Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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August 2007
Flugangst
von Ulrike Weinhart

Nach dem ersten Weißbier ging es Joe schon besser. Die Tablette gegen Reiseübelkeit spülte er mit einem zweiten hinunter. Besondere Situationen erforderten besondere Maßnahmen. Und diese Situation war eine besondere. In knapp drei Stunden würde er, Josef Wagner aus Krautling bei Rosenheim, jener Frau gegenüberstehen, die den Rest seiner Karriere festigen, ach was, in Marmor meißeln und auf ein Podest stellen würde. Er hatte schon ganz brauchbare Interviews gemacht und verkauft, trotzdem war er nur wenigen Insidern der Branche bekannt. Wenn er dieses Interview im Kasten hatte, würde die Medienwelt auf ihn aufmerksam werden. Vielleicht durfte er dann die Radiosendung moderieren, um die er sich schon einige Male beworben hatte. Und nach einer Weile bekäme er vielleicht die Moderation einer Nachmittags-Fernsehshow bei den Öffentlich-Rechtlichen, später seinen eigenen Sendeplatz - dieser Gottschalk würde irgendwann auch mal in Rente gehen. Er musste nach London, koste es, was es wolle.
„Joe, sag mal, wovon träumst du denn? Blond?“ Hajo, sein Kameramann, einen schwarzen Koffer in jeder Hand, rempelte ihn augenzwinkernd an. „Unser Flug wurde aufgerufen.“
Joe packte den Laptop, das Aufnahmegerät und seinen Mantel, atmete tief durch und reihte sich in die Schlange der einsteigenden Fluggäste.
„Wird schon gehen. Weißt ja, runter kommen sie alle“, versuchte Hajo ihn aufzuheitern. Joe beschloss, seinen Kollegen umzubringen, falls er ihm im Verlauf der nächsten zehn Jahre noch ein einziges Mal diesen ausgelutschten Witz präsentieren würde.

Joes Puls erhöhte sich schlagartig, als er an dem Mann vom Bodenpersonal vorbeiging, der sein Ticket zum letzten Mal kontrollierte. Vor ihm gähnte der dunkle Schlund des Teleskop-Tunnels. Joe musste sich mit aller zur Verfügung stehenden Kraft zwingen, hineinzugehen. Der Tunnel wippte unter den Schritten der vielen Menschen. Augenblicklich bildete sich kalter Schweiß auf seiner Stirn. Sein Herz wummerte gegen die Rippen und es begann in seinen Ohren zu rauschen. Stöhnend hielt er inne. Er stützte sich gegen die Wand, die Stirn gegen die Ziehharmonikastruktur gelehnt, und versuchte, ruhig ein- und auszuatmen. Sofort war eine Stewardess bei ihm. Unter glücklicheren Umständen hätte ihn die Aufmerksamkeit der zierlichen Blondine erfreut, im Moment konnte er nur angestrengt versuchen, seinen Fluchtinstinkt zu unterdrücken. Dabei war er noch nicht einmal drin in dem verdammten Flieger.

„Flugangst. Er hat die Tablette zu spät genommen“, verkündete Hajo der besorgten Stewardess und stellte ihr sein voluminöses Handgepäck vor die Füße. „Könnten Sie bitte mal ...“, sagte er, deutete mit dem Kinn auf die Koffer und stützte Joe. „Machen Sie sich keine Gedanken, ich kenn' das schon.“ Fröhlich pfeifend schleppte er ihn die Einstiegsröhre entlang. Joe hasste Hajos Optimismus, seine Unbeschwertheit und vor allem seine Ignoranz. Der Kerl war einfach zu doof, um die Gefahren zu erkennen, denen sie sich aussetzten. Was war ein Flugzeug denn mehr als Tausende Tonnen Aluminium, mit windigen Nieten von schlecht bezahlten Mechanikern aneinander genagelt, von uninteressiertem Wartungspersonal und von schlampigen TÜV-lern überprüft? Und sie saßen ergeben wie zahlendes Schlachtvieh in dem Ding, alle Türen waren verriegelt – hoffentlich, denn sonst wäre es gleich aus - und flogen zehntausend Metern hoch über dem sicheren Boden. Es WAR Wahnsinn!

Joe plumpste wie ein nasser Sack in seinen Sitz in der Business Class, die Augen geschlossen.
„Ich brauch' ...“, wimmerte er.
„Weiß schon.“ Hajo ging zur Toilette, kam mit einem Stapel nasser Papiertücher zurück und legte sie Joe auf die Stirn. Dessen Atem ging schnell und flach und er hielt die Augen geschlossen. Die besorgte Stewardess kam vorbei und schnallte ihn an.
„Kann ich denn gar nichts für Sie tun?“, fragte sie mitleidig.
„Geben Sie ihm ihre Telefonnummer“, scherzte Hajo. „Wenn er wieder zum Mensch geworden ist, ruft er Sie an. Oder ich. Ach, und bringen Sie mir bitte ein Bier. Und für ihn auch eines, oder besser zwei.“
Die Maschine rollte zur Startposition. In Joes Augen brannten Tränen und gleichzeitig fürchtete er, aus Angst den Verstand zu verlieren. So schlimm war es noch nie gewesen. Als der Schub einsetzte und das Flugzeug unter ungewöhnlich lautem Geklapper Geschwindigkeit aufnahm, verlor er für kurze Zeit das Bewusstsein. Hajo weckte ihn durch unsanfte Schläge auf die Wange.
„Mann, eineinhalb Stunden und wir sind da. Jetzt reiß' dich mal zusammen, Joe. Vermassel' uns das Ding nicht. Es geht hier nicht nur um deine Karriere, verstehst du?“
Joe stöhnte unter seinen Papiertüchern.
„Wenn wir das im Kasten haben, sind wir berühmt. Wirkt denn deine Tablette noch nicht?“
Joes Kopf zuckte hin und her, als wolle er nasse Haare trocken schütteln.
„Nimm noch eine“, schlug Hajo vor und holte eine Packung aus seiner Brusttasche. Er drückte zwei Tabletten aus ihrer Schutzfolie in Joes zitternde Hand und hielt ihm das Bierglas hin. Joe schluckte die Tabletten und trank in großen Zügen, ohne die Papiertücher von den Augen zu nehmen.
„Ich guck' mir mal das Interview durch, okay? Ich muss wissen, wann du die Killerfragen stellst und ich Großaufnahme brauch'.“
Ohne die Antwort abzuwarten, klappte Hajo den Laptop auf und klickte sich in den Ordner mit Joes Interviewfragen.
'Majestät, Ihr Verhältnis zu Lady Diana ist der Welt durch viele Verlautbarungen, auch von offizieller Seite, bekannt. Aber wie fühlen sie sich als MUTTER, jetzt, nachdem bekannt wurde, dass Ihr Sohn seine neue Gattin abermals betrügt - die Frau, mit der er damals Lady Di betrogen hat?', stand da.
Hajo sog hörbar die Luft ein. „Klasse, Joe. Hammerhart. Ich kann nicht glauben, dass sie dir das beantworten wird.“
„Ich habe meine Connections spielen lassen“, lallte Joe schläfrig unter den Papiertüchern hervor. „Und sie hat zugestimmt.“
'Wichtigtuer', dachte Hajo. „Wirklich, Joe? Der Renner! Ich schieß' Großaufnahmen ohne Ende, jede noch so kleine Zuckung um die faltigen Mundwinkel will ich sehen. Ich will wissen, wann sie lügt.“

Als die Stewardess mit dem Essen kam, saß der Flugangst-Passagier in den Sessel gekrümmt und atmete tief und regelmäßig. Die Tabletten hatten offensichtlich ihre Wirkung getan. Hajo winkte die Stewardess weiter, er selbst wollte auch nichts essen. Das bevorstehende Interview machte ihn nervös.
Auch während der Landung verhielt sich Joe außergewöhnlich ruhig. Nachdem die Maschine ausgerollt war und sich in Parkposition befand, griff Hajo nach dem Laptop, dem Aufnahmegerät und Joes Mantel und klopfte dem tief Schlafenden auf die Schulter.
„Nix für ungut, alter Freund“, murmelte er und verließ eilig die Maschine. Im Empfangsbereich steuerte er einen sehr vornehm gekleideten Herrn in Livree an, der ein dezentes Schild mit der Aufschrift 'Josef Wagner from Munich' in Händen hielt.
„I am Joe Wagner. Glad to see you!“, rief Hajo schon von Weitem und schüttelte dem königlichen Fahrer schwungvoll die Hand.

Letzte Aktualisierung: 17.08.2007 - 16.44 Uhr
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