, und hoffte, dass ihn das nicht dazu veranlasste, sein Abendmahl gleich zu sich zu nehmen.
„Ich bin vor dir durch die Tür gehuscht“, erklärte er mit einer kreisenden Handbewegung. Doch dann fletschte er die Zähne. Die dolchartigen Hauer trieben Charlotte das Blut wieder aus dem Gesicht. „Weglaufen nützt dir also nichts, ich bin schneller, als du auch nur sehen kannst.“
Innerlich fluchte Charlotte. Der Hunger musste ihre Sinne schon stark beeinträchtigt haben.
In der Küche angekommen, zog der Vampir ein Seil aus der Tasche. Auf ihren Blick hin sagte er: „Auch als Vampir muss man stets gut ausgerüstet sein. Wer weiß, was der Abend mit sich bringt.“
Grob drückte er ihr die Hände auf den Rücken und schlang es ihr um die Gelenke. Dann zwang er sie auf den Küchenstuhl, fesselte sie an die Lehne und die Beine einzeln an den Stuhl.
„Und wie soll ich so essen?“, protestierte sie, doch er grinste nur. „Keine Sorge. Ich halte mein Versprechen.“
Mit schnellen Schritten ging er zum Kühlschrank, nahm das für den Abend vorbereitete Steak heraus und roch kurz daran. „Ganz frisch ist das nicht mehr“, murmelte er, „aber gut, das hilft mir, meinen Appetit zu zügeln, während du deinen stillst.“
Er nahm eine Pfanne aus dem Abwasch, spülte sie schnell und stellte sie auf den Elektroherd.
Von dort aus konnte er Charlotte aus den Augenwinkeln beobachten, das wusste sie, und sie erwiderte jeden Blick, den er ihr zuwarf.
Sie presste die Lippen zusammen, als er in ihren Schränken herumwühlte. Schließlich hatte er gefunden, was er suchte: Öl, Zwiebeln, Knoblauch und eine Zitrone. Er schnitt die Zwiebel behände klein, ohne auch nur eine Träne zu vergießen – „Vampire können nicht weinen, was in solchen Momenten ein echter Vorteil ist“, erklärte er -, legte sie zusammen mit dem Knoblauch in das heiße Öl und drückte den Zitronensaft hinein.
„Weißt du“, sagte er im Plauderton, während er mit einem Löffel die Zwiebeln wendete, „in meinem früheren Leben war ich Koch. Daher kommt auch noch heute meine Vorliebe für gut gewürztes Essen.“
Er gab etwas Salz zu der Mischung und rührte kurz darin herum. „Deswegen bin ich auch gegen Knoblauch immun.“ Er warf ihr einen verächtlichen Seitenblick zu. „Falls du es damit versuchen wolltest.“
Charlotte schüttelte stumm den Kopf. Der Geruch von gebratenen Zwiebeln mit Zitrone breitete sich langsam in der Küche aus und ließ ihren Magen nur noch heftiger knurren. Doch der Hunger wurde erst bohrend, als er das Fleisch in die Pfanne legte. Es zischte, und sofort erfüllte der köstliche Duft den Raum. Charlotte lenkte sich kurz über Lippen und hoffte, dass der Mann es nicht gesehen hatte.
„Möchtest du noch eine Beilage? Das Rezept ist recht einfach, aber mit ein paar Kartoffeln…“
„Danke, nicht nötig“, erwiderte Charlotte heiser. Ihre Augen richteten sich auf das Fleisch, das langsam vor sich hinbrutzelte, und ließen nicht mehr von ihm ab. Sie atmete tief durch, um den Hunger zu unterdrücken.
Während sie wartete, deckte der Vampir den Tisch. Er legte Teller und Besteck vor ihr ab, und fand schließlich sogar einen Rotwein, den er ihr kredenzte. „Ein guter Jahrgang. Ich denke, du hast nichts dagegen, ihn jetzt zu trinken. Es wird bald nichts mehr geben, wofür du ihn aufheben könntest“, sagte der Mann mit einem Grinsen.
Charlotte musste ein Lächeln unterdrücken. Sei dir da mal nicht so sicher, dachte sie.
Als das Fleisch endlich vor ihr auf dem Teller lag, knurrte sie fast vor Wonne.
„Tut mir Leid, aber ich werde dich füttern. Ich will kein Risiko eingehen.“
„Nicht nötig.“ Charlotte beugte sich vor. Ihre braunen Haare fielen auf den Teller, aber es störte sie nicht. Mit den Zähnen packte sie das Fleisch und schlang es mit zwei Bissen herunter.
„Holla, du bist aber …“
Weiter kam der Vampir nicht. Ein leises Wimmern drang aus seinem Mund, als er sah, was mit Charlotte passierte.
Ihre Knochen krachten, als sich ihre Brust nach außen wölbte und ihr Gesicht länger wurde. Ihre Muskeln schwollen auf dreifache Größe an. Die dicken Stränge zogen sich unter einer dicht beharrten Haut entlang, die sich über den wachsenden Körper spannte. Die Fesseln um ihre Handgelenke zerrissen, der Stuhl zerbrach unter ihrer neuen Gestalt. Ihre Kleider hingen in Fetzen an ihr herunter, doch es störte sie nicht. Ein dichtes Fell bedeckte ihren ganzen Körper.
Sie stöhnte leise auf. „Danke. Das Steak war genau das, was ich brauchte, um mich ein bisschen kräftiger zu fühlen.“
„Ein … ein Werwolf!“ Der Vampir wich langsam zurück, die Hände abwehrend ausgestreckt.
Charlottes dunkle Augen funkelten den Vampir an. Sie leckte sie langsam über die Zähne. Die Lefzen zurückgezogen knurrte sie: „Darf ich dich zum Essen einladen?“
Letzte Aktualisierung: 21.03.2007 - 22.22 Uhr Dieser Text enthält 9115 Zeichen.