Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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April 2007
Kaul alias Klemens
von Katharina Joanowitsch


„Ej Digga, auch hier?“
Der Schreck durchflammt ihn kurz und heftig, Kaul geht unwillkürlich in die Knie.
„Na logo, Digga, kein Markt ohne mir un’ meine Mütterchn’.“
Kaul atmet erleichtert aus. Die Frage gilt also nicht ihm. Mann! Der Schreck sitzt zitternd in ihm wie ein verängstigtes Tier, strenger Schweißgeruch dringt in seine Nase. Aus der Hocke heraus linst er durch das gekippte Fenster seines Zimmers. Im Hof wuchtet ein Jungbauer Kästen voller Stiefmütterchen aus einem Anhänger, schichtet sie auf eine Karre. Ein zweiter lehnt neben seinem Fenster. Kaul sieht lediglich zwei Cordhosenbeine in Gummistiefeln.
Dieser Slang ist ihm bös vertraut. Wo Kaul her kommt, ist der ganz normal, so hat er auch gesprochen. Gar nicht lange her. Aber inzwischen quatscht jeder zweite Comedy-Fritze in diesem Slang. Also warum nicht auch Jungbauern in diesem Kaff. Hier – so hatte Offermann ihm in die Hand versprochen – sei er absolut sicher. Kaul stemmt sich hoch, wirft einen Kontrollblick in die Runde – Bett, Nachttisch, Stuhl, Waschbecken, Schrank, – und verlässt den Raum, um in der angrenzenden Gaststätte zu frühstücken.

Zuerst hatte Kaul gedacht, er würde hier verrückt werden. Abgeschnitten von Bine, von Panther, von sämtlichen Freunden (und Feinden), von seinem gesamten bisherigen Leben. Aber verdammt – bei ihm klebt nicht nur etwas Dreck am Stecken, nein, das ist glatt eine Riesenfuhre Mist. Stinkender, dampfender, widerwärtiger Mist. Klare Sache, da musste er raus. Und dass er das geschafft hat ist einfach – Kaul gießt sich noch eine Tasse Kaffee ein – einfach unglaublich. Was für ein Glück, dass er an den Offermann geraten ist. Wie der gleich merkte, dass Kaul kein eisenharter Brocken ist, dass für ihn Bine und Panther wichtiger sind als der ganze Kiez. Offermann hatte ihn ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen, sich persönlich für ihn verbürgt. Alle Achtung, Herr Kommissar! Und dann hat er ihn in dieses öde Kaff gebracht. Alles, was ihm hier zu tun bleibt, ist warten. Warten und nachdenken. Warten, bis endlich der Prozesstermin fest steht. Kaul bestellt einen weiteren Pott Kaffee und durchforstet die Nordseezeitung, die einzige Zeitung, die er um diese Zeit hier bekommt. Über die Pantzner-Morde wird im Regionalblatt kaum noch berichtet. Heute nicht eine Zeile.

Hier in M. heißt Kaul Paul Klemens. Sollte jemand nach seinem Beruf fragen, würde er Kriminalschriftsteller antworten. Ist nicht mit Offermann abgesprochen, Kaul stellt es sich nur so vor. Obwohl das auch nicht erklären würde, wieso er hier tatenlos herumhängt. Aber noch hat niemand gefragt. Inzwischen – genau drei Wochen sind heute um – ist seine Sonnenbankbräune verblasst. Seine Haare – vorher in gegeelten Wellen bis auf die Schultern fallend – hatte er noch in Hamburg kürzen lassen. Hier in ‚Inges Frisörstübchen’ lässt er sich aus purer Langeweile die Haare wöchentlich auf Fasson trimmen. Sein Markenzeichen, der zierliche Oberlippenbart, ist längst der täglichen Rasur zum Opfer gefallen. Auf dem Kiez war Kaul für seine spleenigen Klamotten bekannt, diese aufwändig bestickten, grellfarbigen Blousons; diese Silber beschlagenen Gürtel; diese extrem spitzen, zweifarbigen Westernstiefel, in deren rechtem Schaft das berüchtigte Klappmesser steckte. Klar, dass er diese Liebhaberstücke zurücklassen musste. Kommt er in M. an einem Fenster vorbei, kann er die Gestalt, die sich dort spiegelt, noch immer nicht mit sich in Deckung bringen. Die kräftige Figur dort mit den lächerlich farb- und einfallslosen Klamotten soll er sein? Das wird eine echte Prüfung werden für Lisa, wenn sie sich wiedersehen.

Nach dem Frühstück hat Kaul sich angewöhnt zur Poststelle – eigentlich eine Gaststätte – am nördlichen Ortsausgang gegenüber dem Bahnhof zu schlendern. Einmal erst war ein Brief für ihn dabei. Bine schrieb darin von der bedrohlichen Unruhe, die sein Verschwinden auf dem Kiez ausgelöst hätte. Sie selbst sei das tägliche Stehen und Kobern leid. Einen verlässlichen und großzügigen Stammkunden hätte sie jetzt und dadurch Geld genug. Nun suche sie eine Wohnung „für uns drei“ irgendwo im Grünen, damit Panther mal richtig Auslauf habe.

„Bitte sehr, Herr Klemens.“ Erna Tiedemann, Kneipenwirtin und Postbotin in einer Person, schiebt Kaul einen Brief über die Theke und widmet sich wieder ihrem Zapfhahn. Würzig steigt Kaul der Hefeduft in die Nase. Er bestellt ein Bier und verzieht sich mit seinem Briefschatz an einen leeren Fenstertisch. Heute am Markttag ist M. sehr belebt, der neueste Dorfklatsch kursiert laut in der Kneipe.
„Mein Allerliebster, Du,“ Kaul nimmt einen tiefen Schluck und liest weiter. Bine will kommen! Am Freitag so gegen vier Uhr. Am Freitag? Er liest noch einmal, schaut auf den Stempel, dann auf den Abreißkalender unter der Tresenuhr. Verdammt, das ist doch – heute! Volle vier Tage hat der Brief gebraucht. Verärgert und ungeduldig kippt Kaul den Bierrest und verlässt die lärmige Gaststätte.
Komm, reg dich ab, beruhigt er sich. Noch ist Vormittag und bis zu Bines Eintreffen viel Zeit. Was kann er schon machen? Nichts. Obwohl – vielleicht könnte er auf dem Markt ein paar Blumen holen, vielleicht ein paar Kerzen kaufen? Bloß nicht, Bine erkennt ihn ja so schon nicht wieder. Wenn er nun auch noch mit solchem romantischen Schnickschnack anfängt, hält Bine ihn für total umgedreht.
Kaul setzt seinen gewohnten Rundgang fort. Die Straße wirkt bleiern durch das eintönige Himmelsgrau. Erst zum Bahnhof gegenüber, quer über die Bahnsteige gucken, Plakate an der Litfasssäule lesen. Dann vorbei an drei Backsteinhäusern mit glotzäugigen Fenstern, die getigerte Katze vor der mittleren Gardine guckt wieder mal stoisch durch ihn hindurch. Daneben ‚Inges Frisörstübchen’, alle drei Stühle sind belegt. Weiter zum Bäcker, ein Rosinenbrötchen kaufen. Kaul kaut unentschlossen an seiner Unterlippe, dann geht er weiter. Nein, heute nicht. Er muss aufpassen, wird zu träge. Vorher hat er täglich trainiert, das war Pflicht. Seine Mädchen konnten stolz sein auf seine Muckis. Weiter, vorbei an zwei Bauernhäusern, einem städtisch wirkenden Haus mit Stuck, dem Krämerladen mit dem urigen Schaufenster – einem Sammelsurium verstaubter Scheußlichkeiten. Vor der Kirche werden gerade die Marktstände abgebaut. Die Turmuhr schlägt zweimal blechern. Noch zweieinhalb Stunden. Kaul überquert die Straße und läuft auf der anderen Seite bis zum ‚Moorkrug’, in dem er ein Zimmer bewohnt. Er hat keine Ahnung, was Offermann den Wirtsleuten Lührs erzählt hat. Bisher haben die ihn noch nie blöde angequatscht. Genau genommen hört er nie etwas anderes als ‚Moin’, ,Wie geht’s’, ,Alles klar?’, ,Schönes Wetter heute’, ‚Wird schon wieder,’ oder so. Kaul geht durch die große Diele, in der immer der Geruch nach Geräuchertem und Äpfeln hängt, zu seinem Zimmer. Das Mehlweiß der Schleiflackmöbel aus den 70er Jahren, zusammen mit der pockennarbigen Raufasertapete deprimiert ihn zwar, aber dies ist seine einzige Rückzugsmöglichkeit. Kaul läßt sich auf das durchgelegene Bett fallen und gibt sich seinen Gedanken hin.

Dieser ‚verlässliche und großzügige Stammkunde’ von Bine macht Kaul schwer zu schaffen. Ohne sie aber würde er den Ausstieg nicht schaffen. Er muss sich auf sie verlassen, ihr vertrauen. Früher waren da noch Moni, Britta, Inga und Elfi. Alles tolle Mädchen, die für ihn anschafften. Kohle ohne Ende. Er konnte sich einen Jaguar leisten. Gab nie Stress, bis Bine auftauchte. Eines Tages begann sie in seinem Revier auf und ab zu stolzieren. Bine, die Nutte mit Abitur. Bine, die es allein schaffen wollte. Bine, die zu einem hässlichen Zank unter den Mädchen führte. Bine, um die sich die Luden prügelten bis Kaul sie schließlich mit vollem Einsatz seines sonnenbankbraunen Charmes überzeugte, für ihn zu arbeiten. Na gut, gab zwar Kloppe bei Moni, Britta, Inga und Elfi, aber nie ins Gesicht, das war nicht seine Handschrift. Klar konnte er zuschlagen, nicht umsonst trainierte er täglich, aber als Mord gefordert wurde...

Kaul überfliegt erneut Bines Brief. Etwas macht ihn stutzig. Wieso lässt Offermann zu, dass Lisa ihn besuchen kommt? Am helllichten Tag? Er setzt sich abrupt auf, ihm wird kurz schwarz vor Augen. Nur noch eine halbe Stunde! Kaul zieht sich seine Jacke über und verlässt das Zimmer.

Soviel Himmel über so plattem, so trübem Land! Kaul späht von einem Knick aus zur Landstraße. Vom angestrengten Starren tränen ihm die Augen. Schon fast halb fünf und nur wenig Verkehr. Da, Lisas roter Golf mit dem flatternden Fuchsschwanz an der Antenne ist gut zu erkennen. Merkwürdig, sieht aus, als säßen da zwei Typen im Auto. Verflucht, ausgerechnet jetzt schert aus einem Acker ein Trecker ein und verdeckt ihm die Sicht. Bald verschiebt sich die Perspektive aber und er kann einwandfrei in den langsam hinter dem Trecker herschleichenden Golf blicken: Lisa und – Offermann! Hinter Kauls Stirn zerplatzt ein Gefäß voll ätzender Säure. Verfluchte Scheiße, Herr Kommissar! Offermann, linke Hand am Steuer, rechten Arm um seine Lisa! Seine! Lisa! Blindlings stürzt Kaul aus dem Knick, will querfeldein zur Straße laufen. Der Graben ist verborgen von wüstem Gestrüpp. Kaul stolpert über eine Wurzel und kippt, wie gefällt, ins schwarze Wasser. Im unaufhaltsamen Fall sieht er sich den in seiner Reisetasche eingenähten Dolch benutzen, immer wieder, Offermanns geweitete Augen, Lisas süßen, verworfenen Mund...
Wie gefällt Ihnen das, Herr Kommissar? denkt Kaul noch befriedigt, während ihm der kalte Modder schon seine Lebensöffnungen verschließt.

Letzte Aktualisierung: 23.04.2007 - 13.15 Uhr
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