Futter für die Bestie
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Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
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Mai 2007
Nietzsche und der Bachelor
von Michael Rapp


B. lief nicht, er stürmte, so schnell seine untrainierte Form und die schwere Büchertasche es zuließen. Heim, nur heim an die Arbeit, drehten sich seine Gedanken fiebrig im Kreis. In seiner Wohnung angekommen, startete er gleich den Computer in der Arbeitsecke. Während der bootete, sortierte er die Literatur und seine Notizen. In diesem kurzen Zeitraum zwischen Weg und Arbeit kamen ihm einmal mehr die Worte seines Betreuers zu Bewusstsein. „Kommen Sie endlich zu einem Ende. Der 22. Mai ist der definitiv letzte Abgabetermin, danach wird die Sache für Sie schwierig.“ Der Professor hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass dies Bs. einzige Chance war, seine Bachelorarbeit noch ordnungsgemäß einzureichen. Eine weitere Fristverlängerung würde es für ihn nicht geben. Zwar konnte sich B. nicht vorstellen, dass eine kleine Verzögerung tatsächlich sein Durchfallen bedeuten würde, er wollte es aber nicht darauf ankommen lassen. Immerhin blieben ihm noch dreieinhalb Tage und sein Text war fast fertig. „Individuelle Freiheit in der Philosophie von Friedrich Nietzsche“ war vielleicht nicht gerade ein Glanzstück geisteswissenschaftlicher Forschung, aber doch eine solide Prüfungsarbeit, fand er.
Es war früher Nachmittag, eine viel zu warme Frühlingssonne schien durch das Fenster. Er ließ den Rollladen herunter, bis nur noch abgehackte Lichtstreifen den Raum dämmrig erhellten. Nichts sollte ihn beim Schreiben stören. Alles was er an zusätzlichem Licht benötigte, lieferte der TFT-Monitor vor ihm. Als eine letzte Vorbereitung änderte B. das Hintergrundbild mit dem sommersprossigen Gesicht seiner Freundin in ein einfarbiges, erfrischendes Blau. Abwenden und Hinwenden, zwei Seiten einer Medaille , dachte er
Als er nach Stunden zum ersten Mal wieder auf die Zeit achtete, war es bereits nach dreiundzwanzig Uhr. Doch nur für einen Augenblick war da das Gefühl von Stolz, so lange ohne Ablenkung gearbeitet zu haben. Ein Schatten der Angst berührte seinen müden Geist und ließ ihm den Schweiß aus allen Poren brechen. Die kleinen schwarzen Ziffern in der Ecke seines Bildschirmes zeigten ihm deutlich, dass er noch weiter von seinem Ziel entfernt war, als er gehofft hatte. Eigentlich hatte er nur zwei Abschnitte des letzten Kapitels ergänzen wollen, eine Arbeit, für die er höchstens zwei bis drei Stunden angesetzt hatte. Nun waren fast neun Stunden vergangen und er war mit dem Geschriebenen immer noch nicht zufrieden.
Er stand auf, streckte seine steifen Glieder und ging zur Toilette. Während er auf der Brille saß, sah er zu seiner Zahnbürste hinüber. Sollte er es für heute gut sein lassen? Er konnte Schlaf brauchen. „Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal eingeschlagenen Weg, aber nur wenige in Bezug auf das Ziel“, zitierte er entschlossen.
Er gönnte sich nur eine kurze Pause: setzte Kaffee auf, aß hastig eine Schüssel Cornflakes. Mit gefülltem Magen und einer vollen Kanne machte sich B. wieder ans Werk. Und als der Morgen dämmerte, war er endlich mit dem Kapitel zufrieden.
Sogar seine Müdigkeit war verflogen. Die angespannte Konzentration hatte vollständig Besitz von ihm ergriffen. Er spürte zwar, das da eine Erschöpfung in ihm war, diese wurde aber durch das hitzige Wachgefühl seines auf Hochtouren arbeitenden Körpers überdeckt.
Nach der erfolgreichen Nacht gab es für ihn nicht mehr viel zu tun. Er plante die vierundsiebzig Seiten nur noch einmal durchzusehen, um letzte Korrekturen vorzunehmen. Bereits am Nachmittag des folgenden Tages würde sein gebundenes Werk im Prüfungsamt auf dem Schreibtisch liegen. Er würde dann alle Zeit der Welt haben, sich auszuruhen.
Das Lesen am Bildschirm war nicht sehr angenehm. Schon nach wenigen Sätzen bemerkte er, dass seine angestrengten Augen nur schwer das Licht des Displays ertragen konnte. Papier ist ohnehin besser, es trägt die Wörter fester, höher - irgendwie eleganter , dachte er und ließ die Arbeit durch seinen Tintenstrahldrucker laufen. Die Zeit des Wartens vertrieb er sich damit, das Summen und Rattern des Gerätes zu imitieren.
Erst leise, dann laut, las er sich den Text vor. Er kam kaum vier Zeilen weit, dann stockte der Lesefluss. „Nietzsches Werk wird häufig im Kontext...“ Da stimmte etwas nicht, die Einleitung war zu forsch - überhaupt zu allgemein gehalten. Er nahm einen Stift, schrieb eine längere Notiz an den Textrand und fuhr dann mit dem Lesen fort. Er würde solche Kleinigkeiten später korrigieren. Doch schon wenige Sätze später fand er erneut etwas und dann wieder und wieder. Allmählich bekam sein Gesicht die Farbe von halbreifen Tomaten. Kalter Schweiß überflutete seine Stirn und sein T-Shirt. Auch in der nächsten Nacht, würde er sich wohl keinen Schlaf gönnen. Tatsächlich dauerte es den ganzen Tag und die folgende Nacht bis fast zum Sonnenaufgang, den Text durchzugehen und ihn so weit zu korrigieren, dass B. zufrieden war.
Schlaflose Unruhe trug ihn früh am Morgen in einen Supermarkt, wo er sich mit belegten Brötchen, eindeckte. Während er noch bezahlte, wurde er sich etwas bewusst: Im dritten Kapitel, ungefähr auf Seite zweiundfünfzig gab es einen logischen Fehler in der Argumentation. Er hatte diese Stelle bestimmt schon ein Dutzend Mal gelesen, aber erst in diesem Moment fiel ihm seine unglückliche Formulierung auf. Für einen Augenblick stand sein Atem still. Ein Gewicht hatte sich auf seine Lunge gewälzt - langsam begannen seine Glieder steif und kalt zu werden. Doch sein heißer Wille erwachte, nahm die bittere Erkenntnis als gegeben auf und trieb ihn vorwärts - heraus aus der Starre und dem Markt.
Er stürzte in seine Wohnung, warf die Einkäufe auf den Küchentisch und machte sich sofort an die Korrektur des Textes. Den Stil verbessern, das heißt den Gedanken verbessern, zitierte er still. Und fügte an: Nur eine Kleinigkeit – nur ein kleiner Fehler – das geht ganz schnell.
B. glaubte endlich beim „definitiv letzten“ Durchlesen seiner Arbeit zu sein, als er feststellte, dass er immer noch mit kaum einer Seite völlig zufrieden war. Seine Verzweiflung: Zum ersten Mal seit der Mittelstufe schoss ihm das Wasser in die Augen. Zuletzt hatte das die blonde Susannah geschafft, als sie in der Siebten mit ihm Schluss gemacht hatte. Die hatte heute sicher schon ein Diplom in der Tasche. Doch es gab keine Zeit für Selbstmitleid. Was mich nicht umbringt... Er ließ den Gedanken unvollendet, vielleicht würde es ihn ja umbringen.
In dieser Nacht hielt er es nicht mehr aus. Er musste raus aus der Wohnung, einfach etwas anderes tun und seinen Verstand abkühlen lassen, der sich wie eine ungebremste Kernreaktion immer weiter in Richtung eines kritischen Zustandes bewegte. Warum sein Ziel ausgerechnet eine Autobahnraststätte war, wusste er selbst nicht. Das Fahren war riskant: Die Lichtstreifen der Fahrbahnbegrenzung zogen ihn an. Dennoch genoss er den Ausflug. Selbst das Flair der katastrophal geführten Fernfahrerkneipe gefiel ihm, auch wenn er das Essen nicht anrühren konnte. Er ließ es sich einpacken und wanderte dann über den weitläufigen Parkplatz. An der von der Autobahn abgewandten Seite gab es einen ruhigen, dunklen Abschnitt. Hier verharrte er und atmete durch. Einem Impuls folgend, öffnete er die Schale mit dem ungenießbaren Essen. Warum die Schnitzel für Fernfahrer immer so fest gebraten sein mussten, dass man mit ihnen Holzscheite spalten könnte, war ihm unverständlich. Er holte weit aus und schleuderte das steifpanierte Stück Schwein die Böschung hinunter. Es verschwand still im Dunkel zwischen den Bäumen. „Blickst du zu lange in einen Abgrund, blickt der Abgrund irgendwann in dich“, zitierte er und musste schmunzeln. Diese Weisheit ließ sich auch auf Raststättenfraß anwenden.
Der folgende Tag verlief in geschäftiger Agonie. Die Stunden flogen an ihm vorbei wie Schatten vor der Dunkelheit. Am späten Abend aber lag seine Arbeit fertig auf seinem Schreibtisch.
Endlich suchte er Ruhe, ließ sich in die weiche Matratze seines Bettes sinken - doch er hatte das Schlafen wohl verlernt. Statt erfrischender Besinnungslosigkeit fand er nur Schattenspiele: Schatten an der Decke, den Wänden und an ihm. Ein Schatten streichelte ihn. Alles war irgendwie blau. Später heulte draußen eine Sirene auf - ein Krankenwagen rauschte vorbei, drehte eine weite Runde, bis er sein entferntes Ziel fand. Ein Vogel schrie – Stille -, wütendes Hupen, Flaschenklirren, dann – irgendwann - Fluchen. B. lag bewegungslos mit weit aufgerissenen Augen und lauschte den Schreckenslauten, die wie dunkle Wellen gegen die Windungen seines überreizten Gehirns schlugen. Sein Geist malte dazu Bilder von seltsamen Vorhöllen.
Wie er es am nächsten Morgen schaffte, sich aufzurichten und die Bachelorarbeit in einem Copy-Shop ausdrucken und binden zu lassen? Tatsache ist: Er tat es. Und als er auf dem Rückweg in der U-Bahn saß, den Beleg für seine Leistung fest umklammert, lernte er auch wieder das Schlafen.

Wochen später saß B. bei einer Nachbesprechung.
„Die Arbeit ist nicht grundsätzlich schlecht.“ Der Professor lächelte, als sei ihm ein Witz eingefallen. „Allerdings sind einige der Randbemerkungen etwas gewöhnungsbedürftig.“ Er hielt B. den aufgeschlagenen Text hin. Der letzte Satz einer Fußnote war unterstrichen.
B. las: Nietzsche ist tot, küsste das Rot, für ihn nie mehr Abendbrot. Alles alle - ich auch. Morgen nicht vergessen: Red Bull kaufen.

Letzte Aktualisierung: 17.05.2007 - 19.55 Uhr
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