Nur selten träume ich von jenem Sommer in meiner Kindheit als eine Folge von Sonnentagen mit Wolken, die sich wie Schlagsahne am Himmel aufplusterten.
„Guck mal, Jutta, ein Elefant “, sagte Wolfi. Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Finger.
„Au ja! Und die Wolke dahinter sieht aus wie ein Osterhase mit Kiepe“, antwortete ich und lehnte meinen Kopf an seine Schulter.
Ein sonnenwarmer Wind schaukelte die Bilder unserer Phantasie gemächlich am Horizont entlang und föhnte Grün- und Silbertöne in die Felder und Wiesen. Hummeln und Bienen summten durch die nachmittägliche Hitze, rasteten auf einer Blüte, und waren schon wieder unterwegs. Die Luft vibrierte. Sie war erfüllt vom Zirpen der Grillen und dem Knistern der Stromleitungen über unseren Köpfen, auf denen ein paar Schwalben ihre Reiseroute diskutierten.
Es war unser letzter Ferientag, morgen würde Wolfi nach Hause fahren. Ich war ein bisschen verliebt in ihn, in sein Lachen, die blonden Haare und die braunen sehnigen Hände. Ich war stolz, dass wir Freunde waren. Immerhin war er schon zwölf Jahre alt, fast zwei Jahre älter als ich.
Meist träume ich schlecht; dann stiehlt sich eine andere Jungengestalt in meine Erinnerung.
Die Beine mit den knotigen Knien begannen in zerfransten Shorts und endeten in ausgetretenen Turnschuhen, waren schmutzig und voller Schorf. Die mit Mückenstichen übersäten Arme stachen aus einem schlabberigen hellgrünen T-Shirt hervor. Philipp hieß er. Philipp Meister. In der Schule nannten wir ihn Fipps nach dem boshaften Affen in Wilhelm Buschs Bildergeschichte. Er ärgerte uns Mädchen, indem er uns kniff oder an den Haaren zog. Fortwährend störte er den Unterricht durch Zwischenrufe oder unnötiges Lautsein. Wo er auftauchte, entzündete sich Streit. Niemand mochte ihn leiden.
Jetzt schob sich sein Schatten über uns. Sein viel zu breiter Mund in einem blassen Gesicht formte die Worte:
„Wenn ich euch was ganz Tolles zeige, lasst ihr mich dann mitspielen?“
„Hau ab, du störst!“, knurrte Wolfi.
Ich versuchte, meinen Klassenkameraden zu ignorieren, blickte stur an ihm vorbei. Dabei hätte ich wissen müssen, dass er gegen Zurückweisungen immun war. Er baute sich vor uns auf.
„Hier, hab ich geschossen!“ Er hielt einen Amselkadaver hoch.
„Igitt!“ Ich warf mich zur Seite und wollte weglaufen. Wolfi blieb ungerührt sitzen und verschränkte die Arme.
„Angeber!“, sagte er, „du hast doch gar kein Gewehr.“
„Aber das hier!“ Mit der anderen Hand angelte Fipps einen Zwillich aus der Hosentasche. „Man muss Kiesel nehmen. Die flutschen wie geschmiert“, erklärte er.
Ich lachte verächtlich: „Du schießt mit Sicherheit daneben. Nicht mal einen Stift kannst du richtig halten. Wenn du an die Tafel schreiben sollst, bricht dir jedes Mal die Kreide ab.“
Fipps beugte sich zu mir herunter. Seine Augenbrauen zuckten, als er antwortete.
„Kann ich wohl. Soll ich es vormachen?“
„Ja, ja, schieß doch eine der Schwalben von der Stromleitung“, schlug Wolfi vor und nagte gelangweilt an einem Blatt Sauerampfer. Fipps’ Blick wanderte am Hochspannungsmast empor zu den Stromkabeln und blieb an der kleinen Vogelschar hängen.
„Die sind zu weit weg.“
„Dann musst du eben hochklettern“, forderte ich ihn auf, fest davon überzeugt, dass er es nicht wagen würde.
„Und? Lasst ihr mich dann mitspielen?“
Fipps schaute uns an wie Nachbars Spaniel. Ich spürte Widerwillen, doch ich nickte. Wir würden ja sehen!
Er ließ den Kadaver fallen. Dann steckte er den Zwillich in den Hosenbund, erklomm den Betonfuß des Mastes, griff in die Streben und begann, im Innern des Metallgiganten hochzuklettern.
„Hej!“ protestierte Wolfi, „bist du verrückt? Das darf man nicht.“
Eine Windbö verwehte seine Worte. Vermutlich hatte Fipps sie nicht gehört, denn er kletterte unverdrossen weiter.
Ich formte meine Hände zu einem Trichter. „Fipps, komm zurück!“
Fipps wand sich zwischen zwei Eisenstangen hindurch auf die Außenseite des Masts und stieg Strebe für Strebe weiter nach oben.
Gebannt verfolgten Wolfi und ich, wie sich der Abstand zwischen ihm und den Stromleitungen immer weiter verringerte. Wir nahmen die dunklen Wolkenmassen nicht wahr, die hinter dem Katzenhügel hervor quollen und die Sonne verdunkelten. Der Wind wurde stärker, er peitschte mir die Haare vor die Augen. Angst kroch in mir hoch, ich fröstelte. Wieder versuchte ich, Fipps durch lautes Rufen zu erreichen:
„Komm runter! Die Vögel sind sowieso weg.“
Er reagierte nicht. Wolfi und ich schrieen gemeinsam:
„Fi-hipps, komm run-ter!“
Er hielt an. Gott sei Dank! Wir atmeten auf. Jetzt würde er den Rückzug antreten.
Stattdessen schaute er nach oben zu den Querverstrebungen, an denen die Leitungen anmontiert waren. Noch einen Schritt höher, und er hatte den Ausleger erreicht. Er setzte einen Fuß darauf. Wie in Zeitlupe zog er den zweiten nach. Mir wurde vom Zusehen schwindelig.
„Er ist wirklich verrückt!“, keuchte Wolfi neben mir.
Fipps stand jetzt auf einem waagerechten Eisenträger. Seine Gestalt hob sich wie ein Scherenschnitt vor dem schwarzgelben Hintergrund ab. Mit einer Hand hielt er sich am Mastgestänge fest, mit der anderen Hand winkte er. Er winkte uns tatsächlich zu!
Dann trat er einen Schritt vor.
Ein Netz von Blitzen zerhackte den finsteren Himmel, Sturmböen rüttelten an den Stromleitungen. Das Krachen eines Donners durchschüttelte uns. Hoch oben am Strommast bildete sich ein blauer Lichtbogen und blendete mich. Ich hörte ein unheimliches Prasseln und einen Schrei, der mein eigener sein musste. Ich spürte, wie sich Wolfis Fingernägel in meine Schulter krallten. Nur einen Augenblick lang hielt die Welt den Atem an, dann flog etwas von oben herunter, stieß kurz an den Mast und wurde weggeschleudert. Wenige Meter von uns entfernt schlug eine groteske Figur auf dem Boden auf. Schwarzrot, dazwischen etwas Weißes, Spitziges und ein paar grünliche Fetzen.
In diesem Moment zerbarst der Himmel. Sintflutartiger Regen überschwappte uns. Blitz und Donner überschlugen sich. Um uns herum tobte die Hölle! Schreiend rannten Wolfgang und ich davon.
Wie die Arme einer Krake saugten sich Angst und Entsetzen in meinem Nacken fest. Sie haben mich nie mehr losgelassen. Meine Träume von Sommertagen in der Kindheit sind Albträume. Sie enden mit dieser Schreckensszene. Meistens.