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Mai 2007
Erwachen
von Klaus Lütkenhorst


Fünfzehn verdammte Jahre! Fünfzehn lange Jahre hatte er verpasst – mehr als Fünftausend Tage. Peter Connors konnte nur mit Mühe seine Wut unterdrücken. Das alles war zuviel für ihn. Sein Puls begann zu steigen. Sein Blutdruck ließ den Monitor schrille Alarmsignale ins Schwesternzimmer senden. Connors fühlte wie seine Brust immer enger wurde. Der Blick seiner Augen ... er hatte das Gefühl, in einen sich unaufhaltsamen verengenden Schacht zu stürzen. Nur noch am Rande bekam er mit, dass um sein Bett nebulöse Gestalten einen merkwürdigen Tanz zelebrierten. Dann war nur noch Dunkelheit. Wieder einmal.

»Mister Connors! ... Herr Connors ... hören Sie mich?«
Mühsam versuchte er seine Augen zu öffnen. Vor Anstrengung bildeten sich Schweißtropfen auf seiner Stirn. Er spürte die feuchte Berührung eines Waschlappens im Gesicht. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als bestünde er nur aus einer weichen nutzlosen Masse. Einer amöbenhaften Ansammlung von Muskeln und Nervenfasern, über die er die Kontrolle verloren hatte.
»Herr Connors ... können Sie mich verstehen?«
Mit einer gewaltigen Anstrengung hob er die Augenlider ... um sie im gleichen Moment aufstöhnend zu schließen. Beim zweiten ... oder war es schon der zwanzigste Versuch? Connors schüttelte seinen Kopf. Zumindest in Gedanken. Beim nächsten Mal war er vorsichtiger, öffnete seine Lider nur einen Spaltbreit. Die ungewohnt gleißende Helligkeit des Raumes ließ ihn blinzeln, schmerzte in seinen Augen.
Mühsam versuchte Connors ein Nicken. Zumindest dachte er das. Aber sein Kopf machte daraus nur ein unkontrolliertes Zucken. Sein Mund öffnete sich. Mühevoll versuchte er Herrschaft über seine Gesichtsmuskeln zu bekommen, versuchte ein Wort zu formen. Aber nicht nur seine Gliedmaßen waren vom Zahn der Zeit mit Rost überzogen worden – auch wenn sie in den letzten 14 Jahren, elf Monate, 19 Tagen und ca. 12 Stunden zumindest alle zwei bis vier Tage in den Genuss einer physiotherapeutischen Gymnastikstunde gekommen waren. Doch seine Gesichtsmuskeln und Stimmbändern waren über Fünftausend lange Tage und Nächte nicht mehr benutzt worden. Und so kam bei seinem ersten Versuch nur ein mühsames Krächzen zustande.
»Wawwaa«, kam es heiser über seine Lippen.
Während seine Augen sich langsam an die Helligkeit im Zimmer gewöhnten, griff eine der anwesenden Schwestern nach einer Schnabeltasse. Connors spürte, wie sich etwas Hartes zwischen seine Lippen drängte. Automatisch begann er zu saugen. Kühles Nass verwandelte den trockenen Putzlappen in seinem Mund, nach und nach in ein bewegliches Etwas. Mit jedem Schluck füllte sich sein Körper mit frischer Energie. Zum ersten Mal seit über Vierzehn Jahren trank und schluckte Peter Connors selbständig.
»Dannge«, murmelte er heiser, als die Schwester den leeren Becher zurückstellte.
***
»... Herr Connors!«, Schwester Bettys Stimme hatte einen leicht tadelnden Ton angenommen. »Herr Connors ... Sie müssen sich schon etwas anstrengen.«
»Was denn jetzt?«, fauchte Connors mit hochrotem Gesicht zurück. Er hatte schon einen Ausbruch hinter sich. Nicht nur einmal. Sein ganzes Gebaren, sein ganzer Ausdruck glich dem Mount St. Helens kurz vor dessen Explosion. »Anstrengen oder Geduld haben? ... Sie sollten sich mal für eine Sache entscheiden.«
Mit zusammengebissenen Zähnen stemmte er sich erneut an den beiden Stützbarren des Laufgangs empor, versuchte zum wiederholten Mal die paar Schritte bis zum Ende zu gehen. Seit gut zwei Wochen weilte er wieder unter den Lebenden. Alles hatte er nach dieser unglaublich langen Nacht neu erlernen müssen. Langsam bekam er wieder Kontrolle über seine Muskeln, Nerven und Sehnen. Das Laufen war bei weitem das Schwerste. Im Schwimmbecken ging es ganz gut. Da fühlte er sich so leicht und freischwebend. Fast hatte er dabei das Gefühl wieder in einen komatösen Zustand zu fallen – nur diesmal bei vollem Bewusstsein.
***
Vor fünf Tagen hatte ihn Inspektor McHanlean besucht, sie hatte damals im Mai ’92 ... er konnte es immer noch nicht so richtig begreifen. Gut ein Drittel seines Lebens hatte er einfach verschlafen. Das hier war nicht seine Welt. Er fühlte sich einfach nicht dazugehörig. Wie von einem anderen Planeten. Das war auch nicht sein Leben. ... McHanlean hatte als junge Kommissarin seinen Fall bearbeitet. Von ihr hatte er alles erfahren, was in den letzten Zehn Tagen vor dem Ereignis geschehen war.
Fünfzehnter Mai – vier Tage zuvor war er in LA eingetroffen. Immer wieder hatte er sich den Kopf zermartert. Nichts. Da war nur Leere. Alles, was an diesem besagten 15. Mai 1992 geschehen war, die ganze Woche, und auch die Woche davor, lagen im Dunkeln. Los Angeles Riots ... das letze an was er sich erinnern konnte wahren die Unruhen Ende April/Anfang Mai in LA gewesen, wegen der Geschichte mit Rodney King. Carole-Anne und er hatten noch darüber gesprochen. Waren froh gewesen, dass er in den kommenden Tagen nicht nach Kalifornien mußte. Und dann war er einige Tage später doch hier gelandet ... und er wusste nicht warum.
Klar kannte er inzwischen die Fakten – aber er hatte keine Erinnerung. Offenbar hatte es einen Streit mit Carole-Anne gegeben; woraufhin er wohl voller Wut und Enttäuschung einen Auftrag in Los Angeles angenommen hatte. All das wusste er inzwischen, nur – er hatte keine Erinnerung, und er hatte auch keine Ahnung, warum sie sich gestritten hatten. Er erinnerte sich an alles was gut zehn Tage vor dem Blackout gewesen war. Was hatte der Doktor gesagt: ‚partielle retrograde Anamese ... ne Amnesie‘, was immer das auch bedeuten sollte. Der Doc hatte es ihm wohl auch erklärt, aber die Worte waren nur auf dumpfe Wattebällchen gestoßen, welche sein Gehirn bevölkerten. Er hatte einfach nicht zugehört. Wollte nicht zuhören.
Für ihn war seine Vergangenheit erst zehn Tage alt. Alles war noch so frisch. Bis vor gut einer Woche war sein Leben noch in Ordnung gewesen. Hatte er zumindest gedacht. Hatte mit seiner fast dreijährigen Tochter gespielt, sich mit einem Kuss von seiner Frau verabschiedet und war in die Firma gefahren. Die nächsten vierzehn Tage hatte er nur Innendienst. Endlich mal wieder Zeit für die Familie. Und dann ... BAMM! Nach Zeugenaussagen hatte es am Abend des 15. Mais im Appartement 17 des Super-8-Motels, Ecke Airport Boulevard/West 93 Street eine lautstarke Auseinandersetzung gegeben. Die alarmierte Polizei hatte seinen bewußtlosen Körper inmitten eines von Kampfspuren gezeichneten Zimmers gefunden. Das waren die Fakten. Aber was, warum und wer – weder die Polizei, noch er konnten etwas dazu sagen.
***
Das alles gehörte der Vergangenheit an. Das ging irgendwie nicht in seinen Schädel. Connors blickte zum wiederholten Male in den Spiegel. Er konnte sich immer noch nicht an den Anblick gewöhnen. Noch vor einigen Tagen hat ihn ein sportlicher 33jähriger mit vollem braunen kurzgeschorrenen Haaren entgegen geblickt. Aber jetzt ... innerhalb einer einzigen langen Nacht war er um Fünftausendvierhundertvierundsechzig Tage gealtert. Beim ersten Mal hatte ihn noch ein verhärmter, ausgemergelter fast 50jähriger Mensch angestarrt, dessen lange schlohweiße, strähnige Haaren feucht an einem totenkopfähnlichen Schädel klebten. Erst nach einigen Minuten war im klar geworden, dass es sich bei dem Gesicht um sein eigenes handelte.
Inzwischen waren einige Tage vergangen. Weiß waren die Haare immer noch, aber mittlerweile frisiert, und sein Gesicht bekam langsam Farbe und Kontur. Die Ärzte meinten, dass käme von dem Schlag auf dem Kopf. Schädelbasisbruch. Er konnte von Glück reden, dass es so glimpflich ausgegangen war, hatten sie gesagt.
Seinen Welt war nicht mehr in Ordnung. Er hatte alles verloren. Seine Arbeit. Seine Zukunft. Seine Familie. Sein Leben. Connors schüttelte den Kopf. Wollte die düsteren Gedanken verdrängen. Wollte sich auf den nächsten Schritt konzentrieren. Doch wofür? Seit vierzehn Tagen befand er wieder unter den Lebenden – auch wenn er sich eher tot als lebendig fühlte. Aber außer McHanlean und so’n Sesselpupser von der Versicherung hatte ihn niemand von Außerhalb besucht. Keiner seiner Bekannten und Freunde aus der ach so kurzen alten Vergangenheit war hier gewesen. Und was schlimmer war: Auch Carole-Anne und Talisha, hatten sich noch nicht gemeldet.
***
Ein Klopfen an der Türe riss ihn aus seinen Gedanken. Seifenblasen welche mal wieder konfus durch Vergangenheit und Gegenwart stolperten. Wenig interessiert drehte er den Kopf zur Seite. Zwei Frauen betraten das Zimmer. Erwartungsvoll blickte er Inspektor McHanlean entgegen. Hatte sie Neuigkeiten für ihn? Hatte sie etwas über seinen Familie? Über seinen Frau? Über seine kleine Tochter?
Sein Blick streifte flüchtig über die junge Frau an McHanleans Seite. Kehrte zurück zur Inspektorin. Etwas klickte in seinem Hirn – oder war es sein Herz. Fast magisch wurde seine Aufmerksamkeit zurück auf die junge Frau – nein das junge Mädchen gelenkt. Connors spürte das Rauschen des Blutes in seinen Adern. Nein ... das konnte nicht sein. Alles in ihm geriet in Wallung. Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten. Sein Blick verschleierte sich, wurde unklar. Und doch sah er es mit aller Deutlichkeit. Es war mit leuchtenden, roten Neonbuchstaben inmitten des Raumes projiziert. Das war sie. Das war ... Dunkelheit umfing ihn. In einer kaleidoskopartigen Slowmotion sah er seine Kleine aufwachsen. Sah ihre Verwandlung von einer tapsigen Dreijährigen, welche es liebte ihren Vater an seinem Bart zu ziehen, zu einer jungen Frau an der Schwelle zur Erwachsenen. Sah sie an ihren ersten Schultag, ihren ersten Liebeskummer als Teenager.
»Herr Connors?« McHanleans Stimme riss ihn aus seiner inneren Dunkelheit. Sein Blick klärte sich. Konzentrierte sich auf das Mädchen an ihrer Seite.
»Darf ich vorstellen ...«, Maud McHanlean deutete auf die junge Frau neben ihr, »das ist ...«
»... meine Tochter Talisha«, vervollständigte er ihren Satz. Vergangenheit und Gegenwart waren gerade dabei den ersten zaghaften Schritt in eine gemeinsame Zukunft zu machen.

© Klaus Lütkenhorst 05/2007

Letzte Aktualisierung: 25.05.2007 - 13.14 Uhr
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