Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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August 2007
Piets Mütze
von Thorsten Schöneberg

Anneliese erwachte vom Klingeln des Telefons. Sie schrak hoch und hob ab.
„Anneliese“, meldete sich Piet, „komm runter vom Vibrator! Du hast Frühdienst!“
Anneliese fühlte sich atemlos. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Piet spöttelte oft über sie. Er war ihr Kollege auf der psychiatrischen Aufnahmestation. Sie war alleinstehend. Eine Tochter studierte in Göttingen. Sie schminkte sich die Augen vielleicht etwas altmodisch und trug nicht die angesagtesten Klamotten. Aber so weit war er noch nie gegangen.
„Ich fand diesen Spruch gemein!“ sagte sie Piet später. „Das war kein Spaß mehr.“
„Mensch, Lieschen, bleib mal geschmeidig“, grinste er. Sein Oberlippenschnäuzer vibrierte. Vielleicht war er nur auf Grund dieses lächerlichen Bartes so widerlich. Anneliese sortierte Männer oft nach deren Bartwuchs ein. Piet wirkte oft, als habe er morgens in eine Steckdose gefasst. Er spielte mit dem Dienstschlüssel und dem Magnetverschluss des Fixiergurtes. Macht. Die Patienten wussten: Der redet nicht lange.
„Wir brauchen alle unsern Spaß, da ist doch nichts dabei“, sagte er.
Anneliese schwieg. Dann kam Rudi während der Pause ins Dienstzimmer.
„Hallo, ich wollte nur bescheid sagen, dass ich jetzt Gerhard Schröder bin. Ich bin der Bundeskanzler, ihr müsst machen, was ich sage. Hat wohl einer eine Zigarette?“
Er trug seine Jeans scheinbar über den Kniekehlen hängend und hatte sich längere Zeit nicht geduscht. Anneliese wollte gerade von ihrem Brötchen abbeißen, als Piet sagte: „Steck dir ´nen Finger in den Arsch und lutsch ihn ab!“
„Piet!“ beschwerte sie sich. Er grinste nur.
Anneliese wollte zur Dienstübergabe über den Umgang untereinander und mit den Patienten sprechen. Es gab aber nur unbestimmtes Gemurmel, keine Diskussion. Piet hatte die Sache im Griff. Wenn er Dienst hatte, nahmen alle ihre Medikamente. Es gab keine Eskalation. Alle fühlten sich sicher. Anneliese ging sehr verärgert nach Hause.
Zwei Tage später wurde Aron Goldberg aufgenommen.
„§126a“, sagte Gundula, die Kollegin vom Frühdienst.
„Er hat seine Frau mit dem Messer angegriffen. Sieben Stiche, sie musste wohl operiert werden. Er ist hier zur Begutachtung.“
Es entstand ein angespanntes Schweigen. Gundula sagte noch: „Wenn ihr mich fragt- ich finde ihn total unauffällig.“
„Das liegt an deinen Fingernägeln!“ lachte Anneliese. Gundulas Nägel waren sehr lang und bunt lackiert. Das Lachen im Team ebbte schnell ab. Dann wurde auch Anneliese klar, dass sie angedeutet hatte, der Patient könnte gefährlich sein. Die Kolleginnen schlichen im Laufe des Nachmittags gleichsam mit Filzpantoffeln um Herrn Goldberg herum. Nur Piet blieb wie immer. Wollte jemand seine Tabletten nicht nehmen, sagte er: „Runter damit, sonst Spritze!“
Wollte jemand eine Zigarette: Der bekannte Spruch. Die Frauen hatten Angst vor Goldberg. Piet lachte.
„Der ist doch harmlos!“
Anneliese zog die Augenbrauen hoch.
„Harmlos? Mit dem Messer auf deine Partnerin loszugehen ist doch nicht harmlos. Oder würdest du auch deine Frau abstechen, wenn sie dich ärgert?“
„Meine Frau ist abgehauen“, sagte er. Anneliese hatte das nicht gewusst. Sie hielt kurz inne, fragte dann weiter:
„Angenommen, sie hätte dir sehr wehgetan. Würdest du zu Gewalt neigen?“
„Ich halte es immer so: Bevor ich einen auf die Mütze krieg, hau ich selber drauf.“
„Also würdest du sie schlagen?“
Piet wurde unruhig.
„Ich schlage keine Frauen. Wenn ich dann auf 180 bin und es kommt zufällig der Briefträger, dann würde ich eher dem eine reinhauen. Irgendwie muss es raus. Tut mir dann leid für den Briefträger.“
Er wirkte, als jagten einige Volt zu viel durch sein Nervensystem. Anneliese ließ ihn in Ruhe. Sie beobachtete Goldberg. Wie konnte es dazu kommen, dass man(n) die Partnerin mit dem Messer anging? Er wirkte psychisch vollkommen unauffällig. Wer hatte ihn zur Begutachtung in die Psychiatrie geschickt? Sie versuchte ein kurzes Gespräch mit ihm. Es war belanglos. Sie ging ins Dienstzimmer und machte eine Notiz in Goldbergs Akte.
„Na, fleißig?“ Piet.
„Eigentlich bin ich total ärgerlich. Goldberg verunsichert mich total. Ich habe mit ihm gesprochen. Dann habe ich es lieber gelassen. Wer weiß, ob ich nicht irgendwas in ihm auslöse.“
„Und, was hat er gesagt?“
„Das ärgert mich ja so: Er sagt, es wäre ihm langweilig!“
„Oho, hat der Herr nicht genug Animation! Die kann ich ihm bieten!“
„Piet, mach keinen Quatsch!“
Piet stürmte förmlich auf Goldberg los. Anneliese wusste, dass das nicht gut ausgehen konnte. Sie bekam vom Gespräch der Männer nichts mit. Sie sah Piet gestikulieren. Sie hatten um zehn Feierabend. Eine Stunde noch. Sie war mit Piet allein. Zum erstenmal war Anneliese der Gedanke unheimlich.
Die Patienten spielten Mensch- ärgere- dich- nicht oder Schach. Einige sahen fern. Plötzlich Gerangel.
„Dir schlitz´ ich den fetten Bauch auf!“ rief Goldberg. Er hatte Piet den Arm auf den Rücken gedreht. Er hatte das in der Küche versteckte Schälmesser gefunden.
„Mann, mit diesem Messerchen kannst du nichts ausrichten!“
„Meinst du?“ Goldberg ritzte Piets Arm relativ tief ein. Es blutete stark. Piet schrie auf und hielt sich den Arm. Zwischen den Fingern quoll Blut hervor. Anneliese sah entsetzt zu. Als sie das Blut laufen sah, meldete sich die Krankenschwester in ihr. Vorsichtig ging sie auf Goldberg zu.
„Darf ich Piet verbinden?“
Goldberg sagte nichts, er drohte aber auch nicht. Sie kam mit Kompressen und Mullverband wieder. Ihre Beine zitterten unerträglich. Als sie einen Druckverband anlegte, fragte sie Goldberg:
„Was willst du, Aron?“
„Hier weg. Ich brauche ein vollgetanktes Auto. So lange lass´ ich keinen rein und keinen raus.“
„Dich mach ich fertig, du Arsch!“ rief Piet.
„Piet, halt die Klappe“, sagte Anneliese ruhig.
„Ich hau dir eins in die Fresse“, sagte Piet. Goldberg fasste ihn und schleuderte ihn an eine Wand, dass es krachte. Piet verzog das Gesicht und blieb einfach liegen. Goldberg wollte auf ihn eindringen.
„Bitte nicht, Aron!“ rief Anneliese. Goldberg blieb stehen.
„Bleib da besser liegen“, warnte er Piet. Der rührte sich nicht.
„Du sorgst jetzt für das Auto“, sagte Goldberg. Anneliese nickte. Sie rief die Bereichsleitung an.
„Doris, wir haben hier ein Problem“, sagte sie am Telefon. „Ein Patient hat Piet und mich als Geisel genommen. Er bedroht uns mit einem Messer. Er hat Piet verletzt. Er will einen vollgetankten Wagen.“
Anneliese wunderte sich, dass sie die Lage so ruhig beschreiben konnte. Sie legte auf.
„Hat Piet dich so aufgebracht?“
Goldberg nickte. Das Messer zeigte zu Boden.
„Ich will nicht wissen, was er gesagt hat. Er platzt manchmal vor Energie. Dann kann er sehr verletzend sein. Willst du ein Wasser?“
Goldberg nahm das Glas.
„Wo willst du hin?“ fragte sie. Sie zitterte. Sie spürte, dass sie weiterreden musste. Piet hielt die Hand über die Augen und blieb da, wo er gefallen war.
Goldberg zuckte mit den Schultern.
„Hast du öfter so eine große Wut?“
„Ich will nur weg. Weg von den Menschen. Ich will nicht mehr so wütend sein.“
„Das verstehe ich. Du bist provoziert worden. Das kann ich auch allen sagen. Die Wut war so groß, dass du sie nicht beherrschen konntest. Willst du mir das Messer bitte geben? Ich verstehe schon, wie das passiert ist.“
„Ich kann hier nicht bleiben!“ Er wirkte verzweifelt.
„Was wird die Polizei tun, wenn du wirklich hier abhaust? Nach einer Geiselnahme und der Aktion gegen Piet? Wohin werden sie dich stecken, wenn sie wissen, du kannst deine Wut nicht kontrollieren?“
Die Patienten saßen im Rauchzimmer oder waren in ihren Zimmern. Es war unnatürlich still. Piet sah mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihr hin. Es schellte an der Tür. Die Nachtschicht kam.
„Schwester Ulla hat auch einen Schlüssel. Sie wird gleich hereinkommen. Was soll ich tun?“
Goldberg wusste es nicht. Er gab Anneliese das Messer. Sie holte tief Luft. Sie brachte mit unendlicher Anstrengung einen Arm um Goldbergs Schulter. Die Muskeln in dem Arm zitterten.
„Es ist schon gut.“
Goldberg weinte. Anneliese bat Schwester Ulla, den Bereitschaftsarzt zu rufen. Für Piet riefen sie einen Krankenwagen. Dann setzte sich Anneliese ins Dienstzimmer. Sie konnte später kaum mehr aufstehen. Sie legte sich ins Bereitschaftsbett auf der Station. Goldberg bekam etwas zur Beruhigung und eine Sitzwache. Anneliese bekam Alpträume.

Drei Tage später trat Anneliese zu Piet ans Krankenbett.
„Tut schon gar nicht mehr weh!“ lachte er.
„Wo soll ich drücken?“ fragte sie und näherte einen Finger seinem verbundenen Arm.
„Geh bloß weg!“ Er schob ihre Hand weg. Sie gab ihm ein als Geschenk verpacktes, flexibles Päckchen.
„Was ist das?“ fragte er.
„Du musst es aufmachen, dann weißt du´s“, sagte sie.
Er packte eine Mütze aus. Anneliese hatte eine Applikation aufgenäht: Einen Pfeil, der auf eine runde Markierung wies. Darunter ein Text: Hier bitte draufschlagen!
„Das funktioniert nach dem Regenschirmprinzip“, erklärte sie, „wenn du keinen Schirm hast, regnet´s. Wenn du einen Schirm mitnimmst, regnet´s nicht. Setz die Mütze auf, dann wirst du garantiert keinen draufkriegen.“
Piet drehte die Mütze in der Hand.
„Anne“, sagte er mit leiser Stimme, „verzeih mir bitte!“

Letzte Aktualisierung: 01.08.2007 - 16.37 Uhr
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