Ganz schön bissig ...
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Juni 2007
Teemeister
von Michael Rapp

Steinerner Buddha -
sein schneebedecktes Haupt grüßt
das Licht des Frühlings.

Kamiya blickte über die verschneite Höhe, die Zedern, den kleinen Schrein an ihren Wurzeln und weiter auf die schroffen Gipfel des Hida-Gebirges. Meditation und konzentrierte Tätigkeit - ein steter Wechsel zwischen ihnen bildete den Rhythmus seines Lebens.
Als sein Lehrherr, Teemeister Aizawa, ihn vor vielen Jahren in dieses einsame Land geschickt hatte, war er unsicher gewesen. Er hatte gefragt, was er dort tun solle: Solle er sich selbst ergründen? Vielleicht die Erleuchtung suchen: das Eins-Werden mit allen Dingen? Als Antwort hatte er nur ein Rätsel erhalten:

„Wenn du eins mit allem wärst, wie würdest du den Tee bereiten? Wenn du dich selbst kennen würdest, was bedeuteten dir seine Blätter? Wenn du erleuchtet wärst, wie drehtest du die Schale?“

Er hatte Jahre darüber nachgedacht, hatte die Schriften Buddhas und der altvorderen Meister studiert; hatte geglaubt zu verstehen -, war verzweifelt, als ihm klar wurde, dass er nichts verstanden hatte und war schließlich gereift.
Die Bauern und Händler der Umgegend hatten sein Streben verfolgt und für sich entschieden, dass er ein heiliger Mann sei. Er selbst hatte sich immer nur Schüler genannt. Die Leute aber waren praktische Denker, die etwas Heiliges wohl zu erkennen glaubten, wenn sie es sahen. Und würde ein Buddha sich selbst durch Eigenlob erniedrigen? Also sorgten sie für ihn und achteten darauf, dass seine Vorratskammer zum Winter hin immer ausreichend gefüllt war.
Fünfzehn Winter hatten ihre kalten Finger in seinen Leib geschlagen, ohne ihn brechen zu können.

An diesem Tag würde es sich erweisen, ob er den Weg weit genug gegangen war. Sein Meister hatte sich ankündigen lassen. Ein Bote war aus dem Tal zu ihm gekommen und hatte berichtet, dass der hohe Herr für einen Besuch aufsteigen würde. Der Einsiedler fühlte deshalb Freude, aber keine Aufregung. Gelassenheit lebte in seinem Herzen, das gelernt hatte, angesichts der Stürme des Lebens ebenso ruhig zu bleiben, wie die Berge.

Am frühen Nachmittag traf der Teemeister ein. Zwei Bedienstete führten den alten Mann über den unsicheren Pfad. Am Rande der Hochebene blieben sie zurück und warteten, während Aizawa das letzte Wegstück allein ging. Sein weißes Haar flatterte im Wind.
„Ich grüße Euch Einsiedler“, sagte er. „Darf ich auf Eure Gastfreundschaft hoffen?“ Die Strapazen des Weges waren ihm anzusehen. Er war alt geworden.
„Natürlich, Meister. Meine Klause steht Euch immer offen“, antwortete Kamiya.
Aizawa gab seinen Dienern das Zeichen, sich auf den Heimweg zu machen. Dann folgte er dem Einsiedler in seine Hütte. Auf einem einfachen Lager aus Strohmatten ließen sie sich nieder.
Kamiya ehrte seinen Lehrherren mit einer tiefen Verbeugung. „Meister, es freut mich, Euch wiederzusehen. Ich habe Euch lange erwartet.“
Sein Gast sah ihn überrascht an, antwortete dann aber: „Auch ich bin erfreut. Man hört nur Gutes von Euch: Viele nennen Euch sogar einen heiligen Mann. Diesem Ruf musste ich folgen.“
„Dazu habe ich nichts getan“ Es war ein nüchterne Feststellung.
Aizawa lächelte. „Das habe ich gehofft. Ein heiliger Mann könnte seinem alten Meister wohl keinen Sake anbieten, oder?“ Seine Augen ruhten auf einer irdenen Flasche in der Ecke der Klause.
Kamiya holte den Sake und schenkte seinem Gast ein.
Der Alte betrachtete liebevoll die gefüllte Schale, dann sagte er: „Ich trinke auf meinen erfolgreichen Schüler. Wenn nur alle Teemeister, die aus meiner Schule hervorgegangen sind, ihre Kunst so ernsthaft betreiben würden.“
Die freundlichen Worte legten sich schwer auf den Eremiten. „Verzeiht, ich muss Eure Anerkennung erst noch gewinnen. Lobt mich nicht vor der Zeit.“
„Wie? Ihr habt die Lehre nicht beendet?“, fragte der Teemeister überrascht.
„Meister! Ich habt mich hierher geschickt, um mich zu holen, wenn es Zeit wäre, die Prüfungen abzulegen.“
Aizawas Augen begannen zu leuchten. „Ha! Das hatte ich völlig vergessen!“ Er schlug sich auf den Schenkel und lachte laut auf. „Aber jetzt wo du es sagst, erinnere ich mich: Du warst ein törichter Schüler, konntest nie einfach das tun, was man dir sagte, wolltest immer eine verdammte Begründung hören: Warum macht man das so Meister? Meister, könnte man das nicht auch so und so machen? Du warst eine Plage...“
„Aber Meister“, protestierte Kamiya. Er fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss.
„Verliere jetzt nicht die Haltung. Nimm es leicht, du warst immerhin nicht der Einzige: Einen Nichtsnutz habe ich bis ans hinterste Ende von Kyushu geschickt und der Unglücksrabe, der meine Lieblingsschale zerbrochen hat - Bizen, glaube ich hieß er -, der musste sogar bis Korea fahren. Ich habe nie wieder etwas von dem ungeschickten Tölpel gehört. Wenn ihn die Piraten nicht erwischt haben, kocht er jetzt wahrscheinlich Nudelsuppe in Seoul.“ Wieder lachte der alte Meister, wobei der Sake nach allen Seiten aus seinem Schälchen schwappte. Erst als er bemerkte, dass ihm das wertvolle Getränk abhanden kam, beruhigte er sich und trank hastig aus.
Kamiya wurde zum Berg. „Meister, ich bin bereit. Prüft mich und ihr werdet finden, dass ich Eure Anerkennung verdiene.“
„Oh, das tust du! Ohne Zweifel tust du das“, sagte der Meister mit einem versteckten Grinsen. „Ich habe von deiner Technik gehört: vorzüglich, ganz vorzüglich.“ Er konnte die Schadenfreude nicht länger verbergen. „Glücklicherweise besteht zwischen uns kein Lehrvertrag mehr - die Jahre haben ihn gelöst -, sonst würdest du mir am Ende noch zu einer echten Konkurrenz werden. In Nagoya gibt es schon mehr als genug Meister.“ Er füllte sich Sake nach, dann führte er das Schälchen zum Mund. Ein Rinnsal der gelblichen Flüssigkeit lief ihm an der erhitzten Kehle herunter. „Folge Buddha und nimm es gelassen. Du bist doch ohnehin das einsame Leben hier oben gewohnt, wozu brauchst du da meine Anerkennung?“
Kamiya hatte die Einsamkeit kennen gelernt, die Kälte, den Hunger -, bis an die Schwelle des Todes. Er hatte schon geglaubt, frei von allem Verlangen zu sein - gleichgültig gegenüber den Schmerzen der menschlichen Existenz. Die Worte des betrunkenen Narren, den er für seinen Meister gehalten hatte, belehrten ihn eines Besseren: Er kochte vor Wut.
„Ihr seid mir verpflichtet. Ich verlange geprüft zu werden!“ Obwohl er versuchte, seine Gefühle zu unterdrücken, war sein Ton scharf.
„Verpflichtet? Dir? Lächerlich!“ Der Meister deutete mit dem Finger über die Sakeschale hinweg auf Kamiya. „Du warst damals kein guter Schüler, und du hast bis heute nicht verstanden, was es bedeutet, in die Lehre zu gehen: Lehrling zu sein, heißt seinem Meister in allen Dingen zu folgen. Nichts anderes!“
Kamiya konnte kaum an sich halten. „Und was ist mit dem Rätsel, das Ihr mir gestellt habt?“
„Welches Rätsel?“, fragte Aizawa.
„Ich spreche von dem Rätsel, welches Ihr mir beim Abschied aus Eurem Haus mit auf den Weg gegeben habt. Es lautet: Wenn du eins mit allem wärst, wie würdest du den Tee bereiten? Wenn du dich selbst kennen würdest, was bedeuteten dir seine Blätter? Wenn du erleuchtet wärst, wie drehtest du die Schale? ... Wenn Ihr nie vorhattet, meine Ausbildung zu beenden, wozu diese Anregung?“
Der Teemeister brach in zügelloses Gelächter aus. Er prustete, bis sein Gesicht rot anlief. Dann antwortete er, immer noch feixend: „Das ist kein Rätsel. Damit wollte ich dich sicher nur zum Schweigen bringen: Ein paar dumme Fragen, um einen kleinen Besserwisser zu beschäftigen.“
Kamiya hatte genug. Einen Moment lang erforschte er seine Gefühle, während Meister Aizawa sich fröhlich mit seinem Sake betrank. Dann fasste er einen Entschluss.
Als der heitere Zecher gerade wieder die Schale heben wollte, griff er dessen Handgelenk und sagte: „Genug getrunken, alter Mann! Ihr solltet möglichst nüchtern sein, wenn Ihr meine Anerkennungsurkunde ausstellt.“
„Was sagst du da?“ Der Teemeister sah sehnsüchtig auf die Trinkschale.
„Ich sage: Ihr gebt mir Eure Anerkennung, oder ich schicke Euch mit einem Tritt in den Abgrund.“
Aizawa hob den Kopf und blickte ungläubig in die kalten Eremitenaugen seines ehemaligen Lehrlings. Die sakegeschwängerte Farbe wich aus seinem Gesicht. „Das meint Ihr nicht so.“ Es klang nicht überzeugt.
„Ich meine es genauso, wie ich es sage“, antwortete Kamiya ungerührt.
Der Teemeister fasste sich etwas. „Man würde Euch hinrichten. Viele wissen, wo ich bin. Dieser Frevel wäre Euer Tod!“
„Der Tod lauert in jedem Augenblick des Lebens. Aber vergesst nicht: Ich bin für die Menschen ein Heiliger - beinahe ein Buddha. Wenn ich es einen Unfall nenne, wer würde widersprechen?“
Der Alte schien nach einer passenden Erwiderung zu suchen. Doch an seinen Augen konnte Kamiya ablesen, dass er die harte Wahrheit längst erkannt hatte.
„Selbst wenn ich wollte: Ich habe weder das passende Papier, noch mein Siegel bei mir.“ Es war nur noch schwacher Widerstand.
„Ihr tragt Euer Siegel sehr wohl bei Euch. Und was das Papier angeht, so kann ich Euch aushelfen. Meines hat zwar nicht die höchste Qualität, aber es erfüllt seinen Zweck. Sträubt Euch nicht. Ihr habt keine Wahl, wenn Ihr den Berg lebend verlassen wollt.“
„Ihr nötigt mich“, klagte Aizawa leise.
Kamiya erhob sich, holte seine Schreibutensilien, mitsamt dem Tischchen, auf dem sie lagen und stellte alles vor dem Teemeister ab. Also dieser zögerte, bedeutete er ihm anzufangen. Widerwillig griff Aizawa schließlich nach Papier, Pinsel und Tusche.

Die Morgensonne stand niedrig über den Zedern. Ihr Licht erhellte sanft den Pfad, der von der Klause hinunter ins Tal führte. Der alte Mann hatte es eilig. Seine Diener stützten ihn. Sie mussten achtgeben, dass er nicht stolperte. Kamiya, der Teemeister, stand auf der Höhe und beobachtete lächelnd den Rückzug seines ehemaligen Lehrherren. Er war sich sicher: Der Alte würde schweigen, um sein Gesicht zu wahren. Man konnte Aizawa viel vorwerfen, aber nicht, dass er jemals sein Eigeninteresse vergessen hätte.

Ein Meister stieg auf.
Doch von der weißen Höhe
flieht ein Trunkenbold.

Letzte Aktualisierung: 06.06.2007 - 20.11 Uhr
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