Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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August 2007
Radikal
von Melanie Müller

Leise spülen die Wellen gegen Kristins Knöchel. Schon seit einiger Zeit steht sie hier und sieht auf das ruhige Meer. Langsam zieht sich eine Gänsehaut an ihren Beinen empor und macht sich auf ihrem ganzen Körper breit. Trotzdem lächelt sie bei dem Gedanken an die letzten Stunden.

Alles hatte damit angefangen, dass Richard von seinem Arbeitsplatz aus angerufen hatte und ihr mitteilte, er müsse für zwei Tage auf Geschäftsreise. In den letzten drei Ehejahren hatte sie gelernt, dass ihr Mann eine so wichtige Position einnahm und er deshalb manchmal unabkömmlich war. Egal, ob Geburtstag oder gemeinsamer Jahrestag. Sie fragte sich, ob sich das geändert hätte, wenn der so lang ersehnte Stammhalter doch noch gekommen wäre. So aber hatte sie sich über den freien Nachmittag gefreut und ging in die Stadt einkaufen. Dort hatte sie ihn dann gesehen. In seinem Geschäftswagen, ein toller Schlitten. Neben ihm saß eine Kollegin. Die hatte sie schon einmal bei seiner Jubiläumsfeier in der Firma gesehen. Und dann hatte er es getan. Er hatte sich zu ihr herübergebeugt und der Frau sanft den Hals geküsst. In Kristin zerbrach etwas. Schmerzhaft, aber unhörbar. Sie war so glücklich gewesen. Sie hatte gedacht, er sei der perfekte Mann. Heuchler! Und sie hatte sich so täuschen lassen. Zitternd lehnte sie sich gegen eine Hauswand und schloss die Augen. Tränen drängten sich zwischen ihren Lidern hervor und zogen nasse Spuren auf ihren Wangen.

Kristin zögerte kurz, doch dann wusste sie, was sie tun wollte. Auf direktem Weg ging sie in die Bank, ließ sich das gesamte Geld auszahlen. Mit seiner VISA-Karte kaufte sie einige teure Taschen, Schuhe und Kleider, die sie sich sonst nie getraut hatte von seinem Geld zu kaufen. Sie setzte sich in den Park auf eine Bank, stellte die Taschen mit den Einkäufen neben sich und zündete sich eine Zigarette an. Von dem Qualm, der ihre Lungen ausfüllte, musste sie husten, das letzte Mal war über fünfzehn Jahre her. Sie packte das Geld in die Taschen und ließ beides mit einem kleinen befreienden Seufzer hinter sich. Dann ging sie nach Hause. Eigentlich war es Richards Wohnung, sie hatte sich in diesen sterilen Räumen nie wohlgefühlt. Äußerlich völlig ruhig, nahm sie ein großes Messer und schlitzte ihr teures JOOP!-Bett auf, auf dem sie ihm ihre Jungfräulichkeit geschenkt hatte. Dann ging sie weiter auf die Terrasse und warf alle Designerstühle in den Pool. So viel nichtiger Reichtum. Weg damit! Hier hatte er ihr so oft seine unsterbliche Liebe gestanden. Verlogener Mistkerl Sie stürmte durch die ganze Wohnung und vernichtete alles, was ihm lieb und wichtig war. Außer das Kinderzimmer, dass Sie vor Jahren gemeinsam liebevoll eingerichtet hatten, rührte sie nicht an. Aber das Wichtigste, das wollte sie ihm zuletzt nehmen.

Sie rief ihren Arzt an. „Praxis Dr. Krieg, was kann ich für Sie tun?“, flötete eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung. „Hallo, hier ist Kristin Holger. Ich habe eine Bitte, könnten Sie mir meine letzten Ultraschallbilder zuschicken? Ich möchte sie unheimlich gern meinem Mann zeigen.“

Mit einem kalten Lächeln zog sie hinter sich die Tür zu, als sie die verwüstete Wohnung verließ. Sie stieg in ihr Auto und fuhr ans Meer. Kristin ahnte, dass sie keinen neuen Anfang mehr schaffen würde. Sie hatte ihm alle ihre Gefühle geschenkt, obwohl er sie nie erwidert hatte.

Sie hatte den Motor abgestellt und saß in Ihrem Auto. Ihre Hand zitterte leicht, als sie nach ihrem Handy griff und seine Nummer über die Kurzwahltaste wählte. „Zur Zeit ist keiner erreichbar. Bitte sprechen Sie nach dem Piep“, tönte es ihr blechern entgegen. „Rich, ich… ich denke, wir sehen uns nie wieder. Du weißt selber am besten, warum es so nicht weitergehen kann. Ein Andenken an dich habe ich mitgenommen. Du wirst alles verstehen, wenn in ein paar Tagen ein Brief an mich kommt.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich habe dich immer geliebt.“

Immer tiefer steigt sie in das eisige Wasser. Als es ihren Bauch umspült, nimmt ihr die Kälte fast den Atem. Sie spürt, wie das kleine Leben in ihr sich gegen die Kälte wehren will. Doch sie zwingt sich weiter und beginnt zu schwimmen. Irgendwann würde ihr die Kraft ausgehen und niemand würde sie je wieder verletzen können.

Letzte Aktualisierung: 27.08.2007 - 13.56 Uhr
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