Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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April 2007
Robinson
von Tanja Muhs

Seit Wochen schon tauche ich hin- und her, hinauf und hinunter. Seit meinem Unfall ist das so. Auftauchen aber, um Luft zu holen, die Sonne zu sehen oder das Wolkenspiel am Himmel, das tue ich nie.
Mal bin ich dort, da, in diesem Raum voller Zuckerwatte, dessen klebrige Wände, gewoben aus Erinnerungen und Notwendigkeiten, mich umgeben, mich stützen und doch gleichzeitig festhalten, gefangen. Dort ist es wunderbar dunkel und still. Nur meinen Herzschlag höre ich, von weit her; wie eine Moräne unter ihrem Stein auf dem Meeresgrund das leise Geräusch eines Motorbootes an der Oberfläche hören mag. Das Boot ist keine Gefahr, es lenkt mich nicht ab. Hier drinnen bin ich immer allein und trotzdem nicht unglücklich.

Dann wieder bin ich hier oben, frei und leicht, und kann auf mich hinunter sehen. Auf mein bleiches Gesicht, kaum von anderer Farbe als die Laken. Auf die Schläuche und Kabel, die meinen Körper versorgen, seit ich selbst es nicht mehr kann. Auf die Schwester, die ins Zimmer gelaufen kommt, seufzend den Kopf schüttelt. Sie hat sich an meine Ausflüge an die Zimmerdecke gewöhnt, aber akzeptieren kann sie sie nicht. Sie will mich nicht hier oben lassen. Ich höre die Schritte des herbeieilenden Arztes. Ein gut aussehender junger Mann, der mir gefallen würde, wäre ich nicht hier oben. Seine Füße machen kaum ein Geräusch, als sie über den sauberen Boden hinein in mein Zimmer hasten, sein Kittel rauscht wie ein Segel im Wind, und doch kann ich sie so gut hören wie das Klappern der Löffel in den Tassen im Schwesternzimmer, wie das Flüstern am Ende des Ganges und den durchdringenden Ton, der bekundet, dass mein Herz zu schlagen ausgesetzt hat. Ich höre ihn Arzneien nennen, sehe die Schwester sie ihm reichen, höre das Surren des aufladenden Defibrilators, sehe mich in meinem Bette aufbäumen, spüre ein Vibrieren wie einen Wellenschlag an nackte Beine in einer tosenden Brandung, wenn die silbrige Leine, die mich mit meinem Körper dort unten verbindet, nach mir ruft wie eine Mutter ihr Kind zum Abendessen. Ich will noch nicht hören, nein, Mutter, es ist so schön hier draußen, eine gelungene Abwechslung zur Wärme und Stille meiner Höhle, ein kühler Windhauch Freiheit; frei von dieser Haut und diesen Knochen, in denen ich eigentlich wohne, frei von meinem süßen Gefängnis. Doch schließlich, ein kräftiges Rucken an der Leine und ich füge mich.

Nun bin ich zurück in meinem stillen Zuckerwattehaus und nicht ganz unzufrieden damit, denn, wenn auch in den letzten Wochen arg geschunden und eingefallen, mehr eine verwitterte Ruine, denn ein Herrenschlösschen, so ist es doch mein Haus. Ich kenne es gut, es ist meines.
Ich bin so unentschlossen, ob mir das Unten oder Oben genehmer ist, beide haben ihre Vorteile. Bin ich oben, habe ich Heimweh, bin ich unten, habe ich Fernweh.
Also bin ich wieder hier, kann nicht sagen für wie lange. Hier unten gibt es keine Uhr. Ich weiß aber, über mir, da tost die Welt, während ich im Warmen, Trocknen liege, abgeschirmt, kein Sturm kann meiner hier habhaft werden. Selbst wollte ich hinaus, was ich nicht will, so wäre ich doch zu sehr festgehalten in meinem klebrigen Verließ. Es gibt nur dieses Unten jetzt. Die Welt auf der Wasseroberfläche ist zerstört. Das Schiff, auf dem ich segelte, ist untergegangen, der Sturm hat es genommen, nur noch Wrackteile treiben auf den Wellen. Aus einfachen Planken haben die Ärzte mir ein dürftiges Floß gezimmert. In dieser Notunterkunft treibe ich dahin und habe mich arrangiert mit dem, was vom Tage übrig blieb. Ich klage nicht, sondern bin voller Hoffnung, dass ich wachse und lerne.
Tief im Innern weiß ich, dass ich lernen muss. Lernen zu entscheiden, welcher Ort nun der Richtige für mich ist. Soll ich hier auf meinem Floße sitzen bleiben, weiter denken, Bilder aneinanderfügen und mich ruhig betrachten oder das nächste Mal einfach an der hohen Decke harren, hoffend, dass die Mutter müde wird zu rufen? Oder gar mich in einen Robinson verwandeln, mit meinen Händen paddeln, bis wieder Land in Sicht kommt? Ohne diese Aufgabe zu erfüllen, werde ich weiterhin hinauf- und hinunter tauchen, von hierhin nach dorthin wandern und wieder zurück, ohne jemals aufzutauchen.
Hier unten kann ich liegen, ruhen, denken. Schöne Bilder, ohne Bezug, die sich an einander reihen wie glitzernde Perlen an eine Schnur. Vielleicht ist es diese Stille, die mich denken, fühlen lässt, wie ich nie zu denken und fühlen vermochte. Hier bin ich eins mit mir, fühle nichts und doch alles. Ich fühle alles, was ich bin. Ein Zustand umfassender, schöner Egozentrik. Im Oben ist’s, dass ich bin, wahrhaftig bin, was ich hier unten entdecke zu sein. Ein erhabenes Gefühl. Und doch weiß ich, oder zumindest glaube ich, es zu wissen, dass dieses Sein im Oben nur möglich ist durch mein Entdecken des Seins im Unten. Deswegen habe ich Angst davor aufzutauchen. Obwohl ich mich nach dem Licht der Sonne sehne, das ich hier unten nicht sehen kann, nagt schon, allein beim Gedanken daran, das Oben oder Unten gegen ein Auftauchen, eine Verwandlung in Robinson einzutauschen, der Verlust an mir. Was verlöre ich Großartiges, was gewänne ich Furchtbares? Einmal aufgetaucht wären Unten und Oben verloren. Eine andere Bewusstheit stellte sich ein, eine Bewusstheit, die ich schon zu lange und nur zu gut kenne. Mein durch den Unfall geschundener Leib würde sich schmerzvoll zurückdrängen in mein Sein. Ich könnte ihn, müsste ihn wieder spüren. Hier aber, egal ob im Unten oder Oben, schwinge ich wie ein Pendel, zwischen eingesperrt, sicher und frei, losgelöst. Will ich ein Robinson sein?

Ich bin wieder hier oben, frei und leicht, und kann auf mich hinunter sehen. Weiß ist mein Gesicht, lange habe ich keine Sonne gesehen. Hier bin ich, das da unten ist doch nur mein Floß, ich erkenne es jetzt. Morsche Planken, vor ihrem Alter alt geworden, ein mageres Bündel von Haut und Knochen, viel zu klein für meine Größe, zu schwach für das, was ich bin. Ich höre Schritte auf dem Gang, zwei Paar Schuhe huschen über den Boden, dahinter ein Drittes. Sie kommen zu mir um meinen Ausflug zu beenden. Im Schwesternzimmer läuft ein Radio, ich wiege mich so lange im Takt der Musik, bis die Tür, so eilig aufgerissen, einen heftigen Windstoß hereinträgt, der mich erzittern lässt. Der Arzt, er sagt: „Oh, nein, nicht auch das noch! Nicht jetzt!“ Ich will ihm sagen, dass es mir gut geht, dass ich frei bin, er soll mich nur lassen, ich will nicht mehr auf meinem Floße und allein in meinem Verließ sitzen, mutterseelenallein. Hier oben ist’s schön. Ich kann alles fühlen, alles sehen, alles erkennen. Das Kind unten im Krankenhausgarten, das ein Rotkehlchen betrachtet, das nur für ihn zu singen scheint; den Mann, der da seine Frau umarmt, überwältigt von der Vertrautheit ihres Körpers und dem Parfum, das sie umweht. Plötzlich – der Arzt lässt mein Floß gerade noch einmal, schon wieder aufbäumen – öffnet sich die Türe zu meinem Zimmer. Eine Frau steht im Rahmen. Ihre Augen sind voll Schrecken, ihr Gesicht so weiß wie meines auf den Laken, ihre Hand schlägt vor ihren Mund, als wollte sie einen Schrei verhalten, der aus den Tiefen ihrer Seele kommt. Ich erkenne sie, sie ist mein Freitag, meine Schwester. Meine Perlenschnur aus Bildern, im Dunkeln zusammengefügt, beginnt vertraut zu funkeln. Ich paddele wie wild mit den Armen, greife wie wild nach meiner silbrigen Schnur, um mich, um sie zu erreichen. Ja, ich will ein Robinson sein.

Letzte Aktualisierung: 27.04.2007 - 20.23 Uhr
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