Der himmelblaue Schmengeling
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Mai 2007
Gefühle wie Züge, die mich verpasst haben
von Tanja Muhs


Jede Nacht, so endlos lang. Die Geleise nehmen kein Ende und mit ihnen auch nicht meine Flucht. Ich wälze mich in meinem zu großen Bette hin und her, einsam, schlaflos. Gefühle wie Züge, die mich verpasst haben. Sie jagen mich, scheuchen mich von Bahnhof zu Bahnhof, von Weiche zu Weiche vor sich her. Ich laufe, atemlos. Mein Gepäck, ein riesenhafter, lederner Koffer, ist mir eine Bürde, doch ich kann mich nicht von ihm trennen. Er ist mir allzu lieb geworden. Kleine Dinge habe ich darin, viel zu klein für seine Größe. Einige alte Fotografien, die ich niemals ansehe, zu genau kenne ich das Bild, das sie zeigen. Ich bin es. Ein Buch, zerlesen, die Seiten vergilbt und geknickt, der Einband unleserlich, aber ich muss ihn nicht mehr lesen können, denn ich kenne ihn ja und jedes einzelne Wort, das in diesem Buche steht. Ein Stück roten Stoffes, abgegriffen durch viele Berührungen zu feuchter Hände, zerfetzt von der scharfen Spitze einer alten Muschel, für deren Rauschen und Duft der See ich inzwischen taub und tumb geworden. Der Kalk des Meereshauses kratzt über das Stanniol des kleinen Stückchens süßer Schokolade, das inzwischen schlecht geworden. Eine Schicht aus feinen, Spinnweben gleichen Fäden verziert es nun und ungenießbar ist es, ich weiß es, obwohl ich es niemals überprüfe.
Die Dinge fallen durcheinander in ihrem fast leeren Ungetüm, dessen Eisenschnallen klirren bei jedem hastigen, unbeholfenen Schritt und derer mache ich viele. Meinen Koffer habe ich geschultert wie einen Seesack, obwohl er sich für diese Tragweise nicht eignet. Meine rechte Hand, schmerzhaft verdreht, der Handrücken nach oben, krallt den abgewetzten Griff meines Hab und Guts direkt oben an meiner Schulter. Der Koffer rumpelt und poltert, trifft mein Ohr, die Seite meines Halses. Deswegen habe ich ihn noch, trage ihn, obwohl sein Inhalt mir zu nichts taugt. Für diese Berührung an der Seite meines Halses. Weil sie eine Erinnerung birgt, während alles andere nutzlos ist. Eine Erinnerung an dich, schwerelos im Raum zwischen Vergangenheit und unerfüllbarer, unmöglicher Zukunft. Mein Wandern, meine Flucht handelt nur von dir.
Die Trasse, auf der ich laufe, ist eng und schmal. Zu beiden Seiten türmen sich hohe steinerne Wälle. Sie sollen das Einsteigen erleichtern, wenn man oben ist, aber ich bin hier. Und so laufe ich durch die Nacht wie jede Nacht seit langem, laufe und warte, bis die polternden Züge kommen.

Er kommt, ich weiß es, der Zug, der nur für mich fährt. Er kündigt sich an durch dieses Vibrieren auf den Geleisen, lange bevor ich sein süßes Signal hinter mir hören kann, lange bevor sein Licht, das aus seinem einzigen Scheinwerferauge auf mich gerichtet ist, den trostlosen Weg vor mir besser erhellt als der Mond. Meine Füße, beschuht mit Flickwerk, dessen Nähte sich lösen wie die Sohle, spüren den jetzt warmen, pulsierenden Stahl der Schienen. Dieser Puls belebt mich, schwappt in mich hinein wie eine Welle, durchflutet meinen Körper bis in die kleinste Pore. Ich überprüfe die Position meines Koffers über der Schulter, neben meinem Hals. Ja, ich bin bereit. Obwohl es mich vor dem Moment graust, in dem er kommt und ich flüchten muss, laufen, japsend, mit kurzem Atem, umspielt ein Lächeln meinen Mund, denn eigentlich sehne ich mich danach, ist es doch das einzige, was ich habe, je werde haben können.
Noch gehe ich gemächlich, habe ich doch kein Ziel, das es sonst zu erreichen gilt. Nur für mein Entkommen brauche ich meine Kräfte. Meine Füße zittern, der Stahl wird heiß, mir rinnt der Schweiß wie sich der Strom des Pulses in stürzenden Kaskaden in meine Seele, mein Herz ergießt.

Der Zug, er nähert sich. Eine Biegung noch und er ist direkt hinter mir. Dann gilt es zu laufen, bis zur nächsten Weiche, in der er - so war es immer - die andere Route nimmt und mich weiter wandern lässt, allein.

Mit Dröhnen und gewaltiger Kraft kommt er um die Biegung geschossen. Ich wende mich nicht um, denn ich kenne sein Gesicht. Er sieht so freundlich aus. Seinen Kühler gespitzt wie Lippen zum Kuss, sein Schweinwerferauge mich fast liebevoll mit Licht umspielend, sein Fahrtwind in vertrautem Tone wispernd, mich rufend wie eine verlorene Tochter. „Bleib stehen!“, sagt er. „Hör auf zu laufen und auch ich werde stehen bleiben, und du kannst über meinen Kühler die steinerne Wand erklimmen und, bist du erst oben, einsteigen. Ich werde dich tragen, durch tiefe Täler hinauf auf die höchsten Gipfel der Berge!“ Aber ich traue ihm nicht, denn ich weiß, er will mich einholen, mich zwingen, mich ihm zu ergeben. Er will mich, doch ich will mich nicht einlassen. Ich laufe weiter, renne um mein Leben. Niemals könnte ich einsteigen, niemals, denn ich fürchte die Hitze im Innern, im Abteil des Zuges, die Landschaft, die am Fenster so schnell vorüberrauscht und mich schwindelig, benommen macht. Diese Stickigkeit, die mir die Luft zum Atmen nimmt, den Schmerz, der sich einstellt, wenn kühle Gedanken unmöglich sind, weil meine Lungen, mein Verstand nur noch flirrende Hitze füllt.

All meine Kräfte habe ich in meinen Beinen gesammelt, meinen Lebensgaranten. Laufen kann ich, denn meine Waden sind gestählt, ich bin gut trainiert. Da - ich habe es kaum bemerkt, so sehr war ich beschäftigt - schlägt mein Koffer an die Schulter und jetzt, im Lichte des Scheinwerfers, trifft er schmerzend auf die Stelle meines Halses. Für den Bruchteil von Sekunden, länger währt er nicht, länger könnte ich ihn auch nicht ertragen, denn er würde mich doch hinwegtragen, besitzen, verletzen, bekomme ich meine winzige Belohnung, diese winzige, Erinnerung.
Du sitzt an meinem Küchentisch. Ich habe nur Augen für dich, Freund, aber keine Ohren, denn ich weiß, was du sagst und ich will es nicht hören. Die Sonne scheint hinein, fängt sich in deinem Haar und lässt es rötlich sprenkeln. Du drehst den Kopf, um versonnen, eingenommen, von dem was du sagst, aus dem Fenster zu schauen. Ich schaue auf den Muskel an deinem Hals, der sich deutlich unter deinem Hemd hervorwindet und frage mich, wie es sich wohl anfühlt, ihn zu berühren an der Stelle, an der der Hals in die Schulter übergeht. Ich sehe deine schöne, schlanke Hand, die gerade noch die Linien auf meinem Tischtuch nachzog, während du von ihr, deiner Frau erzähltest, an diese Stelle wandern, als hätten meine Gedanken sie dorthin bewegt.

Ich bleibe stehen, die Weiche ist erreicht, Gevatter Zug rattert weiter, neben mir, der Puls verebbt, bricht sich in einer letzten Welle an meinem Staudamm, bis das Wasser, nur noch Kräuseln, ruhig wird. Mein Koffer wird so schwer, hat er doch seine Schuldigkeit vorerst getan. Mein Schweiß wird kalt, mich fröstelt es.
So nah und doch entronnen, so nah, aber niemals nahe genug um zu wissen, wie es ist, diese Linie an deinem Hals mit meinem Finger entlang zu fahren.

So wandere ich weiter. Lang sind die Nächte, in denen der Zug herbeieilt, mich droht, mit Wucht und Schmerz zu jagen. So lang und doch so kurz, zu kurz für diese verschwindend winzigen Augenblicke der Erfüllung.

Letzte Aktualisierung: 03.05.2007 - 14.52 Uhr
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