Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Juli 2007
Schluss mit lustig
von Ingrid Gertz

Bei ausgedehnten Shoppingtouren kann ich den Alltag vergessen, den Stress mit überkandidelten Kunden und rechthaberischen Chefs hinter mir lassen.
Meine regelmäßigen Streifzüge durch die ortsansässigen Konsumtempel sind mir lieb gewordene Gewohnheit und verlaufen immer nach gleichem Muster: Schauen, bewundern, anfassen, Preisschild kontrollieren, Nase rümpfen… und weiter stöckeln.
Ob das auch andere kennen? Ein Blick, ein Staunen – Soo schön…! – Dann das Anfassen, liebevolle Ergründen von Materialbeschaffenheiten, besitzergreifend schon, und beim Sichten der Auspreisung folgt wie immer der Schock: Wieder einmal habe ich mich mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit in ein unbezahlbares Teil verliebt.
So auch in diesem exklusiven Ledergeschäft, ganz am Ende unserer Einkaufsstraße. An dem komme ich nie vorbei, muss es immer durchstreifen und lande immer bei dieser Tasche. Wie oft war ich in den letzten drei Wochen zu ausgedehnten Entdeckungsreisen hier gewesen! Meine Finger hatten kosend und staunend die unterschiedlichen Strukturen, die Weichheit, die Derbheit der vielfältigen Lederarten ertastet, meine Nase geschmeichelt den herben und doch warmen Geruch aufgenommen, zu dem jede Tasche, jeder Schuh, jede Jacke eigene Nuancen beisteuerten.
Farben und Formen, Materialkontraste zwischen Leder, Textil und Metall hatten meine Blicke gefangen genommen. Jeder dieser Ausflüge, Feste für die Sinne, hatte immer und immer wieder bei dieser kleinen Schlangenledertasche im Obergeschoss sein Ende gefunden.
An der hatte ich, wie man so schön sagt, einen Narren gefressen. Heute würde ich nicht schon wieder unentschlossen sein.
Heute würde ich sie kaufen.

Meine Blicke schweifen genüsslich über die bunte Vielfalt der Taschen und Täschchen, und dabei bemerke ich, dass heute ungewöhnlich viele Kunden im Laden sind. Und was für welche! Keiner von denen könnte sich hier auch nur eine halbe Gürtelschnalle leisten. Ich sehe abgetragene Schuhe, Mäntel in verblichenen Farbtönen, Kleider, die vor fünf Jahren vielleicht einmal hochaktuell gewesen sein mochten. Und das alles tummelt sich zwischen den kostbaren Taschen und Koffern.
Was für eine einzigartige Klientel ist hier versammelt? Doch nicht nur der für dieses Geschäft ungewohnte Trubel irritiert mich.
Da ist noch dieser Duft, ein Gemisch aus Chlor, Hustensaft und Kernseife, der mir immer stärker in die Nase steigt. Unangenehm und vorlaut drängelt er sich über den vertrauten Atem der Lederwaren.
Sehr seltsam…Ich kann mich ja irren, aber nach meinem Empfinden riecht es hier in zunehmendem Maße nach … Krankenhaus. Aber es wartet eine Tasche auf mich. Meine Tasche. Nichts anderes ist jetzt wichtig!
Doch als ich das zweite Stockwerk erreicht habe, mich erwartungsfroh meiner Kauflaune überlassen will, werde ich ganz, ganz herb enttäuscht: Die Verkaufsfläche ist hier umdekoriert. Vom Leder befreit ist die Etage…Kein einziges Krokotäschchen, keine Straußenlederpumps, nicht mal ein halbes Schlangenlederbustier! Da ist nix, rein überhaupt nix von den ersehnten Kostbarkeiten!
Dafür sind eigenartige Kabinen in der Mitte des Raumes aufgebaut. Sie sehen fast aus wie Umkleidekabinen, erscheinen mir aber, von der Tiefe her, mindestens dreimal so groß. Vor diesen merkwürdigen Neukonstruktionen ist eine lange Reihe roter Schalensitze verschraubt. – Straßenbahnatmosphäre, nur dass alle vorn sitzen dürfen…
Einige wenige Plätze sind noch frei. Und ein dezenter Dreiklang ertönt.
Gleichzeitig leuchtet über der vorderen Kabine eine rote zweiundvierzig auf. Die umfangreiche Dame mit dem lustigen Hütchen und den schlecht sitzenden Stützstrümpfen schaut noch mal ängstlich kontrollierend auf ihr kleines gelbes Zettelchen, das sie die ganze Zeit vor sich in den Händen hält und erhebt sich. Sie schlurft hustend und schniefend zu der Kabine, in die sie durch einenVorhang verschwindet.
Nein, hier würde ich wohl keine kleine feine Tasche bekommen!
Wirklich ärgerlich! Aber nicht zu ändern.
Ich wende mich um und will zurück zur Treppe gehen, das Geschäft verlassen.
„Aber bleiben Sie doch, bitte!“ eine ältere Frau packt mich sanft aber bestimmt am Arm. „Sie werden sehen, alles ist ganz leicht und unkompliziert…. Und vor Allem sehr preiswert! Für uns und auch für Sie!“ grinst mich ein Pferdegebiss unter dunklem Bubikopf an. „Aber ich wollte doch nur…“ „Jaa, sicher, kommen Sie. Ich zeige und erkläre Ihnen alles“ redet sie beschwichtigend, jedes Wort penibel artikulierend, auf mich ein. „Übrigens, ich bin Schwester Ulla!“ schon zieht sie mich, keinen Widerspruch duldend, in Richtung der hinteren Kabinen.
„Als alle, damals zu dieser Weltmeisterschaft, nur Augen dafür hatten, wie sich zweiundzwanzig Bürschelchen um einen Ball streiten, da waren wir nicht untätig.“, plaudert sie fröhlich vor sich hin. „Nein, wir waren fleißig, haben Vieles beredet, in die Wege geleitet… Das Pilotprojekt, das sie hier erleben können, ist nicht das Einzige, was uns eingefallen ist… Ach ja, wenn man relativ ungestört - durch pausenlose Balljagden abgeschirmt – seine Visionen verwirklichen kann, dann entstehen solche wunderschönen Sparmodelle.“
Ach Mann, wovon redet sie, wo ist die denn drauf?
„Wir machen es jetzt wie die Post, werden unseren Service ohne eigene Räumlichkeiten bieten. Die ganze Palette. Und alle haben was davon!“ schwärmt die Schwester „Keine wochenlangen Wartezeiten für Kassenkunden, keine Praxisgebühr – denn wo keine Praxis ist…nicht wahr?“ – verschwörerischer Blick.
Kassenkunden, Wartezeiten…, das kann doch nicht ernst gemeint sein: „Sie wollen mir jetzt nicht sagen, dass hier medizinische Versorgung von Menschen stattfindet??“
„Aber ja doch!“ Begeistert klatscht sie in die Hände.
„Husten, Schnupfen, Wurmfortsatz, alles hier an einem Platz!“
„Auch Operationen?“ staune ich.
„Auch Operationen!!“ Euphorisiert von ihrem eigenen Gequatsche zerrt sie mich aufgeregt in eine der Kabinen. „Schauen sie nur!“
In dem kargen, steril wirkenden Raum steht als Mobiliar nur ein Operationstisch. Darauf liegt eine kraftlose, ausgemergelte Frau. Sie scheint mehr tot als lebendig. Schwester Ulla will vor lauter Stolz fast platzen. „Sehn sie nur, wie prima uns die Schnitte gelungen sind!“
Mein Frühstück klopft zaghaft an, bittet um Sondergenehmigung zur Nutzung des Notausgangs. „ Aber… die… hat ja keine …Hände und Füße mehr…!“ „Na ja“ gibt Schwester Ulla leicht beleidigt zu verstehen – ich hatte die hohe Schneidekunst wohl nicht ausreichend gewürdigt – „Wir müssen eben tiefe Einschnitte vornehmen. Wir haben erst mal mit dem angefangen, was wir schon beherrschen. Amputationen.“
Klasse, man versteht sich hier bestens auf Sachen ohne Hand und Fuß…
Die Frau schlägt, von Schmerzen gezeichnet ihre Augen auf und wird von der allgegenwärtigen Ulla angegrinst: „ Wie geht es Ihnen, Frau Reform?“ Beim Anblick Schwester Ullas sinkt das arme Wesen zurück in seinen apathischen Zustand. Rasch wird ihre Pritsche von zwei Weißkitteln durch die, ebenfalls mit Vorhängen abgeschottete Hintertür geschoben.
Konnte man überhaupt eine derartige Stümperei überleben? Warum hatte man hier so leichtfertig an ihr herum geschnitten? Zu allem Überfluss macht sich gleich auch die Schwester wieder bemerkbar. „ Und jetzt haben sie alles gesehen, alles erklärt bekommen. Sie wissen nun, wir tun das menschenmögliche, um eine angemessene und bezahlbare Versorgung zu gewährleisten.“ spult sie ihren exakt eingeübten und anscheinend schon oft aufgesagten Spruch ab. „Und nun geben sie mir ihre Chipkarte! Wir wollen doch eine Nummer für sie ziehen.“
Meine Chipkarte? Wieso?... Nein! Ich muss raus hier… sofort! Ich werde mich nicht verhackstücken lassen, soll sich die Dame doch ein anderes Schaf suchen!
Raus, nur raus! Nix wie weg!
Meine Güte, wo ist jetzt diese Treppe?
So groß ist die Etage doch nicht, dass man sich verlaufen kann!
Ein Lift! Auch gut.
Jeder Weg nach draußen ist mir recht. Wäre mir recht, wenn dieser blöde Fahrstuhl funktionieren würde! Ich drücke Knöpfchen wie verrückt, aber nichts rührt sich.
„Sie sind wohl auch so eine?“ diesen provokanten Tonfall, in dem mehr Feststellung als Frage steckt, den hätte sich der unscheinbare Rollstuhlfahrer zu meiner Rechten schenken können. „Was für eine?“ Genervt versuche ich weiter, den Lift zu holen.
Wo bin ich hier nur hingeraten…
„Der Fahrstuhl braucht einen biometrischen Fingerabdruck, den er kennt. Sie haben sich also noch nicht erfassen lassen.“ Seine leise, kalte Stimme will leutselig klingen, schafft es aber nicht:„Was ist dagegen zu sagen? Wir kennen doch sowieso schon alles: Ihr Konto und die Festplatte Ihres PCs. Ihr Handy verrät uns, wann immer wir das wollen, Ihren Aufenthaltsort...“ Ein kleines, herablassendes Lächeln quält sich über seine Lippen, als er selbst den Knopf drückt und der Lift augenblicklich reagiert. „Sehn Sie, so einfach ist dann alles. Wird es bald auch für Sie sein…“

In diesem Irrenhaus sieht man mich nicht wieder. Das ganze muss ich jetzt erst mal sacken lassen, bei einer Tasse Cappuccino. Oder vielleicht doch was Stärkeres?
Für heute bin ich erleichtert, dass niemand weiß, wo ich das tun werde.
Ich habe nämlich gar kein Handy…

Letzte Aktualisierung: 24.07.2007 - 22.14 Uhr
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