Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Als Maike die Haustür schloss, blieb sie einen Augenblick unschlüssig stehen. War das wirklich die richtige Entscheidung gewesen? Sie dachte mit Wonne an das Prickeln während des gemeinschaftlichen Gemüse-Schnibbelns und später beim Vertilgen der Speisen, an die Sätze, die sie einander entlockt hatten, verzaubert über Banalitäten. Es war ein gutes Date gewesen!
Während sie den Autoschlüssel herauskramte, spürte sie noch Konnis Whiskey-Lippen auf ihrem Mund, vermischt mit ihrem Sherry, wischte sich noch einmal über die verschmierten Wimpern, ohne das Jucken aus den Augen reiben zu können und atmete gegen den Druck in ihren Bronchien an. Nein, keiner war mehr fahrtüchtig, und eine Übernachtung kam nicht infrage. Sie roch die Abgase, die immer noch schwer zwischen den hohen Häuserfronten klebten und ging die paar Schritte zum Parkplatz. Schweigend rollte sie ihren Schlafsack aus und klemmte sich darin hinter das Lenkrad, den Sitz etwas zurückgestellt. Morgen würden sie noch auf dem Balkon frühstücken, doch es war aussichtslos.
Maike hatte sich die richtigen Worte ihrer Krankheitsgeschichte für die Vorstellungsrunde zurechtgelegt, doch Gerda winkte ab: „Lasst uns nicht zurückblicken auf euer Leid! Hier geht es doch darum, was jede für die eigene Gesundheit tun kann.“
Verletzt verzog Maike das Gesicht und fühlte sich in ihren Befürchtungen bestätigt. Sie sollte nicht von ihrer Entwicklung erzählen, die sie immer mehr in einen Gelee von Luftnot und Ängsten hatte abtauchen lassen, zäh wie die Sekrete, die sie aus Luft- und Speiseröhre spie? Nicht von damals, vom letzten Semester ihres Studiums, als sie bei ihrer Freundin Melanie auf dem Teppich zum erstenmal auf „Hoppel“ reagiert hatte?
„Ich glaube, ich werde allergisch“, hatte sie verwundert festgestellt und mit distanzierter Neugier in sich beobachtet, wie die Augen zu jucken begannen und die Enge durch die Luftröhre hinaufstieg. Ein anfangs harmloses Spiel, gepaart mit dem Gefühl, nun dazu zu gehören. Schließlich hatten die anderen Mädels auch Heuschnupfen oder Hautausschläge.
Doch die Situationen häuften sich, die erste Symptome auslösten. Beim Gang in den staubigen Keller, dem Picknick auf der Wiese, dem Streicheln von Nachbars Dackel zeigten sich immer öfter Beschwerden. Gelassenheit wurde zu Unbehagen, interessant wurde lästig und belastend.
Maike bereute, gekommen zu sein. Diese seltsame Mischung aus Frauen-Power und esoterischen Spinnweben von eigener Kraft! Warum hatte sie sich diesem grazilen Persönchen anvertraut, das die grauen Haare zu einem Zopf mitten auf dem Kopf zusammenband wie die hässliche Schwester in einem alten deutschen Film! Wieso konnte es unwichtig sein, zu erwähnen, wie ihr der feste Grund unter den Füßen weggesackt war, als die ersten Anfälle sie überfielen?
„Maike, ich will deine Erfahrungen bestimmt nicht abwerten.“ Gerda sah sie freundlich an, und um ihre Augen tanzten winzige Fältchen. „Aber mir ist die Zielrichtung wichtig, hin zur Gesundheit. Kannst du mir ein Erlebnis schildern, bei dem etwas gut war?“
Der Garten tauchte unvermittelt vor Maikes innerem Auge auf, Büsche und Wiese eingehüllt in eine weiße Pracht. Ein kalter Reiz an ihren Fußsohlen, ein wohliger Schauer durch Steißbein und Rumpf bis in die Schulterblätter, und dann der Übergang zu tiefem, entspanntem Atmen.
„Barfuß im Schnee. Im Winter, nur ganz kurz“, stammelte sie.
„Ja, das klingt gut!“ Gerda strahlte sie an. „Behalte das Gefühl!“
Tatsächlich strahlte etwas von dem Wintererlebnis in den jetzigen Augenblick, und erneut entschloss sich Maike, es hier noch einmal zu versuchen. Was blieb ihr auch übrig? Sie hatte dieses Gesundheitsseminar gebucht, war mit den Frauen hier in dieser Einöde und würde erst in zwei Wochen zurückfahren. Und jede noch so alberne Übung wäre besser als das, was sie zu Hause erwartete: entweder um Luft wie um ihr Leben zu ringen oder eingepackt zu sein in dämpfende Dosen, stimmungslos, hoffnungslos, ohne Freude versunken.
Sie ließ sich auf das „Hier“ ein, diese karge Felsenlandschaft, in der sich Körper und Seele Ruhe gönnen konnten, ohne ständig von Reizen attackiert zu werden. Anders als daheim, wo Krankheit als ständiges Programm im Hintergrund mitlief, während Maike mit dem tagtäglichen Stress auf der Arbeit oder mit der Partnersuche beschäftigt war, wurde hier Salutogenese, also das Schaffen von Gesundheit, zu ihrer einzigen Aufgabe. Den anderen Frauen ging es ebenso: Zunächst befangen in den Räumen oder auf der Terrasse des alten Häuschens, ließen sie sich behutsam auf verschiedene Übungen und Spiele ein oder genossen den Raum, den aufsteigenden Gedanken nachzugehen und sie in den selbst gestalteten Notizbüchern festzuhalten. Mit wachsendem Zutrauen folgten Spaziergänge durch Kräuterwiesen hinunter zum Bach.
Auch Selina, mit der Maike die urige alte Kammer teilte, söhnte sich mit der Umwelt aus. Während sie bei ihrer Ankunft kaum noch Nahrung zu sich genommen hatte, weil fast alles ihre Haut mit Ausschlägen zu verunstalten drohte, konnte sie sich schon am zweiten Tag auf die Kost einlassen, die ihnen hier von Gastgeberin Antonia angeboten wurde.
„Ich bin gespannt, wie das daheim wird!“, sagte Maike zu ihr am Ende der ersten Woche.
„Ja, hoffentlich können wir das mit nach Hause nehmen.“ Selina zog die Nase kraus. „Ich meine, für zwei Wochen ist es hier ja okay, aber auf Dauer will ich nicht bleiben. Hier ist ja nun wirklich nichts los.“
„Gut, was würde Gerda sagen: Wollen wir doch mal sehen, was wir gelernt haben!“ Maike durchforstete ihr Notizbuch. „Wir haben die Angst-Stopp-Übung, Fantasiereisen, unsere Affirmationen ... Was ist deine liebste?“ „Es gibt eine Lösung. Praktisch überall einsetzbar.“ Beide lachten.
„Meine erste war: Ich sterbe nicht. Was das für eine Stütze war, so mitten im Anfall.“
„Und dabei völlig falsch formuliert“, neckte Selina. „Sterbe – nicht – tsts. Sollten Affirmationen nicht positiv und mit angenehmen Inhalten gebildet werden?“
„Papperlapapp, sie hat geholfen.“
Der Abschied nahte, und für den letzten Nachmittag planten alle gemeinsam ein Abschlussritual. Sie wollten an dem kleinen Bergsee feiern, mit Tänzen auf der Wiese, einem gemeinsamen Mahl, Kartenziehen ...
„Ich habe da noch etwas, und ich hoffe, dass sich alle drauf einlassen können“, kündigte Gerda ihren Vorschlag an. „Wie wäre es, unter der alten Wurzel durchzutauchen, so als Übergang in eine neue Zukunft?“
„In den See?“ „Ist der nicht zu kalt?“ Altvertraute Angst in den Stimmen.
„Ich traue uns das schon zu“, sagte Gerda verschmitzt.
Maikes Brustkorb zog sich zusammen. Hatte sie nicht mit dem Schwimmen im Hallenbad ihre letzte Verschlimmerung eingeleitet, die bei Anfällen zu dem völligen Verschluss der Bronchien geführt hatte, so dass sie mit weit aufgerissenen Augen wie ein röhrender Hirsch nur abwarten konnte, bis die ersten Luftpartikel wieder Einlass erlangten und sie wieder mit dem Leben verbanden? Aber hier war kein Chlor im Wasser, versuchte sie sich zu beruhigen, nur lange getautes Eis von den fernen Bergspitzen. Ihre Brust entspannte sich wieder, und sie sagte zögerlich: „Na gut, versuchen wir es.“
Es war ein behagliches Gefühl, nebeneinander an der Arbeitsplatte zu stehen und Gurken, Pilze und Paprika zu zerteilen. Bei dem Griff zu den Tomaten berührten sich ihre Hände, und beide lachten.
„Na, noch alles im grünen Bereich?“, fragte Konni und sah ihr prüfend in die Augen.
„Ja, alles klar. Bei den ersten Anzeichen ziehe ich mich einen Augenblick zurück und tauche noch mal in meiner Fantasie in den See. So mache ich das immer, wenn es haarig wird.“
„Haarig ist gut.“ Beide sahen unwillkürlich zu „Tim“ und „Tom“ hinüber, die auf der Couch zu einem schwarz-weißen Klumpen vereinigt waren und leise schnarchten.
„Gut, dass wir es noch einmal versucht haben, nach all der Zeit!“ Konni legte seinen Arm um ihre Schulter und küsste sie. Seine Lippen schmeckten nach dem Rotwein, den sie mitgebracht hatte, und sie leckte kurz über die Oberlippe. Als wäre es ein Signal, schenkte er noch mal nach und reichte ihr das Glas: „Alla Salute!“
„Ja, auf die Gesundheit!“, stieß sie mit ihm an, „und: auf uns!“
Letzte Aktualisierung: 28.04.2007 - 08.54 Uhr Dieser Text enthält 8379 Zeichen.