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April 2007
Aura Infernale
von Sascha Mrowka

Seit vielen Jahrtausenden durchstreife ich die Welt, auf der Suche nach Ereignissen, die mein Interesse wecken. Nicht immer sind es die groĂźen Geschehnisse, die in meinen Fokus geraten. Oftmals sind es die kleinen, verborgenen Dinge. Wie auch an diesem
25. Januar 2003, einem diesigen und kalten Samstagnachmittag.
Ungefähr in einer Flughöhe von 50 Metern, spüre ich unter mir eine Unregelmäßigkeit, die ich mir näher anschauen will. Zielstrebig gehe ich zum Sinkflug über, direkt auf das Haus zu, das eine Aura des Todes ausstrahlt. Ich schlüpfe durch die Wand, tauche hinein in das Innere und lasse meinen Blick streifen. Ein junger Mann schläft in einem Sessel vor dem laufenden Fernseher. Die Uhr zeigt 14:28 Uhr an. Noch entdecke ich nicht die Ursache, die dieses Objekt für mich interessant machte und so schlüpfe ich weiter durch die Wände, um wie ein Detektiv dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. In den anderen Zimmern finde ich nichts Ungewöhnliches. Mir fallen nur die zahlreichen, randvollen Aschenbecher auf, die sich überall im Haus verteilen. Mein Todeskandidat ist offensichtlich ein starker Raucher. Das Rauchen einem Selbstmord auf Raten gleichkommt, hat er anscheinend noch nie gehört. Meine Erfahrung sagt mir, dass dies aber nur ein kleines Teil des Puzzles ist.

Ich blicke zurück in die Zeit. Wie eine Videokassette im Schnellsuchlauf rast das Leben des jungen Mannes an mir vorbei. Nur einen Tag muss ich zurückschauen, dann entdecke ich ein weiteres Stück des Puzzles. Ich kann zusehen, wie ein Fremder vor der Haustür des Todeskandidaten erscheint. Wie er einen Werkzeugkoffer hält und die Türklingel des zukünftigen Opfers betätigt. Die Tür öffnet sich, ein freundlicher Gruß, der Fremde zeigt einen Ausweis. Ich verlangsame die Zeit und fliege dichter heran, um mir das kleine Stück Plastik genauer anzusehen. Sein Name ist unwichtig. Interessanter finde ich, dass er vom städtischen Gaswerk kommt. Denn den Zeitpunkt des Hausbesuchs finde ich mehr als verdächtig. Vielleicht ein Notfall? Nun lasse ich die Zeit wieder normal vergehen, sehe, wie der Fremde zum Gasanschluss des Hauses geführt wird und dort sein diabolisches Werk ausführt. Der Todesanwärter steht ahnungslos daneben, schaut dabei zu, wie sein Todesurteil unterzeichnet wird.
Im Gegensatz zu einem Menschen kann ich ganz genau erkennen, dass eine winzige Dosis der brisanten Fracht nun stetig entweicht und ungeniert an die Umwelt abgegeben wird.
Noch immer fehlen einige Teile, damit ich das Puzzle zusammensetzen kann.
Erneut blicke ich zurĂĽck, weiter und weiter. Drei Monate habe ich betrachtet, habe sowohl das Opfer, als auch den Fremden auf Schritt und Tritt beobachtet. Wieder lasse ich die Zeit normal verstreichen und schaue mir die Ereignisse dieses verregneten Novembertages an...

Bis zu einem Friedhof bin ich dem Fremden an diesem Tag gefolgt. Seine rechte Hand ruht auf der Schulter eines Mannes, der vor einem Grab kniet. Ein fester Druck spendet Trost; spricht quasi: „Du bist nicht allein mit deinem Schmerz!“ In dem Gesicht des trauernden Mannes lese ich tiefen Schmerz und Verzweiflung. Nun betrachte ich den Grabstein, lange kann er noch nicht hier stehen; der eingetragene Todestag ist genau ein Jahr her. Judith steht dort in einer besonders schönen Schrift geschrieben. Kleine Blüten unterstreichen ihren Namen, trennen ihn von den restlichen, harten Fakten – Judith wurde nur 12 Jahre alt. Regentropfen hatten sich mit den Tränen des Mannes vermischt, dann stand er auf, wandte sich dem Fremden zu: „Wie du es auch immer anstellen willst, tu es! Tu es für Judith und für die anderen Kinder. Verdammt, dieses Schwein soll in der Hölle schmoren.“
„Das wird er!“, antwortete der Fremde, dann zog er sich zurück, stieg in sein Auto und fuhr fort. Ein teuflischer Plan nahm in seinem Kopf Gestalt an, und sein ganzer Wortschatz reduzierte sich auf das Wort „Rache“.

Noch immer tappe ich im Dunkel. Klar ist nur, der Todeskandidat hat etwas mit dem Tod von Judith zu tun. Nur was? Angetrieben von dieser Frage, blicke ich weiter zurĂĽck in die Zeit.

Nun finde ich mich in einem Gerichtssaal wieder. Der junge Mann ist der Angeklagte, wartet auf die Urteilsverkündung. Neben vielen weiteren Personen sind auch die beiden Männer anwesend, die ich schon am Grab beobachtet habe. Als der Richter den Saal betritt, kehrt augenblicklich eine gespenstische Ruhe ein. Jeder will die Bestätigung dessen hören, was er schon längst weiß. Doch was jetzt aus dem Mund des Richters zu hören ist, gefällt niemandem im Saal (bis auf den jungen Mann). Worte wie: „... die Schuld kann nicht eindeutig bewiesen werden ... im Zweifel für den Angeklagten ... darum ist er unverzüglich aus der Haft zu entlassen.“ lösen einen Tumult im Gerichtssaal aus. Würde der Richter jetzt den Angeklagten betrachten, er könnte ganz deutlich von dessen Gesicht ablesen: S-C-H-U-L-D-I-G
Selbst ein Blinder wäre dazu in der Lage gewesen.

Meine kleine Zeitreise geht weiter, noch ein kleines StĂĽck zurĂĽck.
Die Zeitungen berichten von dem Prozess, bei dem der junge Mann angeklagt ist. Ich lese von „Drogen – Vergewaltigung – Verstümmelung – Mord“. Das alles wurde der kleinen Judith angetan; einem unschuldigen Kind. Meine Aufgabe ist nicht immer angenehm – genau genommen ist sie es nie – trotzdem, ich muss Gewissheit haben und blicke weiter zurück. Zurück zu dem Tag, als das grausame Verbrechen stattfindet.

Ich muss mit ansehen, wie die barbarische Tat ihren Lauf nimmt. Wie der junge Mann die kleine Judith unter Drogen setzen will, um sie gefügig zu machen. Sie will nicht, sie wehrt sich – tapferes Mädchen! Es klatscht laut, die Hand des Mannes hinterlässt sofort Spuren im Gesicht von Judith. Tränen schießen ihr aus den Augen, verzweifelte Schreie aus ihrem Mund; niemand wird sie hören, niemand wird ihr zu Hilfe kommen.
Wie gerne würde ich ihr helfen, diesem grausamen Schicksal zu entgehen, das für sie vorbestimmt ist. Aber meine Macht ist hier eingeschränkt. Gucken ja, eingreifen nein, lautet die Devise, mit der ich seit Ewigkeiten konfrontiert bin. Ich bin nur ein stiller Beobachter, ein Zeuge für die Ereignisse auf dieser Welt. Gewissenhaft erfülle ich diese, mir auferlegte Aufgabe.
Inzwischen bricht die Bestie in dem Mann hervor.
Ich schreie ihm ins Ohr: „Lass sie in Ruhe, Du elender Hurensohn!“, aber die Geschöpfe dieser Welt können mich nicht hören. Ich tauche ein in den Körper der Bestie, möchte ihn von innen zerreißen, aber nicht mal sein Gefühl nimmt mich wahr.
Judith hat keine Chance. Selbst als Erwachsene wäre sie vor dem Monster in diesem Moment nicht mehr zu retten gewesen. Wieso konnten die Ermittler keine eindeutigen Beweise finden? Es musste welche geben. So ein Gemetzel konnte niemand spurlos überstehen! Trotzdem wird der Richter dieses Ungeheuer freisprechen.
Ich habe genug gesehen, den Fall gelöst – das Motiv gefunden.
Zufrieden über meine Leistung, bewege ich mich nun wieder vorwärts durch die Zeit. Zurück zum Ausgangspunkt meiner kleinen Reise, die für mich nur einen winzigen Augenblick gedauert hat. Erneut schaue ich nach dem Mann im Obergeschoss. Die Uhr zeigt immer noch 14:28 Uhr an, und ich höre förmlich seine Lebenszeit ablaufen.
Gerade schwebe ich unter der Zimmerdecke, beobachte den Todeskandidaten, als ich eine Regung bei ihm bemerke. Ich sehe, wie sich seine Augen langsam öffnen, noch immer leicht benommen vom Schlaf. Seine Hände reiben seine müden Augen. Anschließend betrachtet er den immer noch laufenden Fernseher und greift dann zu der Zigarettenschachtel, die auf einem kleinen Tisch vor ihm liegt. Er öffnet die Schachtel, entnimmt eine Zigarette und steckt sie sich in den Mund.
Ich denke wieder an den Fremden. Wie er unter einem Vorwand in das Haus gekommen war, um die Gasleitung zu manipulieren...
Nun greift er zum Feuerzeug und ist gerade im Begriff die Zigarette zu entzünden, als plötzlich das Telefon läutet. Er nimmt die Zigarette aus dem Mund, legt das Feuerzeug beiseite, wendet sich dem Telefon zu und nimmt den Anruf entgegen. Es ist ein kurzes Gespräch, scheinbar hat er eine Verabredung verschlafen, wie ich seinem plötzlichen Blick zur Uhr entnehme. Von einer Sekunde zur anderen ist er hellwach, schaltet den Fernseher ab, greift die Zigaretten mitsamt Feuerzeug und begibt sich hinunter zum Flur. Dort angekommen zieht er seine Winterjacke an, noch nicht ahnend, dass ihm gleich SEHR warm sein wird. Wieder steckt er sich eine Zigarette in den Mund und setzt das Feuerzeug an...
Nun fliege ich zurück nach draußen, lasse meine Flughöhe ansteigen und beobachte die Szene, die mir präsentiert wird. Unter mir herrscht friedliche Stille. Einen Wimpernschlag später kommt es zum fatalen Treffen des ausströmenden Gases mit den Funken des Feuerzeugs. Einen weiteren Wimpernschlag später, ist das Haus mit einem gewaltigen Knall vom Erdboden verschwunden. Nur brennende Trümmer sind geblieben.
Aus den umliegenden Häusern strömen aufgeregte Menschen und in der Ferne höre ich die Sirenen der nahenden Feuerwehr. Viel werden sie von dem Bewohner nicht wiederfinden, das kann ich mit Gewissheit sagen! Die Straße füllt sich mehr und mehr mit Schaulustigen, die sich an dem Leid anderer ergötzen. Hunderte, mir noch unbekannte Gesichter, weiden ihre Augen an diesem Tatort. Dann entdecke ich ein mir vertrautes Gesicht, das des Gasmanns. Seine Miene ist hell erleuchtet, und ich kann seine freudige Erregung deutlich spüren.
Ich verlasse nun diesen Ort und schwebe weiter. Am Horizont erkenne ich weitere Auren des Todes, die meine Neugier wecken. Unter anderem zieht mich das Haus des Richters magisch an...

Letzte Aktualisierung: 29.03.2007 - 21.11 Uhr
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