Nächte, die nie stattfanden von Thorsten Schöneberg
Ich hatte keinen Kummer. Ich grämte mich nicht. Niemand grämt sich mehr, ein aus der Mode kommendes Wort. Gram ist schwerer als Kummer. Es klingt mehr nach innerer Zerknirschung, Kummer und Gram entspricht in etwa dem Verhältnis von Schnupfen und Lungenentzündung. Die Franzosen kennen das Wort Chagrin. Man denkt an rotierende Messer, an Zerschneiden. Das ist auch lautmalerisch perfekt.
Aber ich hatte keinen Gram, nicht einmal Kummer. Dr. Rehberg hatte mich ernst angeschaut und mir gesagt, warum mein Arm taub wurde und meine Zunge wie ein Tischtennisball im Mund lag, wo sie aus jedem Wort ein interessant dahingelalltes Klanggebilde formte. An manchen Tagen konnte ich nur auf dem Niveau eines Zweijährigen sprechen: Willa balla piela putt. Die Tragödie zwischen Wunsch und Wirklichkeit mit rudimentären sprachlichen Mitteln ausgedrückt.
Als ich den Namen meiner Krankheit googelte, wurden mir Horrorszenarien entworfen. Ich versuchte, mir mich selbst vorzustellen: Markus Haberecht als zu einer Statue erstarrtes Bündel, irgendwo herumliegend und darauf hoffend, dass mir jemand da den Kopf kratzt, wo er juckt. Alles andere war wie ein automatisch ablaufendes Programm. Der Brief an Wolfram, mit dem ich Tisch und Bett teilen wollte, aber nicht Pflegebett, der Entschluss, mit dem Zug aus diesem Leben wegzufahren. Die Mail ans Büro: Ich komme nicht mehr zur Arbeit. M. Haberecht.
Ich hatte ein paar lange Nächte nicht mehr geschlafen. Das lag nicht daran, dass Wolfram neben mir schnarchte. Ich sagte ihm in Gedanken tausendmal, was los war. Aber niemals, wenn er wach war.
Der Zug erreichte Braunschweig. Nicht mehr weit bis zur ehemaligen Grenze. Mein Vater hörte früher vor Helmstedt auf zu sprechen und fing erst wieder auf der Autobahn Richtung Magdeburg damit an. Ich hatte mein Abteil für mich allein. Das Licht hatte ich ausgemacht. Ich liebe es, aus dem fahrenden Zug heraus ins Dunkel zu schauen, aus dem dann und wann beleuchtete Städte auftauchen. Am malerisc ...
Liebe Leserin, lieber Leser,
diese Geschichte gehört zu den Siegergeschichten und erscheint in unserer Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print. Wir bitten Sie um Verständnis, dass wir uns nicht selbst Konkurrenz machen möchten, indem wir die Geschichte ebenfalls hier komplett veröffentlichen.
Vielen Dank!
Andreas Schröter
Letzte Aktualisierung: 31.05.2007 - 22.04 Uhr Dieser Text enthält 9500 Zeichen.