»Und wie sieht er aus?« Die Leitung rauschte.
»Groß, dunkle Haare, nettes Gesicht ...« Timo überlegte.
»Also wie du«, schloss seine Mutter. »Ist er wenigstens nett?«
»Ma, ich bin nett!«
»Ja ich weiß, aber nicht immer gewesen ...«
Timo spürte ihre kalte Hand seinen Nacken greifen, ihre Finger, die sich in seinen Hals gruben, obwohl sie in sicherer Entfernung am anderen Ende der Leitung stand. Doch mit ihrem Mund hatte sie die Macht, eine solche Distanz zu überbrücken. Plötzlich stand sie neben ihm, griff ihn an, stieß ihn zur Seite.
»Timo?«, fragte sie, als sei nichts geschehen.
»Ja, ich bin noch da.« Tonlos, beinahe automatisch seine Antwort.
»Du kannst deinen Freund gern zum Essen mitbringen. Wie heißt er überhaupt?«
Timos Mund war trocken. Seine Zunge fühlte sich an wie Sandpapier, als er den Namen nannte: »Stephan.«
Sie atmete eine Weile ruhig in den Hörer. Stephan.
»Gut, dann bis morgen«, sagte sie schließlich.
Sie legten auf.
»Das Baby ist so klein!«
»Das Baby heißt Stephanie und ist deine Schwester«, sagte seine Mutter und küsste Stephanies kleinen Kopf. »Nicht wahr, meine Süße? Du bist unsere Stephanie, nicht wahr?«
»Und, wie ist es gelaufen?«
Stephan holte ihn wieder ins Jetzt zurück, die Hände auf den Schultern seines Freundes gelegt. Timo spürte, wie sich der Griff seiner Mutter allmählich lockerte.
»Ich – ich denke, ganz gut.«
»Du siehst blass aus.« Stephan, wie immer besorgt.
»Es geht mir gut.«
»Habt ihr euch etwa gestritten?«
»Nein«, sagte Timo. »Nicht gestritten. Ich streite mich nie mit ihr.«
»Das ist doch gut.«
Timo nickte.
»Wenn ich behaupten könnte, ich würde mich mit meiner Mutter nicht streiten, dann ... Ich weiß auch nicht. Dann wäre sie nicht meine Mutter, nehme ich an.« Stephan lachte. Timo versuchte es auch.
»Darf ich auch mal halten?«
»Nein, du lässt sie nur fallen! Geh doch in dein Zimmer spielen.« Sie drückte Stephanie an sich. »Von mir aus kannst du auch fern gucken.«
Timo blieb stehen und sah seiner Mutter weiter beim Stillen zu.
»Meinst du, es ist zu früh?«
»Was?«
»Na, dass wir uns unseren Eltern vorstellen«, sagte Timo.
»Ist es dir etwa nicht ernst?« Stephans Stirn zeigte wieder Sorge. »Stimmt was nicht?«
»Nein, es ist nur – wir kennen uns doch kaum.«
Stephan lachte. »Na hör mal, wir sind doch schon über drei Monate zusammen, das ist für die meisten, die ich kenne, eine halbe Ewigkeit!«
Timo wartete, bis der Humor verflogen war.
»Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich niemanden jemals gut genug kennen kann, um ihn meiner Mutter vorzustellen.«
»Willst du mir davon erzählen?«
Timo überlegte. Was erzählen? Wo anfangen?
»Nein«, sagte er schließlich. »Ich kann mich nicht mehr erinnern, das ist schon alles viel zu lange her.«
»Ich dachte, es geht um deine Mutter?«
»Tut es auch, irgendwie. Lass uns jetzt schlafen, okay?«
»Gut«, sagte Stephan und drückte ihm einen Kuss auf. Der erste leidenschaftslose Kuss in ihrer Beziehung.
Timo drehte sich um, damit er seine Tränen verstecken konnte. Stephans Lippen brannten auf seiner Stirn.
Ihr Gesicht war so klein und zart. Sie schlief vollkommen still in ihrem Kinderbettchen, mitten in Timos Zimmer, das nun nicht mehr ihm allein gehörte. Sie sah so schön aus und doch so fremd irgendwie.
»Was machst du da?«, fragte seine Mutter plötzlich.
»Ich gucke mir das Baby an.«
»Du kannst jetzt rausgehen, spielen. Deine Freunde warten auf dich.«
»Das sind aber nicht meine Freunde ...«
»Bist du aufgeregt?«, fragte Stephan.
»Nein. Ich suche nur ...« Timo fiel auf, dass er überhaupt nichts suchte. Verwirrt sah er seinen Freund an.
»Du bist aufgeregt«, sagte der und nahm ihn in den Arm. »Das wird schon alles, vertrau mir. Ich bin der Traum jeder Schwiegermutter.«
Timo zog die Mundwinkel auseinander. Ihm war nicht nach lockerem Geplänkel, trotzdem zog er mit: »Ich hoffe, dass das auch für meine Mutter gilt.«
»Du kennst doch meinen Charme!«
Stephan schmiegte sich an ihn, drückte seine Lippen auf die von Timo, ließ seine Hände an der gebügelten Hose hinauf über das weiße Hemd gleiten.
»Nicht«, sagte Timo und schob seinen Freund von sich. »Ich – ich will nicht völlig zerwühlt bei meiner Mutter ankommen.«
»Aber du siehst zum Anbeißen aus in deinen Spießerklamotten.«
Timo nickte. »Bist du fertig?«
»Jeden Moment.«
Während Stephan ins Bad verschwand, tauchte sie auf, die Frage, die er schon die ganzen Wochen vermied. Ein kleiner Satz mit einem Fragezeichen und vielleicht ungeahnter Wirkung. So viele Fragen, die er am Anfang einer Beziehung stellte, und doch blieben die wichtigsten von ihnen unausgesprochen.
»Wir können los«, sagte Stephan.
Sie war immer so ruhig. Wenn seine Mutter es nicht bemerkte, konnte er sie ellenlang anschauen und sie regte sich kein bisschen. Fast wie eine Puppe lag sie da in ihrem Bettchen. Das Stoffspielzeug in rosa und weiß um sich herum. Davon hatte Stephanie schon viel, obwohl sie noch nichts damit anfangen konnte. Oder freute sich ein Baby tatsächlich, wenn es zum ersten Geburtstag solchen Kram bekam?
Sie fuhren mit Stephans Wagen.
»Wenn du das nicht willst, dann können wir noch immer umdrehen.«
»Ich weiß.«
»Irgendwie gefällst du mir nicht.«
»Ich weiß«, wiederholte Timo, bemerkte es und versuchte ein Lächeln.
»Nach allem was du erzählt hast, muss deine Mutter doch wirklich eine nette Frau sein.«
»Meistens.«
»Jetzt mach mir bitte keine Angst.«
Timo lachte, diesmal echt.
Als sie vor dem Haus ankamen, stand sie schon in der Tür. Noch immer sah sie streng aus, streng und eisern. Viel stärker, als sich Timo fühlte.
»Ist sie das?«, fragte Stephan.
Timo nickte.
»Dann gibt es jetzt wohl kein Zurück mehr.«
»Ich gehe kurz nach oben eine Tasse Mehl leihen«, sagte sie. »Du bleibst im Wohnzimmer, hörst du?«
Timo nickte, aber er sah nicht mehr fern, als seine Mutter die Wohnung verließ. Stephanie schlief. Puppenstarr lag sie da und lebte vielleicht gar nicht. Entfernt hörte er das Gespräch seiner Mutter mit Frau Stockmann von oben. Entschlossen nahm er eines der Stoffspielzeuge, eine Art Teddy. Wütend peitschte er durch die Luft und traf Stephanie ins Gesicht. Augenblicklich fing sie an zu schreien. Sie lebte!
»Sie müssen Stephan sein, richtig?« Sie zeigte ihr falsches Gebiss und reichte Stephan die Hand. »Kommen Sie herein.«
Timo betrat das Haus nach seinem Freund. Sie hatte ihn kaum angesehen. Dafür bemutterte sie nun Stephan. Und der schlug sich tapfer, wie er es angekündigt hatte.
»Sie sind also jetzt mit meinem Sohn – zusammen.«
»Ja, so sieht es aus.« Stephan lächelte Timo zu.
»Tja.« Sie klatschte in die Hände. »Dann setzt euch mal an den Tisch. Es ist schon alles fertig.«
»Was ist mit Vater?«, fragte Timo, obwohl er die Antwort kannte.
»Er ist leider verhindert.« Sie wandte sich an Stephan. »Er muss oft unvorhergesehen einspringen, wissen Sie? Mein Mann arbeitet bei der Polizei. Aber das hat Ihnen mein Sohn sicher schon erzählt.«
Stephan zögerte. »Ja, natürlich.«
Timo fing den irritierten Blick seines Freundes auf.
»Das ist doch erfreulich. Mein Sohn erzählt nämlich sonst nie etwas von seiner Familie. Da können Sie sich schon etwas drauf einbilden.« Sie lachte.
»Gut zu wissen«, antwortete Stephan. Noch hielt er sich wacker.
»Können wir jetzt von etwas anderem reden?« Timo spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.
»Natürlich, Schatz«, sagte seine Mutter und entschuldigte sich bei Stephan: »Mein Sohn ist sehr zurückhaltend, was Familienangelegenheiten betrifft.«
Stephan lächelte nur.
»Was hast du getan?«, schrie sie.
»Nichts!« Timos Stimme überschlug sich vor Panik. »Sie ist einfach aufgewacht und ...«
»Was hast du verdammt noch mal getan?« Sie riss einen Kleiderbügel aus dem Schrank und rannte auf ihn zu.
»Nicht! Ich habe nichts getan!«, kreischte er, aber es nützte nichts. Er hatte etwas getan und das wusste er auch.
»Wie sieht es eigentlich mit Ihrer Familie aus? Reden Sie auch so ungern?«
Timo hielt die Luft an. Er hatte es gewusst, er hatte geahnt, dass sie einen schlechten Tag erwischen würden.
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Stephan auf die zweite Frage.
»Wissen Ihre Eltern, dass sie – homosexuell sind?«
»Ja« Stephan grinste. Es kam sympathisch rüber, verbarg aber nicht die Fragen in seinem Kopf.
»Vielleicht sollten wir gehen«, sagte Timo und schluckte. Seine Hände zitterten.
Stephans freundlicher Ausdruck verrutschte. Seltsame Situationen brachten seltsame Gesichtszüge hervor.
»Haben sie Geschwister?«
Da war sie, die Frage, die all die Wochen unausgesprochen geblieben war. Seine Mutter brachte sie mit einem gemeinen Lächeln mühelos auf den Tisch.
Stephan zögerte. »Ja.« Sein besorgter Blick auf Timo. »Eine Schwester.«
Und dazu die schlechtmöglichste Antwort. Timos Magen krampfte.
»Das ist schön. Wie alt ist sie denn?«
Der Tisch begann sich zu drehen.
»Sechs Jahre jünger, also einundzwanzig im Mai.«
Das Bild seines Freundes verschwamm vor Timos Augen.
»Ma, ich denke, dass es besser ist ...« Ein letzter Versuch.
»Das ist ja ein Zufall!«, rief seine Mutter und ihr böses Lachen drang spitz durch Timos Wattesarg. Dumpf stach jedes ha ha ha in sein Herz, bevor er vom Stuhl kippte.
Nachts war sie manchmal unruhig. Vielleicht träumten auch Babys schon schlecht. Timo wusste es nicht. Sein Hintern und sein Rücken schmerzten, als er sich aus dem Bett schlich. Das Kopfkissen in seinen Händen. Lautlos beugte er sich zu Stephanie hinunter. Mit sechs Jahren wurde er zum Mörder.
»Da bist du wieder«, sagte Stephan traurig.
Timo spürte seine Hand in der seines Freundes.
»Was ist passiert?«, fragte er. Sein Kopf schmerzte, aber die Erinnerung kam dennoch durch.
»Du bist umgekippt und ...«
»Rede bitte nicht weiter. Lass mich allein!«
»Bist du sicher, dass ...«
»Ich kann dich nicht mehr sehen.«
Wortlos hielt Stephan noch Timos Hand. Dann erhob er sich endlich und ging.
Timo ballte die Fäuste. Stephan hatte sie noch, seine Schwester.
Letzte Aktualisierung: 27.08.2007 - 23.00 Uhr Dieser Text enthält 10080 Zeichen.