Ende der Fahnenstange von Helga Rougui
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Eines Tages sagte eine Freundin zu ihr, komm mit, es gibt da eine neue Gruppe, die das Problem anders angeht, und sie dachte, was soll ich denn da, ich kenne alle, habe schon alle ausprobiert, amerikanische Gehirnwäsche hat mir noch gefehlt. Was sie nicht wußte zu dem Zeitpunkt, war, daß ihr tatächlich eine Gehirnwäsche fehlte, und die Freundin sagte, danach können wir zusammen essen gehen, und da sagte sie ja und ging mit.
Sie fuhren mit dem Auto zum Treffen, das in einem Altersheim stattfand, vor dem Haus waren alle Parkplätze besetzt, sie mußten dreißig Meter weiter fahren, und während die Freundin das Auto abschloß, schaute sie mutlos zurück auf den dreißig Meter langen Weg und dachte, wie soll ich das schaffen. Als sie ankamen im Foyer des Heims, war sie völlig fertig und außer Atem und halbtot und betrachtete die Alten um sich herum, von denen jeder besser beieinander war als sie. Im Treffen wurde besprochen, was sie schon wußte, woran sie sich aber nicht hielt. Immerhin zählte man anders, das schien ihr einfacher zu sein als die bisherige elende Kalorienzählerei. Sie bekam Informationsmaterial, blieb aber nach dem Treffen nicht zur allgemeinen Einweisung.
Sie fuhren zum Restaurant, ihre Freundin wollte vor dem Essen ein paar Schritte gehen bis zum nahegelegenen Flüßchen, und sie brauchte den Schwächeanfall nicht einmal vorzutäuschen, um diesen Gang zu verhindern. Nach der Vorspeise nahm sie lustlos Fisch mit Pasta und danach ein Tiramisú, von dem sie das Gefühl hatte, sie habe es nicht verdient.
Schluß damit, dachte sie, während sie das Restaurant verließen, Schluß mit diesem Leben, jetzt fährst du nach Hause und frißt dich endgültig zu Tode.
Aber sicher, meine Liebe.
Von solch hohler Dramatik würde sie auch nicht satt werden. Irgendwie war sie immer auf die falsche Weise satt, und das hatte dazu geführt, daß sie nacheinander die Form eines Nilpferds, dann eines Elefanten annahm, um sich schließlich als Walfisch wiederzufinden. Mode interessierte sie schon lange nicht mehr, sie kleidete sich in wallende riesige schwarze Gewänder, die sie aus einem Spezialgeschäft bezog. Als sie eines Tages eine Filiale in Münster besuchte, um wieder einen neuen, wenig schicken Sack zu kaufen, fiel ihr auf, daß sich genau nebenan ein Laden für Campingzubehör befand, und sie dachte amüsiert, na wenn die Klamotten von Hilla Mopken nicht mehr passen, weiß ich ja, wo ich das nächstgrößere Zelt herbekomme.
Nein, der Humor hatte sie eigentlich nie verlassen, dafür machte sich ihre Gesundheit langsam aber sicher vom Acker.
Sie hatte irgendwann festgestellt, daß sie sich nicht mehr bücken konnte. Ihr war, als würde sie einrosten, es grauste ihr davor, auf den Dachboden zu steigen mit dem schweren Wäschekorb, drei Etagen ging sie Stufe für Stufe die Treppe hoch wie eine alte Frau, die sie nicht war, und ihre Knie schmerzten, wenn sie Stufe um Stufe wieder hinunterstieg wie eine alte Frau, die sie nicht war. Sie versuchte Fahrrad zu fahren, was ihr nur mühselig gelang, sie konnte sich vor Rückenschmerzen kaum mehr rühren, ein Fußweg von zehn Minuten schien ihr ein unüberwindlich langer Marsch.
Sie ging zu einem Arzt, der ihr bestätigte, was sie schon längst wußte.
So konnte, so durfte es nicht weitergehen. Es ging aber so weiter. Denn sie hatte alle Diäten schon hinter sich und würde keine mehr machen. Aber ihr schmeckte auch nichts mehr, all ihre Freunde - Pizza Salami mit extra Käse, Spaghetti mit Gorgonzola und Sahnesoße, Weißwürste mit süßem Senf, Brötchen mit Butter und Teewurst und Leberwurst und Mayonnaise, gebratene Blutwurst ohne Himmel und Äd, Kartoffelchips, Mousse au chocolat, Sahnejoghurt, Sachertorte, fritierte Hähnchenflügel, Backfisch mit Remoulade, Frikadellen mit Kartoffelsalat, Currywurst mit Pommes Schranke – schmeckten plötzlich hohl und schal, alle gleich, es lohnte sich nicht mehr, überhaupt was auszuwählen, der Genuß war dahin. Das Essen mußte weich und fett sein, das war das einzige, was noch zählte, es betäubte sie, es schützte und lähmte sie, es verhinderte, daß sie auf die Idee kam, zu schreien. Mit vollem Mund schreit man nicht.
Sie wußte, daß es immer wieder Situationen in ihrem Leben gegeben hatte, mit denen sie nicht gut zurechtgekommen war, aber anstatt sie zu klären und Entscheidungen zu treffen, hatte sie stillgehalten, abgewartet, sich tot gestellt. Um das auszuhalten, mußte man sich abfüllen, sich eine Schutzschicht gegen die böse Außenwelt und gegen die massiven Selbstvorwürfe schaffen, auch mehrere Flaschen Sekt und Wein waren da durchaus hilfreich. Sie hätte jeden Bierkutscher unter den Tisch getrunken, wenn sie denn Bier getrunken hätte.
Wie hatte eigentlich alles angefangen?
Zuerst war da dieser Freund, Franzose, 30 Jahre älter als sie, Lektor an der Uni, verheiratet, ein Halbgott, den sie zu Unrecht vergötterte, und als seine Frau auszog, nicht ihretwegen, wie er versicherte, wollte er trotzdem nicht, daß sie bei ihm einzog, und sie nahm ihn zu seinen Bedingungen oder gar nicht, aber ihn aufzugeben schaffte sie nicht.
Dann lernte sie ihren Mann kennen, half ihm, tat alles Menschenmögliche, die Hochzeit ermöglichte es ihnen, in diesem Land weiter zusammen zu leben, zehn Jahre lang stellte sie seine Interessen über ihre und redete sich ein, es mache ihr nichts aus.
Dann war da der Kollege, der auf ihre Kosten und zu ihren Lasten rücksichtslos seine Interessen durchsetzte, und sie hatte wütend, hilf- und tatenlos dabeigestanden..
Dann, als ihre Mutter krank wurde, erstarrte sie, und je weiter die Krankheit sie zerstörte, um so kleiner machte sie sich, sie war wie gelähmt vor Angst bei dem Gedanken an ihren Tod.
Dann, als man ihren Vater aus dem Krankenhaus entließ, weil man nichts mehr für ihn tun konnte, und als sie einmal kam, um nach ihm zu sehen, fand sie ihn halb ausgezogen, verwirrt und zugleich klar in seinem Elend, und sie wußte, er würde nicht allein bleiben können in seiner Wohnung. Am Sonntagabend darauf fuhr sie hin, half der Pflegerin, ihn zu Bett zu bringen, da lag er, sehr dünn, leicht gekrümmt, verletzlich wie ein Kind, Unverständliches murmelnd im Schlaf. Sie fuhr nach Hause, ihr Mann hatte Nachtschicht, sie hatte einen Weinanfall und wußte nicht warum, am nächsten Morgen um halb acht starb ihr Vater, und über seine Abwesenheit kam sie jahrelang nicht hinweg.
Dann, während einer der vielen Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann, der sich vernachlässigt fühlte, weil sie ihn in ihrer gequälten Unaufmerksamkeit vernachlässigte und sich dazu, sagte er, er werde sie verlassen, und sie brach, als er aus dem Haus gegangen war, weinend zusammen, dachte an den Heulkrampf vor dem Tod ihres Vaters und wußte, es würde so kommen. Er verließ sie, und sie fühlte sich zwei Jahre lang wie ein heimatloser Hund.
Himmel noch mal, sie mußte feststellen, sie teilte sich immer die Opferrolle zu, aber sie war kein Opfer, sie hatte sich frei entschieden, so, wie sie es tat, zu reagieren – oder besser gar nicht zu reagieren, kauend und schluckend das Leben an sich vorbeiziehen zu sehen und ansonsten zu machen, was die anderen wollten – nuuuur keinen Ärger , sie wollte ja geliebt werden, also mußte sie funktionieren. Den einzigen Menschen, den sie überhaupt nicht mehr abkonnte mit der Zeit, war sie selbst.
Und nun diese Gruppe, die ihr gezeigt hatte, es lohne sich vielleicht doch noch mal, sich für sich selbst einzusetzen - ein „alles vorbei“ oder ein „eh zu spät“ gibt es nur, wenn man es zuläßt – und warum nicht zur Abwechslung nett zu sich selber sein und sich um das eigene Wohlbefinden kümmern?
Aber das war doch schwer, oder?
Andererseits – was hatte sie zu verlieren?
Fast ein Jahr später, wie immer am 14. Juli, feierte die französische Gemeinde in glanzvollem Rahmen ihr traditionelles Frankreichfest, gestern war die feierliche Eröffnung gewesen, heute gab es das Oldtimerdéfilé und ein abwechslungsreiches Bühnenprogramm, kulinarisch durch diverse erstklassige Anbieter unterstützt, die eine höchst appetitliche Performance französischer Eßkultur präsentierten. Wie jedes Jahr, diesmal im Innenhof des Rathauses, war auch der Austernstand dabei, mit Champagner, Weinen von der Loire und von der Ile d’Oléron und zartfleischigen Molluskeln bien sûr, also alles très comme il faut, sogar die Sonne brannte zum ersten Mal richtig heiß in diesem Sommer. Als sie und ihr neuer süßer Freund sich dem Stand näherten, konnte sie schon von weitem ihre 14. Juli-Freunde sehen, ein Ehepaar, das sie einmal im Jahr eben zu dieser Gelegenheit traf. Man winkte sich zu, sie stellte ihren Freund vor, und dann, sag mal, wir hätten dich kaum wiedererkannt, wo sind denn deine ganzen Kilos geblieben.
Ja, dachte sie, wo sind sie hin.Weg sind sie, glücklicherweise.
Als ich am Ende war, als ich so weit unten war, daß es nicht mehr weiter nach unten ging, habe ich einen Entschluß gefaßt.
Ich habe angefangen, mich meinen Feigheiten zu stellen, ich habe angefangen zu kämpfen.
Ich habe mich verändert, aber ich weiß, ich bin auch dieselbe geblieben – und hier liegt die Gefahr.
Die alten Gewohnheiten sitzen tief, und eingefahrene Reaktionen hat man immer schneller parat als neu erworbene Verhaltensweisen.
Meine neue Beziehung möchte ich mit Genuß und Leichtigkeit führen, mir meiner selbst bewußt bleiben in unserer Liebe und seine Liebe zu mir ohne schlechtes Gewissen annehmen.
Ich achte auf die anderen, aber ich achte auch auf mich.
Ich werde leben. Ich werde nicht mehr bei lebendigem Leibe tot sein.
Ich gehe nicht mehr zurück. Nie mehr.
Und nie mehr wieder Walfischkleider in Größe 58.
Sie trat näher an den Tisch, lächelte ihren Freunden zu und sagte, ach, wißt ihr, irgendwann muß man doch mal ausm Quark kommen, Schluß damit, hab ich mir gesagt, und mein Arzt sagt auch, also schon wegen der Gesundheit, und überhaupt, die Lebensqualität …ist denn der Weißwein so gut wie letztes Jahr?
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Letzte Aktualisierung: 18.07.2007 - 20.31 Uhr Dieser Text enthält 10017 Zeichen. Druckversion |