Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Juli 2007
Tabula rasa
von Evelyn Sperber

Auf dem runden Tisch knisterten himmlische Botschaften und Butterbrotpapier. Petrus hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, nur von Manna und Ambrosia zu leben. Ein deftiges Käsesandwich, das musste zwischendurch sein, und in solchen Krisensitzungen sowieso.
„Jetzt ist Schluss!“ Bei Gottes Worten zuckte Petrus zusammen, der Käsebissen lag ihm auf der Zunge, er wagte nicht zu kauen.
„Feierabend!“ Die blau angeschwollenen Adern an den Schläfen des Chefs verrieten, dass er nicht an einen gemütlichen Tagesausklang mit einem Gläschen Rotwein dachte. Er donnerte die Faust auf den Konferenztisch, kniff die Lippen zusammen und schluckte – Petrus konnte es deutlich erkennen - den Fluch hinunter, der ihm auf der Zunge lag.„Du sollst nicht fluchen“, flüsterte er dem Allmächtigen zu.
Der winkte ab: „Ich mache jetzt Tabula rasa.“.
Sofort verstummte das Gemurmel, Papierrascheln, Füßescharren und Stühlequietschen. Vor Schreck stolperten die Pulsschläge der Wanduhr und ihre Zeiger rührten sich sekundenlang nicht vom Fleck. Es war, als habe die göttliche Mitteilung sämtliche Töne schockgefroren.
„Tabula was?“, flüsterte die Chefsekretärin und in ihrem Gesicht klebte das Entsetzen wie eine Maske aus Schimmelkäse.
„rasa“, sagte Gott.
Petrus runzelte die Stirn. „Du willst alles platt machen?“
„Boss, das könnte in die Hosen gehen“, gab Ambrosius zu bedenken. „Solche Manipulationen führen leicht zu Datenverlust.“
„Wir sollten vorsichtshalber alles auf einer externen Festplatte abspeichern“, schlug Gabriel vor.
„Damit wir den total virenverseuchten irdischen Speicher doppelt haben? So weit käme es noch. Luzifer würde sich ins Fäustchen lachen. Die Erde wird platt gemacht. Basta.“
„Aber, Boss, bedenk doch. Dann ist mit einem Schlag alles, was du in Jahrmillionen gebosselt hast, vernichtet.“ Petrus streckte den Zeigefinger wie ein Oberlehrer, als wollte er den Allmächtigen zur Räson rufen.
Raphael bot an, die komplette irdische Festplatte von Grund auf zu überprüfen, sämtliche Viren zu killen und alle irreparabel geschädigten Dateien unwiederbringlich zu löschen.
„Das hättest du vor 10.000 Jahren tun müssen, jetzt ist es zu spät. Wegen einer mageren Ausbeute von drei, vier Dateien, die eventuell noch zu gebrauchen sind, werde ich keine Zeit mehr verschwenden.“
„Boss, denk an die unschuldigen Kinder, die haben noch nichts Böses getan“, mahnte Maria.
Gottvater wischte ihr Argument vom Tisch. „Aus Kindern werden Leute.“
„Verdammt! Gib ihnen doch wenigstens eine Chance!“, knurrte Petrus.
„Du sollst nicht fluchen.“ Wieder schwollen beidseitig die göttlichen Zornesadern.
„Und was ist mit den Tieren und den Pflanzen? Die können nichts fürs menschliche Desaster. Willst du ihre jahrmillionenlange Evolution mit einem Schlag ausradieren? Wenn du die Erde komplett auf einer Festplatte spiegelst, kannst du während der Neuschöpfungen das, was noch zu gebrauchen ist, per Mausklick abrufen“
„Macht, was ihr wollt. Ich jedenfalls werde neue Pflanzen und Tiere erschaffen. Und eine neue Erde, auf der der Mensch keine Sonderstellung vor allen anderen Wesen einnehmen wird. Die alte Erde wird platt gemacht und kommt zum Schrott.“ „Ich protestiere!“ Ein blutjunger heiß gespornter Engel sprang auf den Konferenztisch, er hob die geballte Faust und rief: „Revolution!“
Heftiges Gemurmel setzte ein. Die einen protestierten, die anderen jubelten. Zwei Lager bildeten sich. Die Gemäßigten, die die Erde durch friedliche Manipulationen und himmlische Heere retten wollten, und die Revolutionäre, die lauthals verkündeten: „Wir stürzen die Regierung und machen alles besser!“
Groß und allmächtig stand der göttliche Boss zwischen beiden Parteien.
„Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, flüsterte Petrus ihm zu, der sich selbstverständlich auf die Seite der Gemäßigten geschlagen hatte.
Gott lächelte. Er ließ die Blicke von links nach rechts und zurück gleiten. „Ich stelle mein Amt zur Verfügung. Wählt eine neue Regierung. Ein revolutionäres Parlament oder ein gemäßigtes oder macht eine große Koalition. Ich werde mich als stiller Beobachter zurückziehen und eure Arbeit in den Medien kommentieren. Gutes Gelingen.“ Er stand auf und ging hinaus.
Ein Lärm, lauter als seinerzeit die Trompeten von Jericho, setzte ein. „Revolution! Wir übernehmen die Macht und machen alles besser!“, brüllten die Heißsporne. „Ja! Ja!“, jubelten ihre Anhänger. „Wir verschwören uns gegen die allmächtigen Pläne!“
„Ruhe!“, rief Raphael und beorderte an Ort und Stelle 126.000 Engelsheere – „Mehr stehen uns derzeit leider nicht zur Verfügung“ - mit allen notwendigen Vollmachten auf die Erde. „Redet den verbrecherischen Subjekten ins Gewissen, damit sie künftig Ruhe geben und begreifen, wie herrlich es sein könnte, wenn alle im ewigen Frieden leben, statt sich gegenseitig abzuschlachten.“
Lautes Gelächter vom revolutionären Flügel war die Antwort. „Glaubst du wirklich, dass du die Typen zum Guten bekehren kannst? Schmink dir mal deine blauen Augen ab.“ Die Heißsporne distanzierten sich vom gemäßigten Establishment.
Die himmlischen Heere schwärmten aus. Ihnen standen schon nach wenigen Stunden die Engelshaare zu Berge. Im Himmel hatten sie ja einiges von den Machenschaften der Menschen mitbekommen, was sie jetzt zu sehen bekamen, übertraf alle Horrorfilme. Da wurden Menschen und Tiere gequält und abgeschlachtet, Pflanzen ausgerissen, verbrannt und gerodet. Und die Übeltäter beriefen sich bei ihren Schandtaten oft sogar auf die höchste göttliche Instanz.
„Unser Boss hat Recht, bei diesen Menschen ist Hopfen und Malz verloren. Die Guten gehen sowieso zu Grunde, sie können sich gegen Machtgier, Korruption, Neid, Gewalttätigkeit, Intoleranz, Rechthaberei, Engstirnigkeit und sonstige Viren, die sich in kürzester Zeit millionenfach vermehren, auf Dauer nicht behaupten.“ Gabriel kickte eine leere Bierdose über die Straße..
„Und am Ende werden auch die guten Menschen infiziert und mit den Wölfen heulen.“ Petrus kannte die Menschen, hatte lange genug unter ihnen gelebt. „Ich bin dafür, dass wir unsere Mission beenden. Gottvater wird wissen, was er tut. Lasst ihn gewähren. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Er wandte sich um und trat den Rückzug an. Wie geprügelte Hunde kehrten sie in den Himmel zurück. Dort begegneten ihnen die Revoluzzer. Sie schwangen Fahnen und brüllten fanatische Parolen: „Weg mit dem Alten!“ Petrus und den anderen blieb vor Schreck die Spucke weg.
Am nächsten Tag tobte der Wahlkampf ums himmlische Parlament. Revolutionäre und Gemäßigte warfen sich gemeine Parolen an die Köpfe und drohten, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.
Dicker Qualm, der von der Erde hochstieg, ließ sie innehalten. Sie schauten nach unten. Riesige Wolkenpilze wuchsen in die Höhe und auf der Erde tobte ein Höllenspektakel. Sekunden später herrschte Totenstille in der Tiefe, und auch im Himmel war kein Sterbenswörtchen mehr zu hören. Man konnte allen ihre Gedanken von der Stirn ablesen: Jetzt haben sie die Erde selber platt gemacht. Nachdenkliche und entsetzte Gesichter überall.
Nur einer rieb sich lachend die Hörner. Luzifer. Hinter einem der schwarzen Pilze versteckt, streichelte er die externe Festplatte mit dem naturgetreuen Spiegelbild der Erde vor ihrem Untergang.

Letzte Aktualisierung: 27.07.2007 - 10.29 Uhr
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