Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Juni 2007
Verlassen
von Claudia Göpel


Wie lange sitze ich schon hier? Ich versuche die Augen zu öffnen, es geht nicht. Irgendetwas hindert meine Lider daran. Vielleicht bin ich auch nur müde, so müde. Jeder muss mal schlafen. Sogar in dieser unbequemen Lage.
Meine Nase juckt, ich kann sie nicht kratzen, die Hände haben keine Kraft, sind ganz taub. Nein, sie sind nicht nur taub, sie sind festgebunden. An den Armlehnen des alten modrigen Sessels. Jetzt weiß ich wieder, wieso ich munter geworden bin: Ich muss mal pinkeln, ganz dringend. So wie das letzte Mal. Auf mein Rufen hörte niemand. Ich fürchte mich davor, spüre das klamme Polster unter mir. Es ist längst noch nicht getrocknet, fühlt sich kalt an, wie mein Hintern, der, obwohl ich versuche hin und her zu rutschen, feucht ist und kribbelt. Noch etwas länger und er wird wund. Wie bei den Alten, die sich nicht mehr selbst bewegen können. Ich reibe meine Nase an der Schulter um den Juckreiz zu lindern, versuche, durch die Bewegung die Augenbinde zu lockern. Es gelingt, aber es bleibt dunkel. Ich möchte aufstampfen vor Wut, doch auch meine Füße sind fixiert. Das Leder scheuert durch die Hose hindurch an meinen Knöcheln, ich spüre das harte Holz des Sesselbeins an der linken Ferse. Hier habe ich durch vorheriges Zerren und Ziehen den Turnschuh ausgehebelt, bekomme ihn natürlich nicht wieder an. Der eigentlich weich gepolsterte Schaft drückt auf die Fußsohle. Ich versuche durch Bewegungen den Schuh ganz von meinem Fuß zu lösen, erreiche aber nur ein unkontrolliertes Zucken des gesamten Beines. Das Vibrieren überträgt sich auf den Unterleib. Meine Blase ist zum Platzen gefüllt. Wovon nur? Die Zunge klebt am Gaumen, laut schluchze ich und es klingt wie das Krächzen einer Krähe. Ein Laut, welcher nicht nach draußen gelangt. Die Luft riecht kalt und feucht und auf meine Rufe reagierte bislang niemand. Ich scheine in einem Keller gefangen oder einer Höhle, keiner kann mich hören.
Wann war er zuletzt hier? Mein Wärter. Gestern, vorgestern? Vor wenigen Stunden? Um sich zu weiden an dem Anblick, wie ich mich besudelt habe? Entsetzt versuche ich mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich etwas anderes müsste. Aber das ist nicht der Fall, ich muss lediglich pinkeln. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr denken, presse die Beine zusammen, versuche den Drang wegzuhecheln, wie ich es einmal in einem Dokumentarfilm über eine Geburt gesehen habe. Aber dadurch wird mein Mund nur noch trockener. Ich weiß nicht, wie es ist, Wehen zu haben. Ich hoffe, ich erfahre es irgendwann.
Schließlich erschlaffen meine Muskeln. Die Erleichterung ergießt sich warm zwischen meine Schenkel. Ein wahrer Sturzbach. Ich beginne zu weinen. Mit der Zunge versuche ich, das salzige Nass aufzufangen, das durch den durchweichten Stoff rinnt.

Ich hatte auch geweint, als ich aus der Praxis kam. Vor Glück. Der Test war positiv. Jetzt würde er seine Frau verlassen müssen. Jetzt, wo er Vater wurde. Keine Ausreden mehr.
Dann hielt sein Auto neben mir. Er stieg aus, öffnete mir lächelnd die Tür – und ab diesem Zeitpunkt ist meine Erinnerung nur noch Nebel. Was war passiert?
Als ich zu mir kam, saß ich gefesselt auf diesem Sessel, Dunkelheit umgab mich. Mein Wärter sprach kein Wort mit mir. Gab mir zu trinken und ging wieder. War er es? Ich konnte es nicht glauben. Es musste ein Irrtum vorliegen. Ein verdammter Irrtum!

Ein Geräusch lässt mich aufhorchen. Ein Rascheln, Schaben. Wieder reibe ich meinen Kopf an der Schulter, um die Augenbinde zu lösen. Es bleibt dunkel. Was ist das für ein Geräusch? Mäuse, Ratten? Bitte keine Ratten! Ich reiße an meinen Fesseln, bis Blut kommt. Ich kann es riechen. Weg, weg mit euch!!! Kusch… Kuschhhhhhhhh…

Am Morgen des 15. Juni wurde die seit einer Woche vermisste Miriam P. aus dem Keller eines verlassenen Hauses in der Gagarinstraße befreit. Sie wurde von den Beamten ohne Bewusstsein aufgefunden, war stark dehydriert, Hände und Füße wiesen Verletzungen von Rattenbissen auf. Sie befindet sich im Waldkrankenhaus und ist noch nicht vernehmungsfähig. Die Ärzte kämpften außerdem vergeblich um das noch ungeborene Kind. Frau P. war im vierten Monat schwanger.
Der der Tat verdächtige Stefan S. hatte am Abend des 12. Juni einen schweren Verkehrsunfall und erlag noch in derselben Nacht seinen Verletzungen.
Den entscheidenden Hinweis zum Aufenthaltsort der Entführten lieferte seltsamerweise die Ehefrau des Herrn S. Sie wird derzeit noch vernommen.



© Claudia Göpel
21.06.2006

Letzte Aktualisierung: 25.06.2007 - 07.58 Uhr
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