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Flamingos im Okavango-Delta von Gertraude Schreiber
Die Oberfläche des Sees funkelt in der Sonne. Tausendstimmiges Vogelgeschrei füllt den Raum zwischen Himmel und Wasser. Auf einer Sandbank studiert eine Schar Flamingos ein Ballett ein. Sie fliegt auf, gleitet wie eine rosa Schäfchenherde am Himmel entlang und landet wieder - wie auf Kommando. Schwerelos nähert sich Julia den eleganten Vögeln. Sie fühlt sich frei, wunderbar frei.
Ein Pochen zerbröselt ihren Traum. Die Wirklichkeit legt sich wie ein nasses Tuch auf ihre Brust. Es klopft erneut. Fordernd. Ungeduldig.
Ja, ja, ich komme gleich!
Mühsam erhebt sie sich und knipst das Licht an. 02.37 Uhr zeigt der Digitalwecker. Nur nicht wieder zurücksinken, denn das hieße, dem Schmerz ein weiteres Mal Anlass zu geben, ihr Rückgrat zu zerschneiden. Während sie eine Hand ins Kreuz presst, stützt sie sich mit der anderen auf den Stuhl neben dem Bett. Mit den Füßen hangelt sie nach den Hausschuhen. Sie zieht den Morgenrock über und eilt hinaus.
Kaum hat sie die Tür geöffnet, hört sie ihn zetern.
„Verflucht noch mal! Beeil dich, oder ich pinkle ins Bett.“
„Ich bin doch schon da, Vater“, beruhigt sie ihn. Während sie seinen Penis in den Entenhals hält, damit er nicht daneben zielen kann, fällt ihr Blick auf das Foto ihrer Mutter, das seit sieben Jahren, verziert mit einer schwarzen Schleife, auf dem Nachttisch steht. Ohne Vorwarnung war sie tot umgefallen.
„Herzinfarkt“, sagte der Arzt, „die Pflege ihres Mannes war wohl zu viel für sie.“
Seither pflegt Julia ihren Vater. Sie hebt ihn aus dem Bett, in den Rollstuhl, auf den Toilettenstuhl und zurück. Sie wischt seinen Hintern ab, wäscht und füttert ihn. Wenn er nachts urinieren muss, steht sie auf. Sie hat es mit Seniorenwindeln versucht, doch obwohl seine Arme zum Teil gelähmt sind, hat er es jedes Mal geschafft, sie zu zerreißen.
„Ich bin doch kein Baby!“ Niemals wird Julia sein Gebrüll vergessen.
Jede Pflegekraft, die sie entlasten sollte, hat er beschimpft und angespuckt, bis sie das Weite suchte. Er lässt niemanden an sich heran – außer Julia, die er abwechselnd für seine Mutter oder seine Frau hält. Irgendwann war sie der Doppelbelastung durch Beruf und Pflege nicht mehr gewachsen, trotz einer Haushaltshilfe. Um einem Disziplinarverfahren wegen Vernachlässigung ihrer Lehrerpflichten zuvor zu kommen, ließ sie sich beurlauben. Das war vor vier Jahren.
„Bist du fertig?“, fragt sie. Als Antwort grunzt ihr Vater nur. Sie bettet ihn neu, nimmt die Urin-Ente und verlässt das Zimmer. Draußen kippt sie gegen die Wand. Die Diele dreht sich, das Glasgefäß rutscht ihr aus der Hand, knallt auf den Boden und zerbricht. Der warme Inhalt ergießt sich über ihre Füße und trieft vom Saum des Morgenrocks. Sie schluckt, doch die Tränen lassen sich nicht zurückhalten. Diesmal nicht. Wie blind tappt sie ins Badezimmer, wo sie auf dem Toilettenstuhl nieder sackt.
Julia nimmt nicht wahr, wie lange sie dort kauert und weint. Später wischt sie den Urin auf, dann duscht sie heiß und ausgiebig. Trotz ihrer Erschöpfung legt sie sich nicht wieder ins Bett, sondern zieht sich an und geht ins Wohnzimmer.
Sie hat eine Entscheidung getroffen.
Kalter Zigarettenrauch schlägt ihr entgegen. Wie immer haben ihre Brüder während des Besuchs gestern geraucht. Es sei auch sein Zuhause, hatte sich Konrad ereifert, deshalb würde er sich das Rauchen nicht verbieten lassen.
Richtig wütend geworden waren die beiden, als Julia vorgeschlagen hatte, Vater in einem Pflegeheim unterzubringen. Sie hätte so viel zu sagen gehabt, aber Martin und Konrad hatten sie nicht zu Wort kommen lassen. Unterstützt von ihren Frauen hatten sie von Tochterpflichten und unzumutbaren Zuständen in den Heimen gefaselt. Das könne man dem alten Mann nicht antun. Außerdem sei nicht einzusehen, dass ihr Erbe an die Wohlfahrt verschleudert würde. Sie müssten an die Zukunft ihrer Kinder denken. Julias Einwand, dass sie ebenfalls an ihre Zukunft denken müsse, hatten sie beiseite gewischt. Sie hätte keine Ahnung, was Kinder kosten würden. Der Hinweis auf ihre Rückenschmerzen hatte ihnen ein ironisches Lächeln entlockt. Ihnen müsse niemand erklären, was Rückenprobleme bedeuteten. Im Übrigen gäbe es ausgezeichnete Gymnastikprogramme. Sogar auf CD, dann müsste sie nicht einmal das Haus verlassen.
Auf Julias Bitte, sich für den Fall, dass sie krank würde oder Urlaub machen wolle, möglichst bald um eine Fremdbetreuung zu bemühen, war unvermittelt der Aufbruch erfolgt.
„Es ist heutzutage kein Zuckerschlecken, wenn man im Beruf seinen Mann stehen muss“, hatte Martin betont, „die Erholungszeiten sind viel zu kurz.“
„Wir werden darüber nachdenken, Liebste“, hatte ihre Schwägerin geflötet und sie zum Abschied flüchtig auf die Wange geküsst. „Wir melden uns.“
Damit hatte Julias vierzigster Geburtstag geendet.
Sie reißt die Vorhänge auseinander und schiebt die Terrassentür weit auf. Im nahen Wald schreit ein Vogel, ein zweiter antwortet. Die frische Nachtluft beißt sich durch die Watte in Julias Kopf, vertreibt die Müdigkeit und legt ein Gefühl frei, das niemand ihr, der duldsamen Tochter und Schwester, zutrauen würde.
Es reicht! Endgültig!
Sie holt eine Mappe aus dem Arbeitszimmer und durchwühlt die Unterlagen. Das gesuchte Schreiben liegt zwischen Fotos, Impfpass und Formularen.
„Dear Mrs. Mahler“, liest sie den Brief zum wiederholten Mal, „wir freuen uns über Ihr Interesse an der Stelle als Privatlehrerin für die Kinder auf unserer Farm. Ihr Profil entspricht unseren Vorstellungen. Wir haben uns deshalb für Sie entschieden und können es kaum erwarten, Sie in Maun, dem Tor zum Okavango-Delta, begrüßen zu dürfen. Bitte setzen Sie sich wegen weiterer Absprachen mit uns in Verbindung. Wichtige Informationen entnehmen Sie den beigefügten Unterlagen. Es grüßt Sie herzlich, Ihre M. Gardiner.“
Sie betrachtet das Foto der Familie. Vater, Mutter, drei Kinder. Daneben stehen eine Afrikanerin und ein dunkelhäutiges Kind, das den Arm um den Hals eines riesigen Hundes geschlungen hat. Die Menschen scheinen Julia anzustrahlen, sie sehen glücklich und zufrieden aus. Die anderen Fotos zeigen Maun, das Okavango-Delta, Elefanten vor einem Sonnenuntergang, Giraffen im Steppengras und Flamingos, deren grazile Beine sich im Wasser spiegeln.
Ihre Brüder werden sich wundern. Beim Gedanken daran verzieht Julia ihr Gesicht zu einem grimmigen Lächeln.
Inzwischen ist es fast fünf Uhr. Zu früh, um irgendwo anzurufen. Während die Kaffeemaschine gurgelt, füllt sie mehrere Formulare aus. Beim Frühstücken behält sie die Küchenuhr im Auge. Die Minuten scheinen zu tröpfeln.
Sie richtet das Tablett mit dem Frühstück für ihren Vater und zählt seine Medikamente ab. Dann geht sie zu ihm, um ihn zu waschen, in den Rollstuhl zu setzen, ins Esszimmer zu schieben und zu füttern. Wie jeden Morgen.
Sieben Uhr und fünfzehn Minuten. In Afrika steht man bestimmt früh auf. Julia verschwindet mit dem Telefon im Arbeitszimmer. Nach kurzem Läuten meldet sich Mrs. Gardiner. Das Gespräch dauert nur wenige Minuten und malt ein glückliches Lächeln auf Julias Gesicht. Als Nächstes ruft sie den Flughafen in Frankfurt an und erkundigt sich nach den Flugverbindungen nach Botswana.
„Die KLM mit Zwischenstopp in Amsterdam fliegt um 18.10 Uhr. - Ja, zu dem gewünschten Termin sind noch Plätze frei. - Besitzen Sie eine Kreditkarte? – Ihren Namen bitte.“
In den Tagen darauf ist Julia mit Vorbereitungen beschäftigt. Konrad und Martin lassen nichts von sich hören. Sie wird sich nicht mehr darüber ärgern! Die beiden werden bald sehen, was sie davon haben.
Nicht einmal das Nörgeln und Schimpfen ihres Vaters kann ihre Laune beeinträchtigen. Seine misstrauischen Blicke und die Frage „Was hast du?“ ignoriert sie ebenso wie ihre Rückenschmerzen. Seit sie ihren Entschluss gefasst hat, hat sie das hochwirksame Medikament mit dem Vermerk „Nur für den Notfall!“ nicht mehr angerührt. Sie braucht die Tabletten für einen anderen Zweck.
Endlich ist der Tag des Abschieds da. Während der Vater Mittagschlaf hält, macht sie sich reisefertig. Danach entnimmt sie der Schachtel mit dem Notfallvermerk mehrere Tabletten und gießt Wasser in ein Glas.
„Ich will aufstehen“, empfängt ihr Vater sie. Sie passt genau auf, dass er alle Tabletten hinunterschluckt.
„Nein“, antwortet sie, „später. Ich muss vorher etwas erledigen.“ Sie wartet seine Reaktion nicht ab, sondern verlässt das Zimmer.
Aus Angst, dass ihre Brüder ihre Pläne vereiteln könnten, hat sich Julia entschlossen, ihnen ihre Abreise erst vom Flughafen aus telefonisch mitzuteilen. Das wird sie in Trab versetzen. Für die Haushaltshilfe, die anderntags kommen wird, schreibt sie eine Nachricht und legt sie auf die Garderobenablage.
Bevor Julia das Haus verlässt, wirft sie einen letzten Blick ins Schlafzimmer. Ihr Vater ist wie geplant eingeschlafen. Sie hebt ein Kopfkissen auf, das aus dem Bett gerutscht ist. Gedankenverloren hält sie es vor ihre Brust und blickt auf ihn hinunter. Wie alt und grau er aussieht. Trotz allem tut er ihr leid.
Wenn sie ihn jetzt...?
Julia erschrickt. Der Gedanke bricht ab.
Vorsichtig hebt sie seinen Kopf an und stopft das Kissen darunter.
„Tschüss, Papa!“
Bis kurz vor dem Einsteigen ins Flugzeug versucht Julia, ihre Brüder anzurufen, aber sie erreicht keinen von beiden. „Zur Zeit ist niemand erreichbar“, meldet Martins Mailbox, Konrads ist ausgeschaltet. Mit Entsetzen fällt ihr ein, dass sie das Adressbuch im Koffer verstaut hat. Sie hat die Festnetznummern nicht gespeichert.
Ihr Vater wird bald aufwachen. Er wird sich ängstigen, wenn sie nicht da ist. Sie muss jemandem Bescheid sagen. Unbedingt.
„Ihre Bordkarte bitte!“
Die Stimme der Flughafenangestellten klingt ungeduldig. Julia blickt um sich. Sie steht als Letzte vor dem Gate. Durch die Glasfront sieht sie, wie ein Flugzeug startet. Die Flügel des Riesenvogels leuchten in der Abendsonne. Sie schaut ihm nach. Gleich wird er in einem Meer rosaroter Wolken verschwinden.
Mit einem Seufzer steckt Julia das Handy ein und wendet sich der jungen Frau zu.
Letzte Aktualisierung: 26.07.2007 - 14.18 Uhr Dieser Text enthält 10136 Zeichen.