'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Juli 2007
Träume
von Tina Hobein


Sie hasste dieses Gefühl, aus einem Traum aufzutauchen, diese leichte Panik vermischt mit dem Wunsch zu entkommen. Gleichzeitig liebte sie aber auch die tiefe, dunkle Schwere, die sie zwischen Traum und Erwachen umfing. Von den Träumen selbst blieb meist nicht viel mehr übrig, als ein paar zusammenhanglose Bilder und in letzter Zeit immer häufiger das Gefühl des Eingeschlossenseins. Langsam, um Tom nicht zu wecken, stand sie auf und ging in die Küche. Draußen zeigten sich erste graue Lichtstrahlen, die die Umgebung eher noch zu verdunkeln schienen, anstatt den Morgen anzukündigen. Sie nahm sich ein Glas und stellte es leer auf den Tisch, heute fehlte ihr einfach die Kraft, über den Tisch zu greifen, die Flasche mit Mineralwasser zu öffnen und das Glas zu füllen. Ihr Mund war trocken, aber sie konnte nicht genug Willen aufbringen, ihren Durst zu stillen. Während sie da saß und die Flasche anstarrte, versuchte sie das Ticken der Uhr zu ignorieren, das das Vergehen der Sekunden anzeigte. Sie fielen zu Boden und häuften sich zu Minuten und schließlich zu einer Stunde. Bald würde Tom aufstehen, sie fröhlich begrüßen, einen Gutenmorgenkuss verlangen. Schon seit einiger Zeit wehrte sich etwas in ihr dagegen, während etwas anderes in ihr daneben stand und die Szene traurig betrachtete. Sie selbst versuchte sich auf den Kuss zu konzentrieren und nicht an die Einkaufsliste zu denken oder die Katze, die in den Garten gelassen werden wollte.
Anders als den Anfang stellt man sich das Ende nie vor. Noch der leiseste Gedanke scheint es herbeizurufen. Seit beinahe fünf Jahren waren sie jetzt zusammen. Am Ende des Studiums waren sie sich auf einer Party begegnet, hatten sich gut unterhalten und sich danach öfter getroffen. Nichts Spektakuläres, keine Blitze, kein Weltstillstand, aber trotzdem schön. Irgendwie. Im Chaos der Klausuren war es schön gewesen, jemanden zu haben, der einen ab und zu im Arm hielt, mit dem man sich gemeinsam im Park den Frust aus dem Leib joggen konnte, dessen SMS auch die ödeste Vorlesung zu einem Highlight werden ließ. Als sie mit ungefähr zwölf Jahren begonnen hatte, von der Liebe ihres Lebens zu träumen, hatte am Beginn immer so etwas wie der Urknall gestanden. Tiefe Blicke, zarte Küsse, lange Gespräche, am besten im Mondschein. An diesem Konzept hatten sich im Laufe der Jahre nur Nuancen verändert. Selbst wenn es mal wieder nach mehreren Litern Tränen und endlosen Gesprächen mit Freundinnen in Frage gestellt worden war, ein kleiner Wunsch und seine Hoffnung waren geblieben.
Jetzt fragte sie sich, ob diese kindlichen Vorstellungen von Liebe überhaupt irgendwo anders existierten, als in Jungmädchenköpfen und in „Dirty Dancing“. Ob sie nicht endlich erwachsen genug sein sollte für das Ende. Es war schwer zu sagen, ob sie Tom liebte. An manchen Tagen konnte sie darauf direkt mit einem Ja antworten, an anderen musste sie sich vor Augen halten, was sie an ihm liebte und manchmal wischte sie die Frage einfach weg, indem sie eine kurze Zeit die Augen ganz fest zusammenkniff und danach wartete, bis die kleinen silbernen Punkte verschwanden, die auf ihrer Wirklichkeit tanzten. Besonders von der Idee, nächtelang über Gott und die Welt zu reden, war wenig übrig geblieben. Sie konnte seine Träume, seine Wünsche nur erahnen, merkte, wann es ihm schlecht ging, hatte es aber inzwischen aufgegeben, ihn nach den Gründen zu fragen. Seit einiger Zeit merkte sie, dass sie manchmal bewusst wegsah, wenn er grübelnd über seinem Computer saß oder stundenlang mit dem Rad unterwegs war. Wer weiß, vielleicht hatte das in letzter Zeit auch oft mit ihr zu tun, aber sie konnte ihn nicht mehr fragen. Sie schwieg selbst schon zu lange.
Draußen zwitscherten die Vögel und die ersten orange-goldenen Sonnenstrahlen quälten sich durch das Grau. Es würde wieder ein heißer, langer Tag werden, ein Tag, der hoffentlich genug Ablenkung bot. Sicher hatte es immer mal wieder Zeiten gegeben, in denen sie sich gegenseitig auf den Wecker gingen, in denen sie seine Eigenarten so sehr störten, dass sie es kaum ertragen konnte. Aber es wurde immer mehr als ausgeglichen durch Momente, in denen sie genau zu wissen schien, warum sie mit ihm ihr Leben teilen wollte. Dann sagte sie sich, dass der Wunsch nach langen Gesprächen doch intellektueller Mist sei oder wahlweise ein Element der kitschigsten Frauenromane. Reden bis in die Nacht, womöglich noch mit einem Glas Wein in der Hand, den Kopf in seinem Schoß und über uns die Sterne, die noch nie so hell geleuchtet hatten wie in dieser Nacht – lächerlich. Und trotzdem, sie wollte es sich fast nicht eingestehen, hätte sie gerne mit ihm über den Film geredet, den sie letzte Woche gesehen und der sie so beeindruckt hatte. Tom wollte nicht einmal mitgehen, das interessiere ihn nicht, zuwenig Action. Zum Abschied hatte er ihr einen langen Kuss auf den Mund gegeben. Als sie das Pärchen am Eingang vom Kino sah, schon mit Mitte zwanzig im Partnerlook gestrandet, hatte sie sich noch gefreut, dass sie sich in ihrer Beziehung so viel Eigenständigkeit bewahren konnten. Immer noch zwei waren. Am Ende des Films war sie schnell zur Bushaltestelle gegangen, musste aber trotzdem fast eine Viertelstunde lang warten. Im Kopf blitzten einzelne Szenen des Films wieder auf, Dialoge, Gesten. Auf der anderen Seite war wieder das Pärchen vorbeigegangen, das ihr vorher aufgefallen war. Sie unterhielten sich angeregt und es schien, als hätten sie die Welt um sich vergessen. In dem Moment hätte es ihr nichts ausgemacht, die gleiche Jacke wie Tom zu tragen, vielleicht noch die gleichen Schuh und dafür von Anderen belächelt zu werden.
Zuhause hatte er sie in den Arm genommen und sie hatten noch auf dem Sofa gesessen und ferngesehen. Die ganze Zeit hatte sie auf eine Frage gewartet und war schließlich mit einem leeren Gefühl im Bauch ins Bett gegangen, das seitdem nicht mehr richtig verschwunden war. Es gelang ihr kaum noch, über Alltagsdinge mit ihm zu reden, sie mussten dringend einen neuen Schrank kaufen, doch sie hörte die Frage nach den neuesten Prospekten kaum, wenn in ihrem Hinterkopf eine Stimme ständig vom Aufhören schrie. Bis jetzt war es ihr noch nicht gelungen herauszufinden, was diese Stimme ihr damit sagen wollte, womit wer aufhören sollte.
Langsam stand sie auf, ging zum Fenster und lehnte ihren Kopf gegen das Glas. Die ersten Frühaufsteher stiegen in ihre Autos, um zur Arbeit zu fahren und hinter einigen erleuchteten Fenstern stritten Schulkinder um ein paar Minuten mehr Schlaf. Sie ging zurück ins Schlafzimmer, so leise wie sie gegangen war. Tom atmete ruhig, wie immer lag sein Kopf neben dem Kissen und sein weiches Haar war über Nacht zerstrubbelt. Ein leises Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Vielleicht war es Zeit – Zeit für das Ende alter Träume.

Letzte Aktualisierung: 18.07.2007 - 13.00 Uhr
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