Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Juli 2007
Nachtbus
von Manuela Schulz

Kurz nach Mitternacht biegt Achim in die Ahornallee ein. In der Ferne sieht er seine nächste Haltestelle. Sie liegt genau unter einer Laterne. Durch die gläserne Seitenscheibe des Wartehäuschens kann er zwei Gestalten ausmachen. Achim schlägt wütend auf` s Lenkrad und knurrt: „Mist, verdammter!“
Beinahe hätte es geklappt. Dieses eine Mal ist sein Bus leer. Nur noch eine Haltestelle weiter bis zur Gerberstraße und er wäre allein mit ihr gewesen. Nach fast vier Monaten endlich einmal nur sie und er in seinem Bus!
Einen Augenblick spielt er mit dem Gedanken, einfach durchzufahren. Aber dann bremst er barsch ab und kommt einige Meter hinter der Haltestelle zum Stehen. Er öffnet die Fahrertür und sieht im rechten Seitenspiegel, wie sich die beiden im Wartehäuschen langsam erheben. Achim tritt im Leerlauf auf` s Gas. Der Motor heult auf. Die zwei beginnen zu rennen. Kurz bevor sie die Tür erreichen, legt Achim den Gang ein und gibt Gas. Die kleinere Gestalt im langen Mantel wedelt mit den Armen, die größere hebt drohend den rechten Arm. Doch Achim hat dafür nur einen flüchtigen Blick. Er atmet tief durch. In einer Minute und dreißig Sekunden wird er bei ihr sein. Endlich allein mit ihrem schüchternen Lächeln beim Einsteigen, mit ihrer unbeholfenen Drehung um die Haltestange herum, bevor sie sich mit ihrer Tasche und dem Einkaufsnetz auf die Sitzbank fallen lässt und ihr dabei die Brille herunterrutscht. Sie wird das Einkaufsnetz loslassen, die Brille nach oben schieben und dann schnell die Tomaten oder Äpfel aufsammeln, die aus dem Netz gefallen sind. Kurz darauf wird sie seinen Blick im Rückspiegel suchen und verlegen lächeln. Er wird zurück lächeln und im Spiegel beobachten, wie sie ihren Kopf an die Scheibe lehnt und ihr langsam die Augen zufallen. Er wird behutsam Gas geben und bremsen, ganz langsam um die Kurven fahren und am Vogelsteig mit laufendem Motor warten bis sie die Augen aufschlägt, ihre Brille gerade rückt, hektisch nach Tasche und Netz greift und schlaftrunken aus dem Bus taumelt. Und diesmal wird er sie ansprechen! Vielleicht gleich beim Einsteigen, oder erst beim Aufwachen? Oder besser, wenn sie aussteigt? Achim schaut in den Rückspiegel. Er fährt noch einmal mit der Hand durch seine schütternen Haare und dreht den Kopf nach links und rechts. Alles in Ordnung! Rasant nimmt er Kurve in die Gerberstraße. Die Scheinwerfer seines Busses erfassen das gläserne Wartehäuschen. Es ist leer.

„Herr Nöthe, Sie wissen, dass wir Ihnen die Nachtlinie auf Ihren eigenen Wunsch hin gegeben haben?“ Der Personalleiter fasst mit der rechten Hand seine Brille, schiebt sie ein Stück nach unten und schaut Achim über Schreibtisch und Brillenrand hinweg an.
„Ja, das ist richtig.“ Achims Hände sind feucht. Er reibt sie verstohlen zwischen seinen Oberschenkeln aneinander.
„Hören Sie, Herr Nöthe! Wir hatten ja hier alle Verständnis dafür, dass Sie nach der Trennung von ihrer Frau gern die Nächte und die Wochenenden fahren wollten. Für die Kollegen mit Familie war das gewiss auch eine Erleichterung. Aber in letzter Zeit häufen sich die Beschwerden!“
Achims schießt die Hitze ins Gesicht und an seinem Hals bilden sich kleine rote Stellen.
„Wie, was … was für Beschwerden denn?“ stammelt er.
Der Personalleiter räuspert sich. „Hm, nun ja, Sie sollen Haltestellen durchfahren haben, obwohl dort Fahrgäste standen. Und die Anwohner am Vogelsteig beschweren sich über Lärm! Sie haben dort wiederholt mit laufendem Motor gestanden. Außerdem sind Sie gesehen worden, wie sie mit dem Bus mehrmals mitten in der Nacht und außerhalb der Linienführung kreuz und quer durch die Siedlung gefahren sind. Stimmt das?“
Achim schaut auf seine Hände. Er spreizt die Finger, dreht die Handflächen nach oben, wieder nach unten und nickt schließlich.
„Aha!“ Der Personalleiter schiebt seine Brille wieder hoch zur Nasenwurzel und steht langsam auf. Dann stützt er sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch und beugt sich zu Achim herunter. „Dann stimmt es ja sicher auch, dass Sie an der Haltestelle Gerberstraße den Bus verlassen haben und erst nach einer Viertelstunde oder gar noch später zurück waren, um weiter zu fahren? Und das sogar mehrfach! Ist das richtig?“
Achim fasst sich mit der rechten Hand in den schweißnassen Nacken.
„Ist das richtig?“ wiederholt der Personalchef und sein Adamsapfel pulsiert gefährlich schnell. Achim nagt an seiner Unterlippe.
Der Personalchef schlägt jetzt mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, dass es kracht.
„Ich habe Sie was gefragt, Herr Nöthe!“
„Ja, das stimmt so.“ murmelt Achim und fixiert seine ineinander verhakten Füße.
Der Personalleiter richtet sich wieder auf und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Und warum das alles, wenn ich fragen darf?“
„Ich habe jemanden gesucht!“ sagt Achim leise.
„Ach sieh an! Sie haben also jemanden gesucht! Während Ihres Dienstes und auch gleich noch mit dem Bus! Wie aufregend! Wen denn? Einen Kriminellen? Einen entlaufenen Köter oder wen?“
Achim rutscht auf seinem Stuhl hin und her und schüttelt schließlich den Kopf. „Nein, eine Frau! Ich habe eine Frau gesucht.“
„Das glaube ich ja nicht! Eine Frau! Er hat eine Frau gesucht!“ Der Personalchef stößt sich von Schreibtisch ab, wirft beide Hände in die Luft und dreht sich einmal um die eigene Achse und schreit: „Sie sind doch wohl von allen guten Geistern verlassen! Wenn Sie eine Frau suchen, dann gehen Sie ins Cafe, ins Internet oder von mir aus auch in den Puff. Aber rasen sie nicht mit dem Bus mitten in der Nacht durch irgendwelche Siedlungen und reißen die Leute aus dem Schlaf! Damit ist Schluss! Schluss! Schluss! Schluss! Ein für allemal! Haben Sie mich verstanden?“
Achim nickt und schaut kurz auf. „Kann ich jetzt los?“
„Von mir aus.“ Der Personalchef winkt ab und lässt sich schwer in seinen Schreibtischstuhl fallen. Achim steht auf und wendet sich zur Tür.
„Moment mal, Herr Nöthe!“
Achim zuckt zusammen und dreht sich um. Der Personalchef hat sich in seinem Schreibtischstuhl zurück gelehnt und die Stirn in Falten gelegt.
„Was ist das denn überhaupt für eine Frau, nach der Sie suchen?“
Achims Augenbrauen wandern nach oben.
„Ja gucken Sie nicht so erstaunt! Ich frag ja nur! Sieht sie aus wie Nicole Kidmann oder so? Wer ist sie denn?“
„Tja …wie soll ich das sagen …“ Achim reibt sich die Nase und kratzt sich dann am rechten Ohr. „Ja, also… so richtig weiß ich auch nicht, wer sie ist. Sie saß halt jede Nacht im Bus. Immer ganz vorn. Und aussehen … ich denke normal halt … halblange dunkelblonde Haare und eine Brille mit rötlichem Rahmen, die ihr manchmal runter rutscht. Und sonst … na, so irgendwie zart halt, so empfindlich … so zerbrechlich. Ja, zerbrechlich! Das ist genau das das richtige Wort. Und als ich sie ansprechen wollte, da war sie auf einmal weg. Also ich meine, sie fährt nicht mehr mit.“
„So, so!“ Der Personalchef wiegt bedächtig seinen kahlen Schädel hin und her. „Wenn ich das jetzt richtig begreife Herr Nöthe, haben Sie sich in einen zierlichen weiblichen Fahrgast mit roter Brille verguckt, der plötzlich nicht mehr des Nachts in Ihrem Bus fährt!“
„Wenn Sie das so ausdrücken wollen, Herr Wachsmann … “ Achim tritt von einem Fuß auf den anderen und zeigt mit der rechten Hand in Richtung Tür „Kann ich nun?“
„Also hören Sie Nöthe! Sie können wahrlich froh sein, dass ich Sie für einen unserer besten Fahrer halte, sonst ginge die Sache hier anders aus. Und nun hauen Sie schon ab!“ Wachsmann wedelt mit der rechten Hand, als wolle er Achim verscheuchen. Minuten später durchwühlt er den Stapel Bewerbungsmappen auf seinem Schreibtisch.

„So, Frau Sperling, setzen Sie sich doch!“ Wachsmann lächelt charmant und rückt ihr den Stuhl vor seinem Schreibtisch zurecht. Er umrundet den Tisch, setzt sich und schlägt die dunkelblaue Bewerbungsmappe auf. Er blättert bedächtig darin, dann schaut er Frau Sperling geradewegs ins Gesicht. „Sie wissen, warum ich ausgerechnet Sie angerufen habe?“
Frau Sperling reißt erschrocken die Augen auf. „Äh, na ja, also … offen gestanden, wenn Sie mich so fragen … oh … nun … also, ich habe mich natürlich sehr gefreut …“
„Schon gut!“ Wachsmann schlägt den Hefter zu. „Ich werde es Ihnen sagen! Ich habe gesehen, sie waren ja lange Jahre im Büro der Firma `Weiherkamp und Söhne´. Sie sind also eine sehr beständige Person, wenn ich das mal so sagen darf.“
Frau Sperling streicht verlegen ihren Rock glatt und nickt zaghaft.
„Sagen Sie mal“, fährt Wachsmann fort, „`Weiherkamp´ saß doch irgendwie in der Gerberstraße? Stimmt` s oder irre ich mich?“
Frau Sperling nickt hastig. „Ja, ja, in der Gerberstraße 15, die ganzen Jahre!“
Wachmann schlägt wieder die Bewerbungsmappe auf. „Ich sehe hier grade – Sie wohnen draußen in der Siedlung beim Vogelsteig! Da hatten Sie ja immer einen ganz schön langen Arbeitsweg!“
„Ach na ja, so schlimm war das nun auch nicht. Da fährt der Bus ja direkt durch und es gibt sogar einen Nachtbus. Aber das wissen Sie ja sicher besser als ich! In den letzten Monaten, also kurz bevor der alte Weiherkamp zumachen musste, da haben wir ja alle noch gerackert, weil wir dachten, wir könnten noch was retten. Da war ich ja heilfroh, dass noch der Nachtbus fuhr. Ich hätte ja sonst gar nicht gewusst, wie ich nach Hause kommen soll!“
„Na sehen Sie! Und bei uns säßen Sie sogar direkt an der Quelle! Da haben Sie sich ja genau bei den Richtigen beworben.“ Wachsmann lacht. Frau Sperling lächelt unsicher. Wachsmann sieht es sofort.
„Nun machen Sie sich mal keine Sorgen. Richtig schlimm Überstunden, das kommt nicht dauernd vor. Aber nächste Woche zum Beispiel, wenn Sie da mal ausnahmsweise … der Kollege von Ihrem 145ger Nachtbus könnte Sie dann gleich hier vom Fuhrpark aus mitnehmen! Das ist doch sehr praktisch, oder?“
Frau Sperling nickt so eifrig, dass ihr die rote Brille die Nase herabrutscht. Wachsmann registriert es und lächelt zufrieden.
„Na, da wollen wir mal hoffen, dass wir mit Ihnen die richtige Neue gefunden haben!“ sagt er und klappt die Bewerbungsmappe zu.

Letzte Aktualisierung: 26.07.2007 - 14.23 Uhr
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