Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten- Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
Ein Mann mit hängenden Mundwinkeln öffnete Anne die Wohnungstür und zeigte wortlos zu einer Tür.
Der Geruch von Krankheit und seltenem Lüften schlug Anne entgegen. In einem riesigen Bett lag eine zerbrechliche alte Dame, deren weiße Haare strähnig die hervorstehenden blassen Wangenknochen umrahmten. Mit wässerigen Augen blickte sie der fremden Frau entgegen, die zielstrebig das Bett ansteuerte.
„Guten Tag, Frau Hegerl, ich bin Schwester Anne.“ Sanft ergriff sie die Hand der Alten und beugte sich über das Bett. „Ich möchte Ihnen ab heute Gesellschaft leisten und mich ein wenig um Sie kümmern.“ Liebevoll streichelte sie die magere Hand der Bettlägerigen. Helene Hegerl musterte sie prüfend, aber dann leuchteten ihre Augen, und ein Lächeln glitt über das ausgemergelte Gesicht. Fast unmerklich nickte sie.
Anne drehte sich nun den beiden Personen zu, die sie die ganze Zeit beobachteten. Eine müde aussehende Frau mittleren Alters und ein großer schlanker Mittdreißiger mit stahlblauen Augen. „Entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, zuerst diejenigen zu begrüßen, deretwegen ich gekommen bin.“ Anne sah die Frau an. „Sind Sie die Tochter von Frau Hegerl? Sie waren gestern in der Sozialstation und baten um Unterstützung?“
„Christa Sankowski. Schön, dass Sie es so schnell einrichten konnten.“ Sie ergriff Annes Hand. „Das ist Dr. Link, der behandelnde Arzt meiner Mutter.“
Anne begrüßte auch ihn. „Ich hoffe, wir werden gut zusammen arbeiten.“
„Davon bin ich überzeugt“, sagte er, nickte zufrieden und begann, in seiner Tasche nach etwas zu suchen. „So, Frau Hegerl, ich gebe Ihnen noch eine Aufbauspritze, damit werden Sie sich besser fühlen.“ Rasch verabreichte er die Spritze. „Morgen komme ich wieder und schaue, wie es Ihnen geht. In Ordnung?“
„Danke, Herr Doktor“, flüsterte die Alte mit brüchiger Stimme.
„Haben Sie etwas dagegen, dass wir ein bisschen frische Luft herein lassen?“ Anne wandte sich dem Fenster zu, als Helene ihre Tochter mit scharfer und keineswegs brüchiger Stimme anherrschte.
„Was stehst du da rum, Du Faulheit in Person? Beweg dich, mach das Essen fertig, und hör auf, Löcher in die Luft zu starren.“ Erstaunt blieb Anne stehen und sah erst die Alte und dann Christa an. Diese verließ wortlos das Zimmer. „... und sieh zu, dass das Essen nicht wieder eiskalt ist. So, wie gestern“, rief Helene noch hinterher, schluchzte aber in dem Moment auf, in dem die Tür ins Schloss fiel.
Anne ging zum Bett. „Helene? Ich darf Sie doch Helene nennen?“ Die Alte nickte. „Warum weinen Sie denn?“
Helenes Stimme klang wieder zerbrechlich. „Ach, wissen Sie, ich habe es nicht leicht mit meiner Tochter. Ständig quält sie mich.“
„Ihre Tochter quält Sie?“
„Sie schikaniert mich. Ich bin so verzweifelt. Jeden Tag bekomme ich kaltes Essen, und beim Waschen tut sie mir immer weh.“
Wortlos saß Anne bei der alten Dame und wartete, dass diese weiter sprach. „Außerdem“, schluchzte Helene erneut. „Außerdem hat sie nie Zeit für mich. Immer bin ich alleine. Hier, in diesem Bett, in diesem Zimmer. Verdammt, bis zu meinem Tode.“
„Haben Sie Angst vor dem Tod?“, fragte Anne sanft.
„Angst vor dem Tod? Nein, ich habe keine Angst. Alles ist besser, als das hier.“ Sie weinte wieder. „Seit dem Schlaganfall ist nichts mehr wie früher. Nichts geht mehr, ich bin nur der Gnade meiner Tochter und ihrem Versager von Mann ausgeliefert.“
„Möchten Sie denn sterben?“
„Ich werde wohl nie wieder gesund, oder?“
„Nein, vermutlich nicht.“
Helene dachte nach. Die Minuten vergingen. „Ja.“ Entschlossen sah sie Anne an. „Ja, ich möchte sterben.“
„Sind Sie sicher?“
„Es ist Zeit für mich.“
„Nun warten Sie doch erst einmal ab. Jetzt kümmere ich mich um Sie. Ich lasse nicht zu, dass sie leiden müssen.“ Anne stand auf und schüttelte das Kissen von Helene zurecht. „Alles wird gut. Ich verspreche es.“
Verträumt sah Helene zum Fenster. „Wenn ich sterbe, werde ich meinen Knut wieder sehen.“
„Ja“, erwiderte Anne sanft. „Ich hoffe für Sie, dass er sie abholen wird, wenn Sie hinübergehen.“
„Oh ja, das wird er bestimmt.“ Helenes Stimme klang fest. „Er war schon zweimal hier und wollte mich mitnehmen.“
Anne streichelte Helene noch einmal über die Wange und verließ das Zimmer, aber nicht, ohne sich an der Tür noch einmal umzudrehen.
Anne fand Christa in der Küche, wo diese schniefend Kartoffeln schälte. Wortlos setzte sie sich ihr gegenüber.
„Ich weiß nicht, wie ich es meiner Mutter Recht machen soll. Sie wird mit jedem Tag böser. Dabei gebe ich mir doch solche Mühe, bin immer für sie da.“ Sie sah Anne mit roten Augen an. „Aber ich habe auch noch einen Mann und einen Haushalt, um den ich mich kümmern muss.“
Als hätte er die Worte seiner Frau gehört, betrat Peter Sankowski die Küche, setzte sich und sah von einer zur anderen.
„Wir haben gerade über Mama gesprochen“, fühlte sich Christa veranlasst zu sagen.
Peter griff nach einer Kartoffel und drehte sie in den Händen hin und her. „Mach dir nicht so viele Gedanken, Christa. Du gehst sonst noch vor die Hunde. Deine Mutter ist schwer krank, und vielleicht lebt sie ja nicht mehr lange.“ Entsetztes Schweigen schwebte durch die Küche. „Das wäre wohl wirklich das Beste. Für uns alle“, fügte er noch hinzu.
Erschrocken sah Christa ihren Mann an. „Wie kannst Du nur so etwas sagen? Mutter war immer für mich da.“ Sie stockte. „Und wenn ich mich recht erinnere, war sie auch für dich da, als deine Firma drohte, Bankrott zu gehen.“
„Ja.“ Peter senkte den Blick. Die Erinnerung an diesen Moment war ihm sichtbar unangenehm.
„Was hast Du vor?“ Christa klang gereizt. „Willst Du meine Mutter umbringen?“
Peter sah seine Frau an. „Wer weiß?“, erwiderte er trotzig und knallte die Kartoffel auf den Tisch. „Immerhin dreht sich alles nur noch um sie. Mutter hier, Mutter da. Schöne Ehe ist das.“ Wütend stand er auf und verließ die Küche.
Schluchzend warf Christa das Kartoffelmesser in den Topf und holte sich ein Taschentuch. „Wissen Sie, was das Schlimmste ist?“ Christa sah Anne mit verweinten Augen an. „Er hat ja Recht.“ Sie putzte sich die Nase und setzte sich wieder. „Ich schäme mich fast, es zu sagen, aber hin und wieder hatte ich selber schon diesen Gedanken. Wenn sie endlich tot wäre, würde alles wieder gut werden.“
Anne griff nach Christas Hand und drückte sie kurz. „Ich werde mal nach Ihrer Mutter sehen. Vielleicht schläft sie ja schon.“
Leise schlüpfte Anne in Helenes Zimmer. Diese hielt die Augen geschlossen, und ihr Atem ging leicht und gleichmäßig. Auf Zehenspitzen schlich Anne zu dem Bett, ergriff das Kopfkissen von der anderen Bettseite und drückte es kurz entschlossen auf Helenes Gesicht. Helene wehrte sich nicht einmal. Alles ging leise vor sich, und zu Ende. Ordentlich legte Anne das Kissen wieder zurück.
„Ihre Mutter schläft“, rief Anne in die Küche, während sie sich im Flur ihre Jacke anzog. „Für heute sollten Sie Ruhe haben. Lassen Sie sie einfach schlafen, ich komme morgen früh wieder.“ Draußen warf sie einen Blick zum Himmel und lächelte.
„Kommen Sie“, begrüßte Peter sie mit düsterer Miene am nächsten Morgen. Dr. Link stand über Helenes Bett gebeugt da. „Es tut mir Leid. Ihre Mutter ist tot.“ Er sah Christa prüfend an. „Aber sie ist keines natürlichen Todes gestorben. Sie wurde erstickt.“ Christa schluchzte auf.
„Du! Du warst es.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht sah Christa Peter an. „Du hast sie umgebracht.“
„Wie kannst Du so etwas behaupten?“ Peter war verletzt. „Du selber hast mir gestern zugestimmt, dass es eigentlich für alle das Beste sei, wenn sie tot wäre. Wenn jemand ein Motiv hätte, dann doch wohl du.“
„Aber ich war es nicht“, fauchte Christa zurück.
„Als ich gestern nach Hause ging, war alles in Ordnung“, sagte Anne an Dr. Link gewandt. „Frau Hegerl schlief friedlich.“ Anne wandte sich an Christa. „Waren Sie denn gestern noch einmal bei Ihrer Mutter?“
„Ja“, gab sie zu. „Ich habe zur Tür hinein gesehen. Aber sie lag so friedlich da, dass ich sie nicht stören wollte. Wenn ich gewusst hätte, ...“ Sie stockte. „Aber ich habe sie doch nicht umgebracht.“ Ihre Stimme klang verzweifelt. „Es war doch nur ... Ich habe das doch nicht so gemeint. Manchmal sagt man eben Dinge, die man nicht meint.“
„Was haben Sie ihr gespritzt, Doktor?“ fragte Peter. „Gestern ging es ihr noch gut und heute ist sie tot.“
Mitleidig sah ihn der Arzt an und holte sein Handy aus der Tasche. „So kommen wir nicht weiter. Es ist besser, wenn ich jetzt die Polizei rufe“, sagte er mit eisiger Stimme und begann, eine Nummer in das Telefon zu tippen.
„Ich muss hier raus“, sagte Peter knapp und verließ das Zimmer.
Dr. Link sah zu den beiden Frauen und dann zu der Toten. Ohne ein Wort zu sagen, legte er das Telefon neben seine Arzttasche, zog ein Formular und einen Kugelschreiber hervor und begann es auszufüllen. „Todesursache: Herzstillstand“, murmelte er leise vor sich hin, steckte seinen Stift ein. „Sie haben genug gelitten, denke ich“, sagte er zu Christa. „Lassen wir es sein, wie es ist. Fangen Sie wieder an zu leben. Es gibt Dinge im Leben, die sind eben nicht zu ändern. Wenn ich die Polizei rufe, wird Ihre Mutter auch nicht wieder lebendig.“ Er legte ihr als Geste des Trostes die Hand auf die Schulter und verließ die Wohnung.
Wenig später drückte Anne an der Tür von Elisabeth Sonntag auf den Klingelknopf. Eine Dame mit schlohweißem Haar öffnete ihr die Tür, und begrüßte sie herzlich. Anne musterte sie durch ihre Brille, zog ihre Jacke aus, und ließ sich in das abgedunkelte Zimmer führen, in dem die 90jährige Elisabeth in ihrem Bett lag. Wie ein dunkler Schatten stand neben dem Bett der Gemeindepfarrer in schwarzem Talar und las leise aus der Bibel vor.
„Guten Tag, Frau Sonntag, ich bin Schwester Anne.“ Sie ergriff die Hand der Alten und beugte sich über das Bett. „Ich möchte Ihnen ab heute Gesellschaft leisten und mich ein wenig um Sie kümmern.“ Liebevoll streichelte sie die mit Altersflecken übersäte Hand, während ein Lächeln der Dankbarkeit über das Gesicht der Bettlägerigen glitt.
Letzte Aktualisierung: 14.07.2007 - 21.12 Uhr Dieser Text enthält 10380 Zeichen.