Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Der Raum, in dem Emma stand, war leer und stumm. Genau genommen handelte es sich nicht um einen Raum und wenn doch, dann musste er riesig sein. Um sie herum breitete sich eine weiße Welt aus. Kein Ende, kein Horizont war zu sehen. Und dann, aus dem Nichts, wuchsen Pflanzen aus dem Boden, erst einzelne, dann immer mehr, bis sie sich in einem wahren Dickicht wiederfand. Zwischen den Blättern konnte sie ein paar Flecken blauen Himmels erhaschen. Die Stille wurde von Vogelgezwitscher abgelöst und irgendwo in der Ferne hörte sie einen Wasserfall rauschen. Mit großen Augen bestaunte sie die Wunderwelt. Ein blauer Schmetterling flatterte an ihrem Kopf vorbei. Sie lief ihm hinterher, bis er nicht mehr zu sehen war.
Keine der Pflanzen hatte sie jemals gesehen, einige blühten in den schönsten Farben, andere schlängelten sich an riesigen Bäumen empor. Sie lief in die Richtung, aus der sie den Wasserfall hörte. Vor ihm breitete sich eine kleine Lichtung aus. In der Mitte saß ein junger Mann auf einer Decke, um ihn herum standen die köstlichsten Speisen. Zumindest sahen sie lecker aus, bekannt kam ihr nichts davon vor.
"Da bist du ja endlich!"
Der Mann lief ihr ein Stückchen entgegen, küsste ihre Hand und führte sie zur Decke. Sie saßen sich nun gegenüber und er goss aus einer Karaffe eine dickliche Flüssigkeit in ihre Gläser. Sie stießen an und blickten sich dabei tief in die Augen. Das Getränk schmeckte hervorragend, nicht zu süß und doch sehr fruchtig. Alles war perfekt. Genau so hatte sie es sich gewünscht.
Sie aßen schweigend, dass heißt, sie redeten nicht. Er gab ab und zu Laute von sich, ein Pfeifen oder ein leises Summen, was in ihren Ohren nach Glück und Zufriedenheit klag. Sie fütterten sich gegenseitig mit Früchten oder anderen kleinen Häppchen und schenkten sich ab und zu ein Lächeln.
Inmitten der Speisen stand ein kleines verschlossenes Gefäß. Sie war gespannt, was wohl darin versteckt war, doch als sie ihre Hand danach ausstreckte, hielt er schnell den Deckel fest und sah sie mit funkelnden Augen an. Offensichtlich gehörte das Gefäß nicht zum Festmahl.
Emma war nicht erfreut über diese Wendung, ließ sich aber nichts anmerken und aß weiter. Nach einer Weile siegte die Neugierde und sie fragte ihn, was denn so geheimnisvolles darin sei, wurde aber ignoriert. Stattdessen schenkte er ihr nach, vielleicht um abzulenken.
Bevor sie ihre Frage wiederholen konnte, schwang sich ein kleines Tierchen, einem Affen ähnlich, durch die Baumkronen und stürmte auf die Wiese. Der junge Mann schien sich darüber sehr zu ärgern, er sprang auf und versuchte den Eindringling zu verscheuchen, ohne großen Erfolg. Er warf mit Steinen, die plötzlich auf der Wiese verstreut lagen, traf jedoch nicht. Schließlich rannte er in die Richtung des Äffchens, das sich ein Weilchen jagen lies, bevor es endgültig das Weite suchte.
Emma nutzte die Gelegenheit und hob den Deckel des Gefäßes an. Ein gelblicher Nebel zischte ihr entgegen, verflog aber sogleich wieder. Eine Frucht, größer und schöner als alle anderen, kam zum Vorschein. Sie griff nach ihr und fühlte eine zarte Hülle, leicht samtig und weich. Sie nahm die Frucht heraus und roch daran. Beglückt über den süßlichen Duft konnte sie sich nicht beherrschen und biss hinein.
Er war mit einem einzigen riesigen Sprung wieder bei ihr, schaute sie entsetzt an. Sein Hals begann anzuschwellen, gleich darauf sein Kopf, der sich gleichzeitig rötete. Auch seine Arme wuchsen und die Beine, der ganze Körper verdoppelte seine Größe. Seine Kleidung platzte aus allen Nähten und ein rotes Fell kam zum Vorschein. Er beugte sich zu ihr herunter, aus seinem Mundwinkel tropfte roter Schleim.
Emma stand wie angewurzelt da, unfähig, sich zu bewegen. Er riss ihr die Frucht aus der Hand und grunzte.
'Das kann nichts Gutes bedeuten', dachte sie bei sich und rannte los.
Sie lief am Wasserfall vorbei ins dichte Unterholz, stolperte, fiel hin, rappelte sich wieder auf, rannte weiter. Nach einer Weile drehte sie sich um, er verfolgte sie nicht. Erleichtert setzte sie sich, um wieder zu Atem zu kommen.
Plötzlich stand unerwartet mit noch wütenderem Gesichtsausdruck von vor ihr. Sie sprang auf und lief weiter, spürte nicht die Pflanzen, die immer wieder in ihr Gesicht peitschten, hörte nicht die Tiere, die aus den Gebüschen, durch die sie stürzte, in alle Richtungen davon stoben. Wieder blieb sie stehen. Wieder war es still um sie herum. Trotzdem fühlte sie sich nicht sicher, aus gutem Grund, denn erneut tauchte das Grunzen ganz unvermittelt hinter ihr auf.
Er spielte mit ihr in klar vergebenen Rollen. Er war die Katze und sie die Maus. Bis die Maus am Ende ihrer Kräfte nach Luft ringend stoppte und sich an einem Baum abstütze. Nur langsam beruhigte sich ihr Puls. Sie hörte ein Rascheln hinter sich und war bereit, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Emma drehte sich um.
Das Äffchen von vorhin stand vor ihr und hielt ein Schwert in der Hand. Ein viel zu großes Schwert für das kleine Tierchen, es schien ihr die Waffe hinzuhalten und sie griff zu. Das Schwert lag leicht in der Hand. Es verschmolz förmlich mit ihr. Sie schwang es ein paar Mal in der Luft hin und her und hatte das Gefühl, schon ewig mit einem Schwert zu kämpfen.
Da war es wieder, das Grunzen. Sie drehte sich um und hielt dem Monster ihr Schwert entgegen. Roter Schleim tropfte auf die Spitze.
Der Kampf dauerte keine fünf Minuten. Mit dem Schwert waren ihre Kräfte zurückgekommen, ja auf wundersame Weise verstärkt worden. Gleich einem Samuraikämpfer hielt sie ihn in Schach, wirbelte um ihn herum, erzielte immer wieder Treffer. Er grunzte laut und wehrte sich, doch sie war schneller, egal wohin er sich drehte, wohin er mit der Faust schlagen wollte, sie war schon da und griff an oder wehrte ab. Sie erstach ihn von vorn und konnte sehen, wie das Licht seine Augen verließ. Er löste sich in roten Rauch auf und mit ihm die ganze Welt. Es wurde wieder sehr weiß um sie herum.
Sie nahm ihren Helm ab.
"Wow, dieses Ding ist großartig! Ich muss es unbedingt haben. Wie viel willst du dafür?"
Artur lachte, während er mit der Hand ein kleines Rauchwölkchen vertrieb. "Du weißt, dass er nicht verkäuflich ist. Außerdem muss ich sicher sein, dass er keine Nebenwirkungen verursacht. Und scheinbar ist hier eh grad was durchgebrannt. Aber jetzt erzähl mal, hat es funktioniert?"
"Funktioniert? Es war gigantisch! So real hab ich es noch nie erlebt! Ein Traum ist ein Scheißdreck dagegen. Wie funktioniert er?"
Artur nahm ihr den Helm aus der Hand.
"Interferenzen. Er verstärkt durch bestimmte Schwingungen deine Gedanken und fügt die Bilder hinzu, die wir vorhin eingespeist haben. Erzähl, was hast du erlebt?"
"Erst war ich in einem traumhaft schönen Garten Eden. So wie ich es mir gewünscht habe. Er gut aussehender Kerl war auch da und wir haben zusammen gegessen. Doch dann verwandelte er sich plötzlich in ein riesiges Monster, hat mich verfolgt und wollte mich umbringen. Doch ich habe ihn besiegt, ich ganz alleine."
"Mit einem Schwert?"
"Ja, woher weißt du…?"
"Du hast solche Bewegungen gemacht, dachte schon, du schlägst mir hier die Bude klein."
"Ich habe mich bewegt?"
"Ja, ein wenig."
Emma strahlte ihn an. "Ich fühle mich toll. Darf ich morgen noch mal?"
"Klar, komm einfach vorbei, ich werte inzwischen die Daten aus."
"Danke."
Sie küsste Artur auf die Wange und verschwand aus seinem Labor. Die Menschen, die ihr auf dem Weg nach Hause begegneten, würden später aussagen, dass sie fröhlich wirkte.
Nach zwanzig Minuten Fußweg war sie zu Hause. Sie legte den Schlüssel auf den Schuhschrank, hing ihre Jacke auf, zog die Schuhe aus und ging ins Bad. Sie wusch sich die Hände und das Gesicht. Aus dem Augenwinkel sah sie einen Fleck auf dem Fußboden. Sie bückte sich und erkannte sofort, was es war. Und noch bevor sie sich wieder aufrichten konnte, hörte sie hinter sich das zu dem roten Schleim passende Grunzen.