Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
Es ist neun Uhr an einem strahlenden Montagmorgen. Ausgeruht schlage ich die Bettdecke zurück, reibe traumlosen Schlaf aus meinen Augen. Ein neuer Tag.
Ich gehe in die Küche und nehme mir ein Brötchen. Es lag schon gestern im Brotkorb, heute ist es ganz und gar vertrocknet. Warum tue ich mir das an? Ich sollte das Brötchen wegwerfen und sofort zum Bäcker gehen. Beim Feinkosthändler einkaufen. Ein Glas eingelegte Shrimps. Avocado, Ananas, Anchovis… Der trockene Bissen rutscht nur langsam die Kehle hinunter. Da ist etwas, das meine Gehirnwindungen wund reibt, ein Gedankenstein, der mir den Kopf von innen her zerkratzt, eine ungreifbare Ahnung, die feststeckt und mich würgen lässt.
Als ich am Samstagabend aus dem Haus kam war niemand auf der Straße. Kein Moped, kein Fahrrad, nicht ein Kneipengänger. Nur mein roter Rover Mini. Hastig stieg ich ein, fuhr, bevor ich es merkte. Die Haare klebten an den Schläfen und ich kurbelte das Fenster herunter, schwer ging das in dem alten Auto. Auf der Heimfahrt kaum ein Passant, die Straßen wie ausgestorben. Schadenfreude malte mir ein selbstbewusstes Lächeln ins Gesicht. Alles war gut gelaufen!
Als ich endlich anhielt, nur die gelbe Fassade, mein Haus. Anni hatte mich hier oft besucht – überfallen. Wie in einem zweiten Zuhause war sie ein- und ausgegangen. Jetzt wird sie nicht mehr vorbeikommen. Wo hatten wir uns damals zum ersten Mal getroffen? Ich will mich nicht erinnern.
Anni. Wie habe ich es nur so lange mit ihr ausgehalten? Keinen Tag war ich alleine geblieben, nachdem wir einmal Freundschaft geschlossen hatten. Freundschaft? Ist das Freundschaft? Dass man sich aufopfert für einen hilfsbedürftigen Menschen, der kein Ziel vor Augen hat, geschüttelt
ist von Emotionen, voller Bedürfnis nach Nähe, das man zu stillen
versucht wie einen nimmersatten Säugling?
Petra war Annis echte Freundin gewesen, „durch dick und dünn“. Doch nachdem sie die Stadt verlassen hatte, war nichts mehr so, wie es hätte sein sollen. Anni konnte es nicht verkraften, dass Petra sie verließ, ich merkte das. Petra meinte, ich solle mich um sie kümmern, wenn sie fort wäre. Sie und ich standen uns ebenfalls nah. Doch wir konnten Distanz zulassen, hatten Vertrauen zueinander, Pläne…
Ich tat Petra den Gefallen und kümmerte mich um Anni. Schließlich entstand zwischen uns eine „Freundschaft“. Wenn man sich so etwas ernsthaft vornimmt, gelingt es auch. Vorübergehend. Auf Dauer wird aus einer solchen Verbindung jedoch nichts. Entweder merkt der Betrogene was oder der Betrüger verliert die Ausdauer. Ich verlor nicht nur die Ausdauer, sondern auch den Sinn für unsere Beziehung: Anni war für mich zu einem Würgehalsband geworden, das mir die Lebenslust abdrückte.
Ich hatte die Wohnungsschlüssel eingesteckt, die sie mir für den Notfall überlassen hatte – mein Name, von Blümchen umrankt, in lila Tinte auf den Anhänger geschrieben – und war in der Nacht noch einmal losgefahren. Leise schloss ich auf und schlich ins Schlafzimmer. In all der Unordnung wäre ich beinahe an einen Stuhl gestoßen, fing mich aber im letzen Moment… Ich lauschte angestrengt, vernahm aber nur regelmäßige Atemzüge.
Von da an verlief alles reibungslos. Das harte Nasenbein unter der üppigen Kissenfüllung. Meine Entschlossenheit, nicht frühzeitig den Druck auf ihre Atemwege zu verringern. Die Brust, die sich nur für einen Moment im Kampf um Sauerstoff verkrampfte, aufbäumte, sich dann nicht mehr hob und senkte. Anni wachte nicht mal kurz auf. Muss an den Schlaftabletten gelegen haben, die sie seit einiger Zeit einnahm. Wenn ich es mir recht überlege, stört mich das. Dass sie meine Bosheit nicht
bewusst erlebt hat. Sowieso hat sie nie von meinen Gefühlen geahnt,
immer stand sie selbst im Mittelpunkt mit ihrem Ballast aus Nörgeleien...
Ich ließ das Kissen fallen, starrte auf das leblose Gesicht. Bald würde
ich all die Gegenstände zurückbekommen, die sie sich ständig von mir geborgt hatte. Wie viele alte Schätze würde ich neu entdecken?
Jetzt ist das Brötchen aufgegessen. Schwer liegt es mir im Magen, verursacht Bauchschmerzen. Ich stehe auf, um mir ein Glas Leitungswasser zu gönnen, als es an der Tür klingelt. Mein erster Gedanke: Anni! Dann entspanne ich mich. Ach nein.
Als ich durch die Diele gehe, um zu öffnen, streift mein Blick das Schlüsselbord. Etwas stimmt nicht, da ist ein Fehler in dem sonstigen Muster. Vorsichtig senke ich den Arm, der sich bereits nach der Türklinke gestreckt hat. Wieder klingelt es. Ich beschließe nicht zu antworten.
Der Besucher entfernt sich. Zwar beunruhigt es mich, nicht zu wissen, wer mich so früh sprechen wollte – doch viel wichtiger ist, dass ich die Lücke im Schlüsselbord entdeckt habe. Ich habe Annis Schlüssel in der Nacht verloren und muss sie finden, bevor es jemand anderes tut! Eilig ziehe ich mich an und verlasse das Haus.
Auf dem Beifahrersitz liegen die Notfallschlüssel nicht. Auch nicht im Handschuhfach. Sollte ich sie tatsächlich in der Wohnung gelassen haben? Wenn die Nachbarn den Anhänger sehen, wissen sie sofort, dass ich dort war – und sagen es der Polizei. Ich muss die Schlüssel finden.
Als ich vor dem Wohnhaus parke, durchfährt es mich erneut. Ich komme nicht an die Schlüssel heran! Wie soll ich denn die Tür öffnen? Angst keimt in mir auf, doch ich schlucke, würge sie wieder und wieder hinunter. Nein, erst muss ich es mit eigenen Augen sehen. Vielleicht habe ich sie im Schloss stecken lassen, dann wird alles ganz einfach sein. Es ist noch früh, die Nachbarn sind allesamt Studenten, keiner von denen geht vor neun aus dem Haus…
Ich werd verrückt, ich habe sie tatsächlich stecken lassen! Schon vom Treppenabsatz kann ich die Wohnungstür sehen, der Anhänger
baumelt…die Tür steht offen. Das darf nicht wahr sein! Ich habe doch die
Tür nicht etwa offen gelassen? Die ganze Nacht?
Ich muss den Schlüssel zu fassen kriegen. Meine Hand legt sich um das Plastik des Anhängers, fest drückt das Messing des Schlüssels gegen meine Finger. Da höre ich Stimmen. Professionelle Begutachtungen und auch Geraschel wie von Plastiktüten. Ein Gedanke überrollt mich mit bestechender Klarheit: Polizei.
Meine Erstarrung löst sich urplötzlich. Der Schlüssel liefert ihnen den Beweis - mit einem „Ratzsch!“ ziehe ich ihn aus dem Loch und renne los, stolpere, stürze die Treppe hinunter. Jemand hat mich gehört. Der Verfolger poltert hinter mir, ruft. Ich rappele mich auf, greife mit schweißnassen Händen nach dem Geländer. Er schnauft, ich stolpere weiter. Um Haaresbreite entkomme ich seinem Zugriff. Ich schaffe es auf die Straße und renne in irgendeine Richtung weiter.
Letzte Aktualisierung: 18.07.2007 - 20.35 Uhr Dieser Text enthält 6735 Zeichen.