Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Thorsten Schöneberg IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
April 2007
Ein vergessener Name
von Thorsten Schöneberg

Er hatte seinen Namen schon beinahe vergessen. Als er in Franks
Mietwohnung in Kleinpösna saß, musste er sich vorstellen. "Ludger
Biermann",sagte er. Und das klang nun wahrlich fremd. Wie lange war
das her?
Frank hatte ihn am Augustusplatz aufgelesen, wo er mit anderen
gesessen oder um etwas Kleingeld gebettelt hatte.
"Komm mit, ich biete dir Essen und ein warmes Bett und ein Dach überm
Kopf",hatte Frank gesagt. Er hatte sich auch gleich als Frank
vorgestellt. Keine komischen Touren. Gut, eine verrückte Idee. Keiner
seiner Kumpel war je mitgenommen worden. Aber es war wirklich
verdammt kalt in Leipzig. Und die Polizei trieb sie immer wieder an
andere Orte oder brachte sie ganz aus der Stadt. Also ließ er Frank
nur zweimal sein Angebot wiederholen. Dann ging er mit. Frank wirkte
freundlich, salopp gekleidet, keiner dieser Anzugtypen, die sich
aalglatt und seelenverkaufend durchs Leben stahlen.
Frank wies ihm einen Raum im Keller zu. Ludger zuckte zusammen, als
die Tür von außen verschlossen wurde. Er wagte nicht, zu
widersprechen. Schließlich war es wirklich warm. Ein Bett stand auch
in dem kleinen Raum. Es gab nur ein winziges Fenster aus
Glasbausteinen, das er nicht öffnen konnte. Über einen
Lüftungsschacht bekam er Frischluft. Na ja, fast frisch. Aber gegen
die dampfende Atemluft auf dem Augustusplatz war es ein guter Tausch.
Endlich spürte er seine Nase wieder.
Konserven, eine Kiste Wasser, Unterwäsche in der passenden Größe,
eine Mikrowelle- Ludger wurde stutzig. Frank hatte von einer Nacht
gesprochen. Bücher gab es auch. Hänsel und Gretel als Kinderbuch mit
Illustrationen und Winnetou I von Karl May. Sollte er doch länger
bleiben? Ludger sah sich um. Hinter einem Vorhang war sogar eine
Dusche eingebaut. Kein Zweifel. Hier konnte man länger bleiben als
eine Nacht. Er rief in den Lüftungsschacht hinein.
"Hey, Frank, ich hab da mal ´ne Frage"
Keine Antwort.
"Hallo!"
War das hier nicht ein Mietshaus mit mehreren Parteien? Hörte ihn
denn gar keiner?
"Hey, verdammt, ist denn da niemand?!"
Er hämmerte mit einem Schuh an den Lüftungsschacht. Aber er konnte
soviel Lärm machen, wie er wollte: Es reagierte niemand. In
Kleinpösna hört niemand dein Schreien.
Ludger machte alle Stadien von Hoffnungslosigkeit durch. Bekannte
Gefühle aus der Zeit, als ihm klar war, dass er auf der Straße leben
musste. Ängste, als die ersten Obdachlosen in Deutschland erfroren.
Wut, Hilflosigkeit, Jammern, Lärmen und Heulen. Immerhin hatte er es
warm, etwas eng, aber sonst behaglich. Schlimmer als auf der Straße
zu leben konnte es nicht mehr kommen. Nur manchmal sorgte er sich,
welch perverses Spiel Frank vielleicht mit ihm trieb. Er würde sich
wehren. Er versuchte täglich, das Bett anzuheben, um die Muskeln
aufzubauen. Was Frank auch plante, er würde hier nicht das blöde
Schaf machen, das sich schlachten ließ.
Als vielleicht drei oder vier Tage vergangen waren, griff Ludger zu
den Büchern. Sie waren nicht mehr vollständig. Im Kinderbuch fand er
nur noch die Passage über den eingesperrten Hänsel, der sich
fettessen sollte, um geschlachtet zu werden. Und im Winnetou gab es
nur die Geschichte, als Old Shatterhand gefangen und von Nscho Tschi
gesundgepflegt wurde, damit er an den Marterpfahl gebunden werden
konnte.
"Toll, da scheint mein Vermieter ja eine Vorliebe für hoffnungslose
Schicksale zu haben!"sagte sich Ludger. Er hatte sich wieder
angewöhnt, Selbstgespräche zu führen. Draußen, auf der Straße, hatte
ihm das auch immer geholfen.
Endlich öffnete sich die Tür und Frank schaute herein.
"Na, bei dir alles fit?",fragte er in einem saloppen Ton, der Ludger
zur Raserei gebracht hätte, wenn er nicht gewillt gewesen wäre, erst
einmal ruhig zu bleiben. Er musste wissen, warum er hier festgehalten
wurde.
"War eine lange Nacht."
"Aber besser als unter Brücken oder auf Parkbänken, oder?"
"Ich kann für dieses Hotel aber nicht zahlen",sagte Ludger.
"Weiß ich doch. Du bist mein Gast. Ich werde einmal die Woche kommen
können. Dann sagst du mir, was fehlt."
"Meine Kumpane vom Augustusplatz. Die Suppenküche in Gohlis. Meine
Frau in der Beratungsstelle. Kennst du das "Vier Wände"? Sie werden
mich da vermissen. Die frische Luft."
"Zweiter Versuch."
"Wie lange willst du mich hier festhalten? Und warum?"
"Ich denke, dass ich insgesamt zwei Monate brauchen werde. Ãœber die
Gründe kann ich dir nichts sagen. Also, was fehlt?"
"Das läuft so nicht", brauste Ludger auf. "Du kannst mich doch
nicht..."
"Okay, ich sage dir mal, wie das läuft. Du sagst mir, was fehlt.
Sagen wir, ich komme in einer halben Stunde noch mal. Dann sagst du
mir, was fehlt. Wenn es dann immer noch nicht klappt, musst du eine
Woche warten. Und dich vermisst niemand. Es gibt schon zu viele
Penner. Wenn einer nicht mehr kommt..." Er zuckte mit den Schultern.
Und Ludger wusste, dass er recht hatte. Die Frau in den "Vier Wänden"
hatte ihn jetzt bereits fünf mal nach seinem Namen gefragt. Sie sah
die Einzelnen nicht mehr in der Masse ungepflegter Vollbärte und
verfrorener Gesichter.
Die Tür verschloss sich.
"Hey!"schrie Ludger. "Hey, du Arsch! Komm zurück!" Und doch war ihm
klar, dass er wirklich eine Einkaufsliste rausgeben musste. Sonst
hätte er eine schwere Woche vor sich. Als Frank die Tür wieder
öffnete, sagte er ihm, was er brauchte. Frank schrieb sich alles in
einen dieser modernen elektronischen Kalender und ging.
"Den Bart lässt du bitte dran. Ich organisiere einen Friseur zum
nächsten Mal. Also, nicht abnehmen, den Bart. Sonst musst du so lange
bleiben, bis er wieder gewachsen ist."
Fliehen? Frank hatte diese Sache hier zu gut geplant. Der vergaß
nichts.
"Bart dran lassen? Zwei Monate? Was hat dieses Arsch bloß vor?"
Die nächste Woche verbrachte Ludger in einer Art Starre. Er hörte
viel Radio Sachsen und überwand sich, jeden zweiten Tag zu duschen.
Die Haare danach wieder durchzukämmen erwies sich als echte
Herausforderung. Er hätte sie gern abgeschnitten, doch zum einen fand
er nichts zum Abschneiden, zum andern befürchtete er, dass er dann
länger würde bleiben müssen.
Frank kam am nächsten Wochenende. Er brachte einen aramäisch
aussehenden Mann mit.
"Diese?" fragte der Mann mit der langen Nase.
Frank nickte.
"Wo? In Bad?"
"Mach ruhig hier. Ich sauge alles weg."
"Mann, echt Scheiße Haare, hast du lange nicht schneiden lassen?"
"Nein. Mein Terminkalender ließ es nicht zu."
"Scheiße, Scheiße, du, da hilft keine Schere."
Der Mann fing an, sich vorsichtig durch die dichte Haarpracht zu
arbeiten.
"Ich brauche Hilfe",zischte Ludger leise.
"Alles klar, Mann, ich helf dir. Dein Bruder hat erzählt."
"Bruder?"
"Ja, hier, der Frank. Hat gesagt, du wirst das sagen. Ist schon gut,
Mann. Ich alles verstehn."
Ludger wollte aufspringen. Doch ein Blick von Frank zwang ihn, auf
dem Stuhl sitzen zu bleiben. Schweigend ließ er sich die Haare
schneiden. Der Bart wurde gestutzt. Der Berber schaute immer wieder
zu Frank. Als zum Schluss noch die Haare gefärbt wurden, verstand
Ludger: Er sollte Frank ähnlich sehen. Aber wozu?
Der Friseur ging. "Ich schicke dir Polizei, Feuerwehr und FBI", rief
er und zwinkerte Frank zu.
"Gut gemacht, Bruder", sagte der. "Siehst gut aus. Das bleibt jetzt
so. Alles, was du veränderst, verlängert deine Zeit hier in diesem
Hotel. So hast du es doch genannt."
"Die Bücher sind kaputt."
"Ich weiß, Ludger. Ich habe die Stellen drin gelassen, die mich am
meisten faszinieren. Im Moment habe ich noch so ein Buch. Darin
geht´s darum, dass ein Mann aus seinem Alltag aussteigt. Er geht in
den Osten, um arbeitslos zu werden und seinem spießigen Leben zu
entkommen. Dieser Traum vom Entkommen wird als moderne Erlösungssuche
dargestellt. Faszinierend, oder? Suchen wir nicht alle Erlösung?"
"Könntest du mal deutlicher werden, was das alles mit mir zu tun
hat?"schrie Ludger.
"Sch- sch- scht! Vielleicht schon nächstes Wochenende. So, jetzt zu
deiner Bestellung: Ich habe dir Kleidung mitgebracht. Die passt dir
sicher. Das ziehst du zum nächsten Wochenende an."
"Ich werd dir in dein Zimmer scheißen, das werd ich...!"
"Weißt du, vom ordinären Schimpfen bekomme ich Kopfschmerzen. Es ist
nicht gut, wenn ich Kopfschmerzen habe."
Franks Blick brachte ihn wieder zum Schweigen. Ludger hatte eine
fürchterliche Angst. Die Kälte des anderen Mannes versetzte ihn in
eine Panik, die ihn nachts wach hielt. Er hatte das Gefühl, keine
Luft mehr zu bekommen. Frank konnte nicht sehen, wie er manchmal
direkt am Lüftungsschacht stand und wie ein Fisch auf dem Trockenen
nach Luft schnappte. Er gab Frank durch, was er brauchte. Was
bedeutete es, dass die beiden Bücher nur stückweise zur Verfügung
standen? Wollte Frank ihm etwas damit sagen? Wurde er hier
gefangengehalten, um am Ende getötet zu werden? Ludger wehrte sich
gegen diesen Gedanken. Es schien ihm zu ungeheuerlich. Warum sollte
er äußerlich Frank ähnlich sein? Was meinte der mit seinem Gefasel
von Erlösung?
Ludger schnitt sich mit dem Langhaarschneider seines Rasierapparates
in die Finger und schrieb mit Blut auf Toilettenpapier: Hilfe, ich
werde gefangen gehalten! Rufen Sie die Polizei! Mein Entführer heißt
Frank, wohnt in Kleinpösna. Ludger Biermann. Hilfe!
Er schrieb seine Botschaft auf drei Blatt Toilettenpapier und schob
sie in den Lüftungsschacht und versteckte sie im Altpapier und in
einem Joghurtbecher.
Frank kam am nächsten Wochenende. Ludger hatte die Kleidung angelegt.
Es waren Franks Sachen. Er sollte Frank darstellen. Aber in welcher
Rolle? Er wusste doch nichts.
"Was soll ich für dich tun?"fragte er. Er füllte das Schweigen mit
Geplapper. Eine seiner Toilettenpapierbotschaften ließ er zu Boden
fallen. Er musste zu Frank ins Auto steigen. Sie fuhren zur Berliner
Brücke.
"Hier, steck das mal ein", sagte Frank. Er reichte ihm eine
Brieftasche. Ludger wollte sie öffnen.
"Nichts! In die Hosentasche damit."
Unter ihnen fuhren die Züge vorbei. Ludger musste am Geländer stehen
und in Richtung Bahnhof schauen. Die Züge waren teilweise noch recht
schnell.
Plötzlich verstand er: Die Ähnlichkeit, dieses Erlösungsgequatsche,
diese Buchstellen mit Erzählungen von Pflegen und Mord, die
Brieftasche, von der er sicher war, dass sie Franks Personalausweis
enthielt- Frank wollte untertauchen, seine Identität aufgeben! Er
sollte vor den Zug springen, damit es aussah, als wollte Frank
Selbstmord begehen. Sein Herz raste. Nein, das konnte doch nicht wahr
sein! Er drehte sich hektisch um. Doch Frank hatte eine Art
Baseballschläger dabei und schlug ihn damit auf den Schädel.
Ludger merkte nicht mehr, dass er auf dem Boden aufschlug. Und eine
Minute später bekam er auch nicht mit, dass er von der Berliner
Brücke gestoßen wurde. Direkt vor den ICE. Die Bremsen des Zuges
quietschten, auf der Brücke fuhr ein Auto langsam davon.
In Kleinpösna hob ein Spaziergänger ein zusammengeknülltes Blatt
Toilettenpapier auf und las, was darauf stand. Er hatte eine Runde
mit seinem Hund drehen wollen. Doch er entschied sich anders und
schlug den Weg zur Polizeiwache ein.

Letzte Aktualisierung: 05.04.2007 - 18.09 Uhr
Dieser Text enthält 10855 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.