Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Es war einmal ein Mann namens Jonathan, der war sehr einsam.
Am meisten auf der Welt liebte er Wasser. Er genoss es mit allen Sinnen: Stundenlang konnte er lauschen, das flirrende Tuch bewundern, das die Sonne darüber ausbreitete, oder Wolkenschatten beobachten, die über die Tinte der Tiefe hinweghuschten.
Eines frühen Morgens saß Jonathan unter einer Trauerweide am See. Tief sog er den Atem des Wassers ein. Gewirke aus Dunst hingen über dem See. Jonathans Blicke blieben an einem Schleier hängen, der aus dem Wasser emporzuwachsen schien. Nach und nach nahm das Gebilde die Gestalt einer jungen Frau an. Ihre Haare umgaben sie wie Wolken, ihre Gesichtszüge schienen zu verschwimmen, und doch konnte Jonathan erkennen, dass sie ihm voller Süße entgegenlächelte.
Sie schwebte auf ihn zu und streckte ihre Nebelarme nach ihm aus. Je näher sie kam, desto schärfer wurden ihre Umrisse. Sie schien wie aus Glas gemacht, ihr Gesicht in Kristall geschnitten.
„Wer bist du?“, stammelte Jonathan.
„Ich bin die Geistin des Wassers.“ Ihre Stimme wisperte wie sanfter Regen, der auf Blätter fällt. „Ich liebe dich. Und du liebst mich.“
Jonathan schwieg, ganz versunken in den Anblick ihrer wasserhellen Augen. Die frühe Morgensonne übergoss sie mit rotem Gold und ihre Gestalt glitzerte.
Sie legte den Arm um seine Schultern und es war, als umflösse ihn Wärme wie bei einem heißen Bad. Jonathan schloss die Augen.
Mit einem Mal fröstelte ihn. Erschrocken bemerkte er, dass sie sich von ihm gelöst hatte.
„Wohin gehst du?“, fragte er.
„Ich bin die Geistin des Wassers.“ Ihre Worte klangen wie Kiesel, die über den Grund eines Wildbaches schabten.
„Ich bitte dich: Verlass mich nicht!“
Doch sie entfernte sich immer weiter von ihm. Der See erschauerte. Kleine Wellen strebten von ihren Füßen weg. Inzwischen war sie nur noch ein nebelgrauer Schatten. Der Saum ihres aus feinen Tröpfchen gewebten Gewandes schleppte durchs Wasser.
Hastig watete Jonathan hinter ihr her.
Sie hob gebieterisch die Hand. Ihre Gestalt begann mit Dunst und Wasser zu verschmelzen. Er hörte ein Raunen. „Noch ein Mal wirst mich wiedersehen. Dort, wo es mich nicht gibt.“
Dann war er allein.
Von da an wartete Jonathan Tag für Tag im Morgengrauen unter der Trauerweide. Er starrte über den See, als könnte er sie mit der Kraft seines Wunsches aus den Nebelschwaden erstehen lassen.
„Geistin des Wassers!“, rief er immer wieder in die Stille hinein.
Doch sie kam nicht.
Nach Wochen des Wartens übermannte ihn Hoffnungslosigkeit und er vergrub das Gesicht in den Händen.
Plötzlich flossen leise Worte durch seine Erinnerung: „Noch ein Mal wirst du mich wiedersehen. Dort, wo es mich nicht gibt.“
In seiner Verzweiflung beschloss Jonathan, sie in der Wüste zu suchen.
Tagelang stolperte er durch glühenden Sand, erklomm einen Hügel nach dem anderen, sein Blick glitt über Sandmeere, die in der Hitze erstarrt zu sein schienen.
„Geistin des Wassers!“, schrie er unter dem leeren, tiefblauen Himmel.
Doch sie kam nicht.
Jonathan schleppte sich vorwärts. Die gleißende Helligkeit blendete ihn. Seinen Wasservorrat hatte er längst aufgebraucht. Er war ausgetrocknet, noch nicht einmal Tränen hatte er mehr übrig.
Schließlich kauerte er sich in den Sand. „Ich habe das Ende meines Weges erreicht“, dachte er, „hier werde ich sterben, ohne sie wiedergesehen zu haben.“
In diesem Augenblick schien sich der Boden zu seinen Füßen zu verflüssigen. Wie kleine Wellen wogte der Sand, schwarz und tief glänzte ein Wasserloch.
Und darüber schwebte sie. Ihre kristallene Gestalt funkelte wie Diamanten. Sie schüttelte sich. Wassertröpfchen sprühten und hüllten sie ein wie ein Brautschleier.
Jonathan kroch vorwärts. Doch da war kein Wasserloch, da war nur sie, und mit federzarten Fingern kühlte sie sein Gesicht.
„Geistin des Wassers“, flüsterte er. „Ich werde sterben. Doch ich habe dich noch einmal gesehen und das macht mich froh.“
„Du wirst nicht sterben“, erwiderte sie. Ihr Lächeln tat weh. Sie legte einen Finger auf seine Lippen. „Trink!“
Er spürte Feuchtigkeit, sah plötzlich, dass sie ein gläsernes Gefäß war, mit frischem Wasser gefüllt.
Er schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht.“
Sie steckte ihm den Finger in den Mund und gegen seinen Willen begann er zu schlucken. Kühles Wasser rann seine raue Kehle hinunter. Immer gieriger saugte er, obwohl er sah, wie sie sich zusammenzog und ihr Leib weich und nachgiebig wurde. Erst als sein Durst gestillt war, ließ er von ihr ab. Ihre leere Hülle lag vor ihm – ein nasser Fleck, den die Sonne im Nu wegtrocknete.
Wohlbehalten kehrte Jonathan aus der Wüste zurück. Er wusste: Nie wieder würde er der Geistin des Wassers gegenüberstehen. Und doch war er glücklich, denn sie lebte nun in ihm und erfüllte ihn ganz und gar.
Nie wieder würde er einsam sein.
Letzte Aktualisierung: 10.06.2007 - 20.30 Uhr Dieser Text enthält 4872 Zeichen.