Plötzlich saß die Ratte da, auf dem Rand der Mülltonne, sie atmete heftig, wie konnte sich ein so kleiner Brustkorb so heftig heben und senken.
Ich hatte gerade den Müllsack ausgeleert und den Deckel der Tonne schließen wollen, da saß sie, krallte sich fest und atmete.
Flüsterte.
Ich schloß die Augen, schüttelte kurz und heftig den Kopf.
Öffnete die Augen, hoffte, sie wäre fort.
Sie saß da, atmete, atmete.
So weit war es also gekommen.
Jetzt sah ich sie also auch schon tagsüber, nicht nur in der Nacht, wenn alle guten Geister mich verlassen hatten und nur ein sehr böser, sehr hochprozentiger Geist mich bewohnte, der mich daran hinderte, zu laufen, zu essen, zu schlafen, zu leben.
In der Nacht sah ich sie immer. Sie atmeten, sie winselten, sie lebten für mich, an meiner Stelle.
Sie waren um mich herum und hinter mir her.
Pausenlos.
Und nun sah ich sie schon am Vormittag?
Und das war neu, nun flüsterten sie.
Mir war klar, daß, wo diese eine war, die anderen bald nachkommen würden, und die Vorstellung, daß mein privates Rattenheer mich von nun an flüsternd auch morgens umgeben würde, brachte mich fast um.War das die Strafe dafür, daß ich seit Wochen wieder einmal versucht hatte, etwas Ordnung in mein Leben zu bringen. Ich war eigentlich viel zu schwach zum Laufen, aber es waren in letzter Zeit zu viele Fliegen geworden, dazu der strenge Müllgestank, die Berge halbgegessener Mikrowellenmahlzeiten und schmutziger Wäsche, die Armeen geleerter Flaschen in allen Zimmern. Ich hatte etwas tun müssen, aber zum Eigentlichen reichte es nicht. Diese lähmende Schwäche, die mich nie verließ, hielt mich davon ab, an meiner Forschungsarbeit über das Venedig des 14. Jahrhunderts weiterzuarbeiten - was hieß, weiterarbeiten?? - schon den Wust von Papieren, der die Vorarbeit von zwei Jahren darstellte, überhaupt ansatzweise zu ordnen, ging über meine Kräfte.
Und dazu kam – ich traute mich an diesen Papierberg nicht mehr wirklich heran…Sie winselten, sie raschelten, sie atmeten, und wenn es tiefe Nacht war, krochen sie hervor aus den stinkenden Höhlen und Windungen der grausamen Geschichte Venedigs, quollen durch meine Gemächer und verfolgten mich und trieben mich in die Enge.
Und ab heute würden sie flüstern? Und das am hellichten Tag?
…
wo bin ich
was schaut der mich an
er stinkt
er schaut mich an
diese augen
sie schauen leblos starr wie in erwartung des finalen schlages
die augen damals genauso
kalte blaue augen
kälte im großen saal
diese augen vereisten die luft wenn ihr blick durch den saal schnitt
kein feuer keine wärme
der alte doge war ganz allein zurückgeblieben
seine frau hatte ihn verlassen
sie lebte nun in unehre mit einem türsteher in pozzuoli
und in glück und glut
nur eine alte dienerin hielt dem dogen die treue
zu später stunde entfachte sie ein kleines feuer im riesigen kamin
schwerfällig erhob sich der doge von seinem prächtig geschnitzten einsamen stuhl
schwerfällig schlurfte er auf den kamin zu um sich dort niederzulassen
ich werde das nie vergessen
er hatte die augen gesenkt
für einen moment sah man seine kalten blauen augen nicht
es war als ob der saal plötzlich in wärmeres licht getaucht wäre
oder war das das winzige kaminfeuer das sich leicht flackernd traute die glasharte eiseskälte zu durchbrechen
wer konnte es ihr verdenken daß sie in diesem moment
überwältigt von diesem anflug an wärme
und dieser illusion von geborgenheit
sich unwiderstehlich zu diesem einen hellen glühenden punkt im riesigen leeren kamin
hingezogen fühlte
meine süße frau
sie vergaß wo sie war
sie wollte nur zu diesem punkt
ich konnte sie nicht zurückhalten sie wand sich aus dem nest und huschte los
blindlings gierig hin zum licht
sie rannte los aus dem nest quer durch den saal
blind war sie blind vor dem wunsch zum licht zu gelangen zur wärme
so selten in diesem eisigen palast aus marmor und glas
sie läuft und läuft
und ist fast da
und
gerät dem humpelnden dogen vor die füße
etwas weiches hemmt seinen schritt
der leib meiner süßen frau
der doge stolpert
hebt wütend den fuß und tritt zu
hebt die augenlider und
der saal verwandelt sich in einen blauglitzernden klumpen undurchdringlicher luft
meine frau im schock völlig erstarrt fliegt
fliegt in hohem bogen in den kamin und zerbricht an seiner rückwand
und stirbt beleuchtet von den resten des zerstiebenden feuers
der doge sitzt vor dem kamin
sieht durch das wieder erstarkende feuer die reste eines kleinen körpers
sie wollte nichts anderes als wärme und leben
nun brennt sie auf ihrem scheiterhaufen
in einem licht das sie nicht mehr sieht
schon seit tagen
seit wir im hafen das schiff verließen
ging es mir schlecht jetzt geht es mir noch schlechter
und
ich beschließe den keim der krankheit den ich in mir trage
an den mörder weiterzugeben
ich laufe auf ihn zu
er sieht mich nicht er schläft
ich beiße ihn
er zuckt zusammen wacht nicht auf
ich verschwinde in den hohen regalen der bibliothek
wühle mich todeskrank in die aufgehäuften pergamentberge
der doge
schläft fiebrig atmet schwer
er trägt den keim der krankheit in sich
die alte dienerin wird ihn übernehmen und weitergeben
und venedig wird stöhnen unter der seuche
…
Es ist nicht möglich, daß diese Ratte echt ist.
Aber sie sieht so echt und wirklich aus – wenn auch etwas krank.
Und sie hat, so scheint es, mir ihre Geschichte zugeflüstert.
Und weiterhin scheint es, daß ich nun vollends verückt werde.
Sie muß ein Phantom sein. Sie kann nicht echt sein. Oder doch.
Aber in beiden Fällen wäre ich verrückt.
Ich muß diesem Unerträglichen ein Ende machen. Ich muß.
Ich hole die große flache Schaufel aus dem Gartenschuppen.
Die Ratte sitzt auf dem Rand der Mülltonne, zittert, atmet, flüstert.
Endlich frei sein…
Ich schlage zu.
Letzte Aktualisierung: 15.08.2007 - 09.10 Uhr Dieser Text enthält 5702 Zeichen.