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Mai 2007
Sibirische Nacht
von Esther Schmidt

Ständige Nacht. Selbst, wenn die Sonne schien, spürte Laszlo die Finsternis. Er trug sie wie einen Mantel, eine Aura, die ihn zugleich schützte und gefangen hielt. Er liebte sie nicht, aber er hatte gelernt, mit ihr zu leben.
Zwei Stunden nach Sonnenuntergang kauerte Laszlo im Treppenhaus eines Abbruchhauses und beobachtete durch einen leeren Türrahmen hindurch eine dunkle Gestalt, keine zehn Schritte von ihm entfernt. Trotz der unzureichenden Beleuchtung zweifelte er nicht daran, dass der schlanke Rücken in dem schwarzen Overall einer Frau gehörte. Sie öffnete einen Koffer und Laszlo erkannte reflektierendes Metall, hörte einen Mechanismus einrasten. Was genau sie tat konnte er nicht erkennen.
Lautlos richtete er sich auf und schob sich vorwärts. Er bewegte sich behutsam: jede Berührung konnte Putz zum Rieseln bringen, jeder falsche Schritt ein Dielenbrett knarren lassen. Geschmeidig glitt er an sein Opfer heran, sicherte dabei nach links und nach rechts, vergewisserte sich, dass sie tatsächlich alleine war. Er verharrte, als sie sich umzudrehen drohte, nahm seine Pirsch wieder auf, als sie es nicht tat. Das Licht einer Straßenlaterne blitzte auf der Klinge seines Messers, ihr Aufschrei erstickte in seiner Handfläche.
"Ruhig!" Er zeigte ihr die Klinge. "Sind Sie allein?"
Sie reagierte nicht, starrte ihn nur mit aufgerissenen Augen an und krallte ihre Fingernägel in seinen Arm. Vermutlich versuchte sie herauszufinden, welche Antwort ihr Überleben wahrscheinlicher machen würde.
"Ich bin nicht Ihretwegen hier. Ich werde Sie gehen lassen, sobald ich getan habe, was zu tun ist."
Es war befremdlich, ihren Körper an seinem zu spüren. Ihre Wärme weckte Erinnerungen, die er lange verdrängt hatte, Erinnerungen an das Leben vor der endlosen Nacht. Es machte ihn unsicher.
Sein Blick glitt über die beiden Metallkoffer, die auf dem Tisch vor ihr lagen: Kameras, Objektive, ein Stativ - eine Reporterin. Ungefährlich.
"Ich muss Sie fesseln, damit Sie mir keine Schwierigkeiten machen", erklärte er. "Werden Sie ruhig bleiben, wenn ich die Hand von Ihrem Mund nehme?"
Sie zögerte kurz, dann nickte sie. Langsam lockerte er seinen Griff und sie blieb tatsächlich stumm, während er ihre Hand- und Fußgelenke mit Kabelbindern zusammenschnürte. Er verzichtete darauf, sie zu knebeln.
"Wer sind sie?" Ihre Stimme war leise und verriet Anspannung. Er antwortete nicht, ging nach draußen und als er mit seiner Tasche zurückkehrte, folgte ihm Ihr Blick. Die Angst in ihren Augen hatte einer wachen Neugier Platz gemacht. Als er das Dragunov aus der fleckigen Ledertasche zog, ließ sie bloß ein erstauntes Schnauben hören.
Das vertraute Gewicht fühlte sich nach Heimat an. Grotesk. Ein Gewehr war das letzte Zuhause, das ihm geblieben war.
"Afghanistan?"
Er sah kurz zu der Frau hinüber. Eine starke Frau. Sie erinnerte ihn an Elena.
"Dort und anderswo", brummte er.
"Und für wen arbeiten Sie jetzt?"
"Für niemanden."
Das stimmte. Er arbeitete nur für sich selbst und er war niemand. Wenn er in Sibirien eines gelernt hatte, dann war es das: ein namenloses Stück Menschenfleisch zu sein. Denn ein Niemand zu sein bedeutete, zu überleben.
"Boris Rokarov." Sie hatte leise gesprochen, doch der Name ließ die Härchen in seinem Nacken vibrieren.
"Ich arbeite für niemanden", wiederholte er.
"Er ist Ihre Zielperson. Nicht wahr?"
Er hob den Kopf und wusste, dass sein Blick jedes Leugnen sinnlos machte. Sie nickte verstehend.
"Er ist auch mein Ziel. Korrupt, rücksichtslos, kriminell. Männer wie er zerstören dieses Land. So lange solche Männer die Politik bestimmen, kann Russland nicht zu seiner wahren Größe finden."
"Dann werden Sie mir dankbar sein, wenn ich ihn erledige."
Doch sie schüttelte den Kopf.
"Im Gegenteil. Wenn Sie ihn erschießen, sind sie nicht besser, als er. Sie stehen vielleicht auf der anderen Seite des Flusses, aber Sie haben weder eine Brücke noch einen Damm gebaut. Russland ist nicht einen Schritt weiter gekommen."
Laszlo zuckte die Schultern.
"Ich tue, was ich tun muss."
"Und dann?", fragte sie. "Wenn Sie ihn getötet haben, was dann?"
Er wusste es nicht. Er hatte nur für diesen Moment gelebt, es gab kein Danach. Die Zukunft war menschenfeindlich wie die winterliche Tundra. Er hatte sich vorgestellt, sich einfach in den Schnee zu legen und zu erfrieren. Doch ihre Stimme, warm und unerbittlich zugleich, gestattete ihm diesen tröstlichen Traum nicht.
"Es reicht nicht, seine Feinde zu bekämpfen", sagte sie. "Nur nieder zu reißen ist kein Lebensziel. Menschen müssen etwas aufbauen. Nur so können Sie Teil des Lebens werden, statt ein Teil des Todes zu sein."
"Ich musste hilflos zusehen, wie meine Frau blutige Stücke ihrer Lunge aushustete", sagte er schroff. "Ich habe meinem Sohn die erfrorenen Finger mit einem Küchenmesser amputiert und konnte ihn doch nicht retten. Ich habe es aufgegeben, ein Teil des Lebens zu sein."
"Dann sind Sie Teil des Todes", sagte sie leise, "so wie Rokarov. In unserem Land gibt es nichts dazwischen."
Seine Faust ballte sich um den Griff der Waffe.
"Es ist nicht klug, einen Mann zu reizen, der ein Gewehr in der Hand hält", knurrte er, doch sie schob trotzig das Kinn vor.
"Russland braucht heute Mut. Klugheit kommt erst an zweiter Stelle." Sie schüttelte den Kopf und etwas Bittendes trat in ihre Augen. "Eine Gesellschaft hat die Politiker, die sie verdient. Ihn nur zu töten nützt nichts. Was er tut muss ans Licht gezerrt werden, muss von allen erkannt und verurteilt werden. Nur so können wir wachsen, können wir reif für eine Zukunft werden - wir alle."
"In dieser Gesellschaft werden Reporter wie Sie ermordet."
"Dann schützen Sie uns - schützen Sie mich. Aber hören Sie auf, die alten Muster von Tod und Dunkelheit fortzuführen!"
"Ich bin das, was die aus mir gemacht haben."
"Sie allein entscheiden, wer Sie sind!"
Er spuckte ihr vor die Füße.
"Und Sie sollten sich entscheiden, die Klappe zu halten, sonst muss ich Sie knebeln."
Er kauerte sich ans Fenster, legte den Lauf des Dragunov auf die Fensterbank. Seine Wange ruhte am Griff, während er durch das Zielfernrohr spähte. Die vertraute Haltung ließ Bilder aus seinem Inneren auftauchen, schwarze, blutige Bilder. Erinnerungen an seine Nacht, aus der nur Elena ihn hatte befreien können. Doch Elena gab es nicht mehr.
Er biss die Zähne aufeinander und klärte seinen Blick. In dem runden Ausschnitt erschien ein Fensterkreuz, dahinter Rokarovs Gesicht, triefend vor Selbstgerechtigkeit. Fett war er geworden, doch Laszlo erkannte immer noch den berechnenden Blick des Mannes, dessen Falschaussage ihn und seine Familie zur Deportation verurteilt hatte.
Laszlo knirschte mit den Zähnen, aber noch krümmte sich sein Finger nicht. Er bewegte das Gewehr leicht und im Sucher erschienen weitere Gesichter: junge Speichellecker mit kalten Augen, glatte Huren, bullige Schläger. Dann stockte er.
"Oleg", murmelte er.
"Oleg Sinalev" , bestätigte die Reporterin hinter ihm. "Rokarovs rechte Hand. Wahrscheinlich tun Sie ihm einen Gefallen, wenn Sie den Alten umlegen. Sinalev wartet nur darauf, dessen Platz einzunehmen.
Laszlo kannte Oleg. Er war Scharfschütze gewesen, wie er. Nein, korrigierte er sich selbst, nicht wie er. Oleg hatte es Vergnügen bereitet, feindliche Soldaten, manche von ihnen noch halbe Kinder, aus der Deckung abzuknallen wie Karnickel.
Die Frau hatte Recht. Wenn er Rokarov tötete, würde sich nichts ändern. Unschuldige würden weiterhin leiden und Schuldige sich bereichern. Es wären andere Schuldige, aber nichts hätte sich geändert.
"Nicht meine Sache", sagte er sich. Ihm blieb nur die Rache. In der ewigen Nacht, in die ihn Elenas Tod verbannt hatte, war die Aussicht auf Vergeltung die kleine Kerzenflamme gewesen, die ihn seinen Weg hatte finden lassen. Mit Rokarovs Tod würde sie erlöschen, und dann würde die Finsternis ihn gänzlich besitzen.
Er schauderte. Zum ersten Mal spürte er Furcht vor dieser Zukunft.
"Würde Ihre Frau wollen, dass Sie zum Mörder werden?"
Die Stimme der Reporterin schlich sich in sein Hirn, als wäre sie ein Teil seiner eigenen Gedanken.
"Ich habe getötet."
Er wusste nicht, wie oft. Er hatte nie zu denen gehört, die stolz ihre Abschusslisten präsentierten.
"Sie waren Soldat, aber wollen Sie jetzt auch ein Mörder werden? Würde sie das wollen?"
Er dachte an Elenas Lächeln. Wie ein Engel war sie ihm erschienen, jedes Mal, wenn er aus dem Krieg zu ihr zurückgekehrt war. Ihre weißen Hände hatten nach ihm gegriffen, hatten ihn hinausgezogen aus dem Schmutz und der Dunkelheit, die ihn zu verschlingen drohten. Doch Elena war tot. Es war niemand mehr da, der ihn hinaufziehen konnte. Er würde in der Finsternis versinken und Elena endgültig verlieren.
Laszlo kniff die Lider zusammen. Obwohl es kalt war, brannte ihm der Schweiß in den Augen. Er sah Elenas Gesicht vor sich.
"Bitte! Nimm deinen Abschied."
"Ich kann nicht. Wie soll ich euch beide ernähren?"
"Sag nicht, dass du es für mich tust. Ich habe das nie von dir verlangt!"
Sie könnte noch leben, hätte er auf sie gehört.
"Können Sie ihn drankriegen?", fragte er, ohne den Blick vom Fernrohr zu wenden. "Können Sie mir versprechen, dass die Presse genug Macht hat, um ihm alles heim zu zahlen?"
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort.
"Ich will Sie nicht belügen", sagte sie schließlich. "Ich sage nicht, dass es einfach ist. Ich kann nicht einmal versprechen, dass es überhaupt funktioniert. Aber es ist der richtige Weg."
Einen endlosen Moment lang war es still. Er hatte geschworen, sie zu rächen. Sollte er so kurz vor dem Ziel aufgeben?
"Ich habe das nie von dir verlangt."
Laszlo atmete tief ein und richtete sich auf. Er legte das Gewehr zur Seite und zückte sein Messer.
"Machen Sie Ihre Fotos", knurrte er, als er die Kabelbinder durchtrennte. "Ich sorge dafür, dass Sie zumindest die Veröffentlichung erleben."
Während sie in fliegender Eile ihre Ausrüstung zusammensetzte hob Laszlo den Blick. Schwarz wölbte sich der Himmel über Moskau, doch in Laszlos Seele leuchtete der schwache Widerschein eines anbrechenden Tages.

Letzte Aktualisierung: 18.05.2007 - 20.43 Uhr
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