Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Juni 2007
Die Wohnungen des Herrn Kraut
von Jasmin Seidl

An diesem Morgen saß Herr Kraut im Auto. Und er saß im Stau.
‚Vielleicht hätte ich mit der U-Bahn fahren sollen’, schoss es ihm ab und zu durch den Kopf, doch dann war wieder ganz klar, dass er sein brandneues, metallic-blaues Cabriolet nicht einfach vor dem Haus hätte stehen lassen können. Oder lassen wollen. Nicht in dieser Gegend und nicht heute.
Herr Kraut befand sich auf dem Weg zu einer Wohnungsbesichtigung und wäre es nicht so wichtig gewesen, dass er dort erschien, hätte er den Termin absagen können, ach, aber selbst das ging ja nicht: Er hatte es versäumt, sich die Telefonnummer der jungen Frau aufzuschreiben.
‚Warum hat sie aber auch zu einem so unpassenden Zeitpunkt angerufen’, dachte Herr Kraut jetzt verärgert und schlug wütend auf das Lenkrad ein, weil sich ein kleiner rostiger Ford vor ihm in die Schlange geschoben hatte. Dass zu dieser frühen Stunde aber auch so viele Leute unterwegs sein mussten!
Früh war es eigentlich nicht mehr, etwa zehn Uhr dreißig, aber das merkte Herr Kraut nicht. Er hatte am Vorabend heftig gefeiert und sich später in seiner Wohnung mit zwei Mädels amüsiert. Mitten in seine schwelgerischen Ausführungen, was das metallic-blaue Cabriolet betraf, hinein und eben als die brünette Anne ihre Nylonstrümpfe abstreifte, hatte das Handy geklingelt.
Herr Kraut wechselte unter dem prompten Gehupe der Nebenfahrer die Fahrbahn und warf einen Blick zum Himmel, nachdem er sich vollständig eingereiht hatte. Weiter vorn schoben sich hellgraue Wolkenbänder über das strahlende Blau des Morgens und obwohl das kaum jemandem bedrohlich vorgekommen wäre, hielt Herr Kraut die Luft an. Was für ein Start: Stau, verspätet zur Wohnungsbesichtigung und jetzt bahnte sich auch noch Regen an; er musste das Verdeck ausfahren! Resigniert sankt Herr Kraut tiefer in den Sitz.
Was hätte er auf die Schnelle sagen sollen? Die junge Frau hatte mit ruhiger Stimme gesprochen, sanft und bestimmt zugleich um diesen Termin gebeten. Er erinnerte sich wieder daran, wie ihn das kurze Telefonat für einen Moment hatte innehalten lassen: Für wenige Sekunden war er ganz still geworden, so als müsse er auf ein weit entferntes Geräusch lauschen, das es zu identifizieren galt.
Herr Kraut dachte an die Wohnungen, die er schon seit Wochen in den zahlreichen Zeitungen der Stadt anbot, und auch an die eine im obersten Stockwerk. Seine Hände hielten das Lenkrad fester.
‚Die werde ich nicht hergeben’, dachte er feixend und trat energisch aufs Gaspedal. Eine Lücke war freigeworden und er überholte den langsamen LKW mit Genugtuung im Blick.
Vier Wohnungen hatte er bis jetzt einbehalten und sich die verschiedenen Domizile über die Jahre so eingerichtet, dass sie ihm in jeder Gemütslage entsprachen und behagten. Da war die sporadische Wohnung im Szenegebiet, aus der er eben kam; dann das durchgestylte Designer-Loft, das er für seine geschäftlichen Tätigkeiten aufsuchte. Meistens wohnte er in einer weiträumigen Altbauwohnung im älteren Teil der Stadt und dann war da noch die kleine Dachwohnung mit den weit blickenden Fensterfronten, in die er sich erschreckend häufig zurückgezogen hatte in letzter Zeit.
Als Herr Kraut in die Strasse einbog, in der die Wohnungsbesichtigung stattfinden sollte, fielen die ersten Regentropfen auf die Frontschutzscheibe.
‚Na bitte’, dachte er erregt, und seine Haltung verspannte sich wieder, ‚genau wie ich gesagt habe.’
Er zuckelte die lange, kopfsteinbepflasterte Strasse hinunter und merkte, dass seine Gedanken wieder zu der Dachwohnung zurückwanderten.
‚Wie das nur kommt’, dachte Herr Kraut melancholisch, ‚dass sich Wolkenbänder vor das Himmelblau schieben und im Nu ist die ganze Welt verändert. Wie das nur kommt, dass Gedankenschlieren durch einen perfekten Moment ziehen und schon ist alles, was ich will ein kleines, sicheres Nest, in dem ich mich verkriechen und warten kann bis Angst und Unruhe und Zweifel sich ausgeregnet haben.’
Er seufzte und hielt im selben Augenblick den Wagen an. Mit mühsamen Bewegungen zog er den Schlüssel aus dem Zündschloss und schnallte sich ab. Wäre es nicht ein kluger Schachzug, wenn er sich ein Trittbrett einbaute? Diese neue Wohnung könnte eine Vorstufe sein zu jenem Ort seiner Schmach und verzweifelten Stunden, ein Sprungbrett, von dem aus er einen Spicker zurück in die umtriebige Welt der Szenegegend wagen konnte, ohne sich erst aus dem Nest seiner Unsicherheiten schälen zu müssen, die er mit der Sicht über die Stadt kurierte, die dort, unter dem Dach, zu seinen Füßen lag. Seit einiger Zeit hatten sich derartige Überlegungen zu einem Plan versponnen und Herr Kraut konnte es kaum erwarten, die Wohnung jetzt wieder aufzusuchen.
Ein Blick auf die Uhr ließ ihn zur Besinnung kommen. Fünfundvierzig Minuten Verspätung! Die junge Frau würde ihm den Kopf abreißen – ‚wenn sie überhaupt noch da ist’, dachte er bestürzt.
Hastig stieg er aus und überquerte die Strasse mit schnellen Schritten. Zuerst glaubte er, sie sei wieder gegangen, doch dann löste sich eine kleine Gestalt von der Hauswand und trat ihm zögernd ein paar Schritte entgegen. Als er sie erreichte, hielt er der jungen Frau seine Hand entgegen. Sein Arm fühlte sich dabei steif an.
„Hallo, guten Tag, da bin ich endlich! Entschuldigen Sie, dass ich so spät eintreffe, aber der Verkehr in dieser Stadt… Sie wissen ja, wie das ist!“ Ohne große Anstrengung gelang ihm sein charmantestes Lächeln – wer konnte ihm da schon böse sein?
„Nein, ich weiß nicht, wie das ist. Ich gehe immer zu Fuß.“ Das war alles was sie sagte. Oder hatte er etwas überhört?
Schlagartig schwand das Grinsen von seinen Lippen und er wandte sich hastig der Haustür zu.
„Na, dann wollen wir mal!“
Mit dem dritten Schlüssel gelang es Herrn Kraut endlich, die Tür aufzuschließen und er bat die junge Frau, ihm zu folgen.
‚Wie ernsthaft ihr Gesicht ist’, dachte er, ‚und doch wirkt es nicht streng. Eher würdevoll oder demütig, oder ist es Weisheit?’ Gedankenverloren stieg er die ersten Stufen empor und dann fiel ihm plötzlich ein, dass er vergessen hatte zu fragen, welche Wohnung sie besichtigen wollte.
„Die im zweiten Stock oder… die ganz oben?“
„Ganz oben, bitte“, entgegnete sie schlicht.
Es war, als fiele eine Hülle von Herrn Kraut ab.
In der Wohnung angekommen, überließ er die junge Frau sich selbst, „Schauen Sie sich in Ruhe um, lassen Sie sich Zeit!“ und zog sich in das kleinste Zimmer zurück, dessen Ausblick er genoss. Seltsamerweise überraschte ihn sein spontaner Entschluss, sie
hierher zu führen, nur wenig. Es war einfach passiert und wieso sollte er sich immer alles kontrollieren und seinen Interessen entsprechend zurechtbiegen?
Von seinem Posten am Fenster aus horchte er auf die Schritte, die langsam von Zimmer zu Zimmer gingen. Wie still es hier war. Kein Verkehrslärm, kein Geschrei, kein einziges Stadtgeräusch drang herein. So stark wie heute war ihm das noch nie aufgefallen. Herr Kraut stützte sich auf das Fenstersims und schaute über die Dächer bis hin zum Horizont.
‚Ist dieser Ort heute so still, weil ich höre, wie jemanden darin herumgeht?’ Aber das ergab keinen Sinn. Weite lag in der Einsamkeit, das war völlig klar. Wieso kam ihm dann die Wohnung freier vor, heute, wo er zum ersten Mal nicht alleine hier war?
Ein Vogelpaar löste sich von der Regenrinne des gegenüberliegenden Hauses und stürzte in den Hof hinab, immer einander umfliegend, so als spielten die beiden. Jetzt stiegen sie wieder auf und landeten schließlich gemeinsam auf der Regenrinne.

Letzte Aktualisierung: 29.05.2007 - 21.40 Uhr
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