Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
Freiheit ist ein Minusbegriff. Er bezeichnet die Abwesenheit eines Idealzustandes, von dem wir nicht allzu genau wissen, was er eigentlich beinhaltet. Die Schwierigkeit besteht darin, Freiheit zu bemerken, wenn sie auf ein halbes Stündchen vorbeischaut.
Heinrich sah von der PC- Tastatur auf. Revolutionär, was er da geschrieben hatte. Einer der vielen Sätze, die geduldig auf der Festplatte gespeichert ein binäres Dasein fristeten. Würde irgendjemand seine, Heinrichs, Einsichten jemals würdigen- mit Ausnahme des PC- Doktors, der nach dem allmonatlichen Absturz den PC wieder zur Ordnung rufen und dabei eher zufällig auf einen dieser Sätze stoßen würde? In diesem Sinne binär- wiederentdeckt oder auf der Festplatte vergessen.
"Heinrich, ich sag's nicht noch mal!" rief Anja aus der Küche. „Wir essen jetzt!“
"Wollen wir wetten?" murmelte Heinrich, für sie unhörbar. Er fuhr den PC herunter und ging in die Küche. Ein schneller Blick, Besteck und Gläser fehlten noch, er komplettierte das Bild des gedeckten Tisches, bevor er sich setzte. War das unfrei oder aufmerksam? Seine Eltern hatten sich nicht auf einen Namen einigen können. Darum hieß er nach dem Opa Heinrich. Die Mutter und die Oma hatten sich immer gestritten, wann sein Namenstag war. Am Ende feierten sie zweimal. Andere legten fest, was er war und wann er es war. Einmal nicht er sein. Vater, Ehemann, Tischdecker, Zum- Essen- Kommer, Heinrich.
"Ich möchte einmal wirklich frei sein", verkündete er zwischen Tomaten und Käsebrot. Die Kinder, Anna- Lena und Kevin, aßen unbekümmert weiter. Anja neben ihm horchte auf.
"Wie jetzt?"
Heinrich wusste, dass ihn in seiner Klasse viele beneidet hatten, als er mit Anja ging. Ihr Gesicht, ihre unbekümmerte Art, die unglaublich engen Hosen, die sie tragen konnte, die ironischen Antworten, die sie den Lehrern gab. Damals stand Anja sehr hoch im Kurs. Aber ihre ersten Verabredungen waren schon damals von ihr ausgegangen. Er hatte ihr Englisch- Nachhilfe gegeben. Sonst hätte Heinrich nie ein Wort mit ihr gewechselt. Er hatte ein E- Mann- zipationsproblem. Frauen standen grundsätzlich fünf bis sieben Meter über ihm.
"Na, frei, einmal keine Rücksicht nehmen müssen. Tun, was ich will. Keine Rolle ausfüllen, nicht ich selbst sein."
"Verstehe ich nicht." Es folgte ein Grundsatzvortrag über Kompromisse und Anpassung. Heinrich nickte und sagte dann: "Ich verstehe. Trotzdem, ich fühle mich unfrei. Ab heute mache ich Schluss damit. Morgen breche ich auf, die Freiheit zu suchen."
"Und wie lange dauert so was?" fragte Anja bissig.
"Eine Woche bis 14 Tage", antwortete er. "Eher zwei Wochen. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis man es wirklich fühlen kann. Und morgen ziehe ich mein ungebügeltes weißes Hemd zur Arbeit an."
"Aber das geht doch nicht!"
"Das geht wie verrückt- Schrank auf, ungebügeltes Hemd an, Schrank zu. Ich frage die Ökos, ob sie mir den lila Bulli leihen." Die Kinder kommentierten mit Au Ja's! und wollten mitfahren. Anja schüttelte nur den Kopf.
"Mit denen haben wir doch gar nichts zu tun."
"Eben. Wir sehen die bunte Gesellschaft immer nur durchs Fenster bei ihren Mate- Tee- Parties. Bisher sind die positiven Schwingungen noch nicht bis zu uns rübergekommen. Kann ja auch daran liegen, dass man immer nur durchs Fenster beobachtet."
Anja konnte ihn nicht von der Idee abbringen. Sein Chef, Herr Beryll, in der Firma ebenso wenig. Er ruderte wie üblich hektisch mit den Armen und schob die Designer- Brille noch häufiger als sonst die Nase hinauf.
"Das geht doch nicht. Wir stecken mitten in der Entwicklung!" Sie mussten eine komplizierte Steuerungsanlage bauen.
"Da stecken wir doch immer. Ich flüstere meiner Frau im Bett schon Programmiersprache ins Ohr und denke nur noch an den Aufbau von Platinen. Ich muss hier raus. Sonst drehe ich noch durch."
"Aber Heinzi...!"
"Es hat sich ausgeheinziet. Zwei Wochen."
"Sag mal- wir haben eine Urlaubsplanung!"
"Man plant nur, wenn man unbeweglich ist. Drei Wochen."
"Zwei."
"Hand drauf!"
Sie schlugen ein.
"Mann, ich hab ja schon manche Lebenskrise erlebt."
"Das hier war aber noch keine. Die sieht anders aus."
Herr Beryll zuckte die Schultern. Er ahnte vielleicht Schlimmes. Heinrich war selbst überrascht, wie leicht er seinen Weg bahnen konnte. Er hatte sich die Jahre zuvor zuwenig zugetraut.
"Die beiden heißen übrigens Mattes und Bine", erklärte Heinrich, als er mit dem Bulli wiederkam. "Das war gar kein Thema. Ich hab mit Mattes noch ein links drehendes Bio- Weizen getrunken, danach waren wir total sozialistisch. Der Bulli gehört allen. Total intensive Sache, sagt er, was ich vorhabe. Irgendwie neben der Spur, die beiden, aber nett."
Heinrich packte seine Reisetasche.
"Was willst du denn tun?" fragte Anja, mit diesem Ton in der Stimme, der von nahenden Tränen kündete.
"Ich lese Irvings Wilde Geschichte vom Wassertrinker. Dann suche ich mit Merrill Overturf den Panzer auf dem Grunde der Donau."
"Bitte, was?"
"Ach, das ist nur ein Spruch, eine Allegorie."
"Hast du die Tabletten mit für deine Allergie?"
Heinrich berührte zärtlich ihr Kinn. Sie wollte von Allegorien nichts wissen. "Ich habe alles, was ich brauche, auch die Freiheit, etwas zu vergessen." Anja ging ins Haus. Heinrich wollte ihr erst nachgehen. Er wusste, dass er dann nicht fahren würde. Er startete den lilagrünen Bulli und steuerte ihn zur A2.
Er hatte seine alten Kassetten mitgenommen und sang zu den Songs mit, die ihn früher begleitet hatten. Als er verheiratet war, hatte er seine Musik immer ausgestellt, wenn Anja das Zimmer betrat. Er fragte sich, wie frei er sein wollte. Warum hatte er zuhause nicht einfach seine Musik weiter laufen lassen?
Hinter Hannover überwältigte ihn das schlechte Gewissen. Wie konnte er so egoistisch sein? Er wollte heimfahren. Nur würde ihn Anja kaum mit ausgebreiteten Armen empfangen. Sie würde ihn erst ihre Wut spüren lassen. Nicht lautstark, eher diese kalte Distanz, in der jedes Wort ein Geräusch macht, als ob ein Fingernagel über eine Schultafel kratzt. Also konnte er seine Reise auch fortsetzen.
Die ungewisse Fahrtroute machte ihm Magenkrämpfe. Er hinterließ einige stinkende Tankstellentoiletten. Er erreichte Magdeburg. Heinrich genoss die endlosen Allee- Straßen Sachsen- Anhalts. Er parkte den Bulli einfach irgendwo und lauschte dem Rauschen der Bäume. Einmal rauschten die so regelmäßig, dass er entschied: Es handelt sich wohl eher um eine Autobahn. Er besuchte Schwimmbäder, putzte sich mit Mineralwasser die Zähne, nahm dann die Straße nach Thüringen und schaute sich Erfurt an.
In der Altstadt warb das Daheym mit dem Krämerbrückenfest. Heinrich betrat abends die Kneipe. Er setzte sich an einen Tisch und bestellte ein großes Bier. Das Krämerbrückenfest bot in seinen Augen nicht mehr Unterhaltung als jeder andere Kneipenabend. Am Nachbartisch saßen zwei Frauen. Eine trug ein in Badeanzugform geschnittenes weißes Top und Heinrichs Blick blieb oft auf ihrer perfekten Haut hängen, unter deren seidigem Schimmer er ihr Muskelspiel sehen konnte, wenn sie gestikulierte. Sie schrieb scheinbar etwas und zeigte es regelmäßig der anderen Frau. Sie hatte langes, dunkles Haar. Ihre Begleiterin bemerkte seine Versuche, nicht hinüberzustarren, und winkte ihm zu.
"Komm rüber", sagte sie. Heinrich nahm sein Glas und setzte sich zu den beiden Frauen. Sie mussten Mutter und Tochter sein.
"Ich bin Ethik und das ist meine Tochter, Freiheit", stellte die Ältere sich vor. Eine gut aufgelegt wirkende Frau um die Fünfzig, Bluse mit Zeitungsaufdruck, blonde Strähnchen und gewitzt dreinschauende blaue Augen.
Heinrich glaubte, sich verhört zu haben.
"Ethik und ihre Tochter Freiheit", sagte Ethik. "Freiheit ist die Tochter der Ethik. Oder Ethik die Mutter der Freiheit. Interessant wird die Frage, wie die Kinder der Freiheit heißen. Nu schau nicht so belämmert drein: Ich heiß richtig Edith, aber unsere Nachbarin von drei hatte ein Konsonantenproblem. Sie sagte immer Etik. Der Name blieb. Und wir haben unser Kind Freiheit genannt, weil wir sie am 9. November 89 gezeugt haben, als die Mauer fiel. Na ja, der Vater der Freiheit ist getürmt, als es ihm mit ihr zu anstrengend wurde. Übrig geblieben sind wir zwei, Freiheit und Ethik. In der Geburtsurkunde Freya, wegen eines Kamels von Standesbeamten. Aber für mich schon immer Freiheit."
"Ich bin Bernd", stellte sich Heinrich vor. "Interessanter Name, Freiheit", sprach er die Tochter an. Die Oberlippe der jungen Frau rutschte mit einem bezaubernden Lächeln über ihre weiß glänzenden Zähne. Heinrich war hingerissen.
"Natürlich", nickte die Mutter, "aber meine Tochter ist leider stumm."
Heinrich sprach mit Ethik. Sie leerten manches Glas, die beiden Frauen luden ihn ein. Es gab Momente, in denen Heinrich sich fragte, ob Ethik mit ihm flirtete. Freiheit schien in sich selbst versunken. Wenn ihre Blicke sich trafen, lächelte sie nur, blieb aber unbeteiligt. Heinrich stellte sich nach drei Bier versonnen vor, dass ihm Ethik vorschlagen würde, mit zwei Frauen ins Bett zu gehen. Doch das blieb eine Männerphantasie. Die Mutter der Freiheit hatte den falschen Namen.
Heinrich blieb in Erfurt. Er ging noch einige Male ins Daheym. Doch die beiden Frauen traf er nicht wieder. Er hatte die Freiheit einmal gefunden. Sie würde ihm in diesen seinem Leben abgerungenen Wochen kaum ein zweites Mal begegnen. Er fuhr nach den 14 Tagen, die er Anja angekündigt hatte, wieder heim.
Als er zuhause aus dem lila Bulli stieg, lachte Anja laut los. "Willkommen zu Hause, oller Waldschrat!" rief sie. Er hatte sich nicht rasiert.
"Wie ist es dir ergangen?"
"Ethik ist die Mutter der Freiheit. Der Vater ist getürmt, als es ihm mit der Freiheit zu anstrengend wurde. Die Freiheit ist wunderschön", orakelte er, als er seine Frau in die Arme nahm, "aber sie ist leider stumm."
Letzte Aktualisierung: 16.07.2007 - 18.31 Uhr Dieser Text enthält 9818 Zeichen.