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Seit Wochen hatte Ralf das Gefühl nur noch eine leere Hülle zu sein, ausgebrannt und gefühllos. Sich nicht mehr spüren zu können, das war das Schlimmste! Nach seinem Autounfall hatte er viel zu lang im Krankenhaus gelegen, unfähig sich zu regen. Wie in einem Film liefen Bilder seines Lebens an ihm vorbei, zwangen ihn, über sich und seine Existenz nachzudenken. Diese Grübelei hatte ihn melancholisch gestimmt.
Welche mysteriöse Macht lockt uns zu unseren Ursprüngen zurück, wenn wir in Not sind? Ralf zog es nach Kalah, die Stadt seiner Kindheit. Möglicherweise hoffte er, in der Vergangenheit die Ursache seines aktuellen Lebensüberdrusses zu finden.
Kalah, früher ein beschauliches Städtchen, heute ein brodelnder Vulkan. Ein Ort der nach Laster, Lust und Verderbtheit roch.
„Endstation“, hatte der Bahnbeamte gebrüllt. Wie passend! Die Leute die hier ausstiegen sahen aus wie Schatten. Ihre Augen waren glanzlos, tot. Dachten sie etwa, dass ein Aufenthalt in der Stadt der Sünde ihnen neue Lebenskraft einhauchen würde?
Ein Schauder durchfuhr Ralf. Es kam ihm so vor, als würde sich die Entmenschlichung der gesamten Gesellschaft in den Blicken dieser Wesen wiederspiegeln. Alles in ihm sträubte sich dagegen, dazuzugehören.
Schnellen Schrittes verließ er den Bahnhof und stürzte sich in das Dickicht dunkler Gassen.
Zum Herzen der Stadt führte eine steile Treppe hinunter. Tiefer, immer tiefer, in die Katakomben der Welt. Die Stufen waren aus altem Gestein, unregelmäßig und heimtückisch. Dunkel war es zudem, und kalt. Die Sonne hatte sich schon lange nicht mehr hierher gewagt. Nicht umsonst nannte man der Ort: Die Stadt der ewigen Nacht.
Endlich war Ralf in den Gedärmen Kalahs angelangt.
„Hey Süßer, wie wär’s mit uns“, sprach ihn eine pralle, blondierte Hure an.
„Danke, kein Bedarf“, antwortete er wahrheitsgemäß.
Die Lust an Sex war ihm irgendwann, vor langer Zeit, abhanden gekommen.
Nichts als Spielsalons, Lusthäuser, Bars. Die Menschen um ihn herum schienen alle rastlos nach irgendetwas zu suchen, hasteten hektisch von einer Vergnügung zur anderen. Ob sie auch auf der Suche nach ihrer verlorenen Identität waren?
Ralf zog es in eine dieser Kneipen, ein uraltes, verwahrlostes Gebäude. Die Fenster waren vom Staub der Straße vollkommen überzogen, man konnte nicht mehr hindurch blicken. Der Kellner schaute ihn fragend an, eine Begrüßung hielt er für überflüssig.
„Einen Whisky bitte“.
Am Tisch nebenan saßen ungefähr ein halbes Dutzend deutlich angeheiterter Typen.
„Komm, setz dich zu uns. - Helmut mach ihm Platz“, lallte ein rothaariger Riese, das Gesicht voller Sommersprossen.
Ralf wollte höflich ablehnen, aber er fühlte sich inmitten dieser Menschenmenge noch einsamer als sonst und deshalb folgte er der Einladung.
„Bist ein Neuankömmling wa?“, fragte der auf Helmut angesprochene.
„Wieso, sieht man mir das an?“
Ein lautes Gelächter war die Antwort.
„Du wirst dich schon noch daran gewöhnen“, meinte der Rothaarige.“ Ich bin bereits seit zwanzig Jahre in Kalahs ewiger Nacht. Die meiste Zeit verbringe ich hier, in meiner Lieblingskneipe.“
„Oh, ich habe nicht vor, mich hier zu etablieren. Ich bleibe nur ein paar Tage.“
Seine Worte lösten ein noch größeres Gelächter aus. Ralf leerte eiligst seinen Whisky und verschwand.
„Diese Leute sind komplett verrückt, sturzbetrunken, oder beides“, dachte er für sich.
Plötzlich bereute er, das Angebot der Hure abgelehnt zu haben. Nicht, dass sich in seiner Hose etwas regen würde, in dieser Atmosphäre war kaum damit zu rechnen, aber diese grauenvolle Einsamkeit wurde ihm immer unerträglicher.
„Ein bisschen Zuneigung, wenn auch gekaufte, würde mir gut tun“, sagte er laut vor sich hin, wie um diesen Gedanken vor sich selbst zu rechtfertigen.
Er lief den Weg durch die engen, düsteren Gassen zurück. Vorbei an den Bettlern, den Betrunkenen, den Verwirrten. „Mein Gott, wie hat sich dieser Ort verändert“, dachte er. „Hier werde ich wohl kaum eine Antwort auf meine Fragen finden. Morgen reise ich wieder ab.“
Sie stand noch da, ordinär und gelangweilt. Er hätte sich eine andere Käufliche aussuchen können, es fehlte nicht an Auswahl, doch eine unsichtbare Kraft zog ihn genau zu dieser.
„Na, anders überlegt?“, grinste sie.
Ralf folgte ihr in ein Stundenhotel. Es sah noch heruntergekommener aus als die Kneipe, ein Ort, erfüllt von Hoffnungslosigkeit.
„Ich komme mir vor wie in der Hölle“, sagte er.
„Die ist überall.“
„Ich dachte eigentlich, dass du mich aufheitern würdest.“
„Wovor fürchtest du dich am meisten?“
„Ich weiß nicht, ich glaube vor der Einsamkeit.“
„Dann wirst du genau diese vorfinden, das wovor du dich am meisten fürchtest wird zu deiner Wirklichkeit werden.“
„Das verstehe ich nicht, du machst mir Angst, ich will weg von hier.“
„Es gibt kein Entkommen.“
Ihre Augen waren leer, wie nach innen gekehrt. Als sie ihm näher kam, nahm Ralf ihren Atem wahr, er roch nach menschlicher Verwesung.
Ekelhaft!
Panik ergriff ihn. Wie von Sinnen rannte er so schnell er konnte aus dem Haus.
Als er sich in dem endlosen Labyrinth der verwinkelten Gassen wieder fand, hatte er nur noch einen Gedanken: Weg, weg von diesen gottverlassenen Ort.
Seine Kehle verkrampfte sich. Nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, musste er sich eingestehen, dass er die Orientierung verloren hatte. Die Gassen waren nur dürftig beleuchtet.
Dunkelheit!
Angst!
Er hatte sich im Kreis gedreht, konnte den Weg zur rettenden Treppe nicht mehr finden. Vor lauter Grauen war er unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.
In seinem Wahn stolperte er über einen der zahlreichen Stadtstreicher. Sein Kopf knallte gegen etwas Hartes und er verlor das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kam, saß der Bettler neben ihm und schaute ihn an, doch Ralf konnte sein Gesicht in dieser Finsternis kaum wahrnehmen.
„Wer sind sie?“, fragte er den Unbekannten, doch dieser antwortete nicht.
„Wie komme ich zur Treppe, ich muss sie finden, bitte.“
„Du kommst hier nicht mehr weg.“
„Wer zum Teufel bist du?“
Der Unbekannte holte ein Feuerzeug aus seiner Tasche und entzündete eine Fackel, so, dass Ralf in sein Gesicht blicken konnte.
Ihm stockte der Atem.
„Du, du“, stotterte er, „du bist ich.“
„Verstehst du nun, warum es kein Entkommen geben kann? Wie willst du vor dir selbst flüchten?“
Ralf sprang auf und lief davon. Die Treppe, die rettende Zuflucht, er konnte sie erkennen. Sie lag direkt vor ihm.
Der Albtraum würde ein Ende haben. Endlich!
Doch als er sich auf der ersten Stufe befand und sich bereits in Sicherheit wog, zog ihn ein dunkler Schatten zurück und warf ihn unsanft zu Boden. Der heftige Aufprall erinnerte ihn an seinen Unfall. Er sah sich wieder, hilflos auf der Straße liegend, alles um ihn voller Blut.
Schrecklich!
Inzwischen hatte sich ein dichter Nebel auf die Treppe gelegt. Als er sich lichtete, war sie verschwunden.
Von weiten hörte man Gelächter.
Stimmen.
Sie kamen näher.
Als Ralf aufblickte, erkannte er den Rothaarigen aus der Kneipe mit seinem Gefolge.
„Mach dir nichts draus“, sagte dieser, „du wirst dich daran gewöhnen.“
Er beugte sich zu Ralf hinunter, kam ihm so nah, dass dieser seinen Atem spüren konnte. Er erkannte den gleichen, ekelhaften Geruch von Fäulnis, Aas, Verwesung wie ihn die Hure verströmt hatte.
Mit einem bitteren Lächeln, das sein Gesicht zur Fratze werden ließ, fügte der Rothaarige hinzu:
„Hast du es immer noch nicht begriffen? Du bist längst tot! Tot mein Lieber, wie wir alle hier. Endstation! Willkommen in der ewigen Nacht, willkommen in der Hölle!“
Letzte Aktualisierung: 20.05.2007 - 22.40 Uhr Dieser Text enthält 7653 Zeichen.