Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Juli 2007
Hamsterlauf
von Sylvia Seelert


Mitten auf der Treppe bleibe ich stehen. Es riecht leicht süßlich und stechend. Meine Nasenflügel zittern ein wenig, während der Geruch zu meinem Gehirn quillt und graue Fäden spinnt. Die Ausdünstung der Arztpraxis schlägt mir schon auf den ersten Stufen entgegen und löst die unterschiedlichsten Empfindungen aus. Steril, denke ich. Abermillionen von Keimen, die mit Desinfektionsmitteln bekämpft werden. Krank, schießt es mir als nächstes durch den Kopf. Menschen mit Geschichten, die ihren Weg in die keimfreie Praxis gefunden und dort ihre Spuren hinterlassen haben.
Für einen Moment schließe ich die Augen und lasse den Geruch auf mich wirken. Kälte streicht an meinen Füßen vorbei. Seufzend steige ich schließlich die letzten Stufen empor und melde mich bei einer dunkelhaarigen Frau an der Rezeption. Mein Geruch verliert sich in den kühlen Räumen.
Der Mechanismus der Praxis läuft reibungslos. Anmelden, warten, Test durchführen, wieder warten – bis ich zum Arzt hineingerufen werde. Sofort sehe ich die vielen Schatten, die in seinem Zimmer sitzen. Gespannt beugen sie ihre Körper zu mir.
„Ich mag das Licht nicht“, erzählte er mir mal. „Ich liebe die Kontraste. Die Schatten müssen scharf fallen.“
Nachdem mein Blick verständnislos geblieben war, setzte er nach.
„Wenn ich operiere, dann ist der Raum komplett dunkel. Bis auf die OP-Fläche. So sind die Konturen auf das Wesentliche reduziert.“
Etwas Licht fällt von der Schreibtischleuchte auf meine Testergebnisse. Ein konzentrischer Kreis, der nur durch seine Hand durchbrochen wird. Sein Zeigefinger zeichnet die Kurven nach. Schließlich blickt er zu mir auf.
„Das macht mir Sorgen.“
Sofort springt der Hamster in meinem Kopf in sein Rädchen und fängt an zu laufen.
„Ich will Sie in die Röhre schicken. Na ja, zumindest Ihren Schädel. Es wird ein MRT gemacht, eine Magnetresonanztomographie. Das funktioniert gänzlich ohne Röntgenstrahlen.“
Er lächelt mir aufmunternd zu und diktiert seiner Assistentin in Arztsprache die Überweisung. Störung ist das einzig verständliche Wort, das ich aufschnappen kann.
Der Wind wandert durch die weißen Lamellen des Fenstervorhangs. Hin und her. Ich nehme den Geruch von Leder wahr, in dem der Schweiß von Menschen eingesickert ist. Er kommt von dem Behandlungsstuhl, der verlassen in seiner Ecke kauert. Die Schatten im Zimmer sinken tiefer in ihre Sitze.
„Was für eine Störung meinen Sie?“, frage ich ihn.
„Nun ja“, sagt er gedehnt. „Ich will Sie nicht beunruhigen. Nur eine Möglichkeit ausschließen.“
Er schaut wieder auf die Testergebnisse.
„Bei der Störung könnte es sich um einen Tumor handeln.“
Der Hamster in seinem Laufrädchen kommt nun auf Hochtouren. Das braun-weiße Fell weht ihm beim Laufen um die Beine.
Ein Tumor in meinem Kopf? Wildwucherndes Gewebe, das alles verdrängt, was sich ihm in den Weg stellt. Ich kann den Druck schon in meinem Kopf fühlen. Es muss die Hälfte meines Gehirns bereits an die Schädelwand gedrängt haben.
Kälte hockt auf meinen Füßen. Sie zieht sich an meinen Beinen hoch, erzeugt dabei mit jeder Berührung einen Schauer auf meiner Haut, der seine Wellen bis zu meinem Herz schlägt.
„Bitte lassen Sie die Überweisung noch vorne an der Rezeption abstempeln.“ Er drückt mir einen gelben Zettel in meine eiskalte Hand.
Werde ich sterben? Und wer kümmert sich um meine Katzen, wenn ich nicht mehr da bin? Was werden meine Eltern sagen? Ich fürchte, der Gram wird sie um den Verstand bringen.
Ich will eine schöne Beerdigung. Entspannende, fröhliche Musik soll gespielt werden. Keine dumpfe Trauerrede. Nein, der Priester soll meinen Eltern und Freunden Mut zusprechen. Werden Sie mich wohl vermissen, wenn ich nicht mehr da bin? Ich will blaue Blumenkränze haben, keine weißen. Oder noch lieber: nur Rosen. Dunkelrote.
Der Hamster fliegt durch das Rad; seine Beinchen sind nur noch verwischte Bewegung. Die Kälte sitzt nun auf meiner Brust, zieht ihre Arme fest um mich und presst die letzte Luft aus meinen Lungen.
Es wird schwarz vor meinen Augen.
Schließlich zieht sich die Brustmuskulatur reflexartig zusammen und Luft schießt in meine Lungenflügel zurück. Der Brustkorb sprengt die Umarmung, in die er gefangen liegt.
„Stopp!“ Das Wort durchpulst bestimmend meinen Atemzug.
Der Hamster hebt erschrocken den Kopf, verliert seinen Laufrhythmus, stolpert und dreht sich ein letztes Mal mit dem Rad mit. Schwer atmend bleibt er liegen. Der Schweiß hat sein Fell dunkel gefärbt.
„Das ist nur eine Möglichkeit“, sage ich zu dem Arzt.
Er nickt, offenbar erleichtert über meine Reaktion.
„Das ist richtig. Die Schwankungen in den Kurven könnten auch durch eine Durchblutungsstörung verursacht worden sein. Ich wäre jedoch kein guter Arzt, wenn ich nicht alle Möglichkeiten abwägen und ausschließen würde. Also machen Sie sich bitte keine Sorgen.“
Wir geben uns die Hand. Die Lamellen des Fenstervorhangs sind nun ganz still. Etwas Sonnenlicht fällt durch ihre Ritzen und die Schatten ducken sich davor.
Am Ende der Treppe bleibe ich wieder stehen. Der Geruch von feuchter Erde nach einem leichten Sommerregen liegt in der Luft. Frische zieht durch die geöffnete Eingangstür bis ins Treppenhaus hinauf. Tief atme ich ein und lasse den Hamster aus seinem Käfig.

Letzte Aktualisierung: 18.07.2007 - 02.34 Uhr
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