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August 2007
Der Erbspiegel
von Karl-Otto Kaminski

Der Spiegel ist fast drei Meter hoch und mindestens genauso schwer. Nicht Meter, Zentner natürlich. Drei Zentner wiegt das Ding ganz sicher. Es hat eine vielfach verschnörkelte, altersdunkle Eichenfassung mit beeindruckend antiken Holzwurmlöchern und steht in unserer Diele. Dabei gehört der Spiegel gar nicht uns. Eleonores Mutter hat es vor Jahren irgendwie erreicht, dass wir dieses Untrumm bei uns aufstellen ließen. Es ist eines der wenigen Hinterlassenschaften einer mit ihr erlöschenden, einst recht vornehmen Familie.
In ihr kleines Appartement in der Seniorenresidenz Waldfrieden konnte Lina Hülsmeyer, geborene von Emscherbrücken das Möbel auf gar keinen Fall mitnehmen. Unsere Wohnung aus den Gründerjahren dagegen ist zwar altmodisch, hat dafür aber ausreichend hohe Decken. Und sie verfügt über einen völlig überdimensionierten Empfangsraum.
Genau diese beeindruckende, nicht gerade pflegeleichte Räumlichkeit, fast schon ein Salon, sei der richtige Rahmen für das letzte große Erbstück derer von Emscherbrücken, befand Mama Lina. Und etwas Pietät den Ahnen gegenüber könne man ja wohl verlangen! Einspruch seitens des bürgerlichen Schwiegersohns? Abgelehnt!
Haben Sie eine Schwiegermutter? Wenn ja, widersprechen sie ihr nie! Schwiegermutterentscheidungen haben das Gewicht päpstlicher Edikte. Natürlich wurde der Spiegel bei uns aufgestellt auf mächtiger Schnörkelkonsole, in der es nachts geheimnisvoll tickt. Jetzt kann sich jeder, der unsere Diele betritt, in dem bedrohlich schweren Glas in voller Leibesgröße bewundern, wenn er mag.
Ich mag das gar nicht. Ich habe eher Angst vor dem Ding. Der Spediteur, der es damals mit zwei Mitarbeitern in unsere Wohnung hievte und auf seinen Platz stellte, schnaufte schwer: „Ich würde da nicht jeden Tag dran vorbei gehen wollen.“
Auch Eleonore kann dieses Relikt aus uns absolut fremden, feudalen Zeiten nicht leiden. Nur hindert sie ein gewisser töchterlicher Respekt daran, das ihrer Mutter zu sagen. Wahrscheinlich hätten wir uns ja allmählich an sein Vorhandensein gewöhnt, würden das Ding womöglich ebenso ignorieren wie die, trotz häufig wiederholter Ölungen, ständig quietschende Balkontür oder den tropfenden Wasserhahn über der Wanne im Bad. Aber der Spiegel wurde schon bald nach seiner Installierung zum Altar schwiegermütterlichen Ahnenkults.
Seit wir ihn haben, erscheint die alte Dame nämlich mit fürchterlicher Regelmäßigkeit jeden Donnerstagnachmittag, fünf Minuten vor fünf, vor unserer Wohnungstür, altmodisch aufgedonnert wie Queen-Mum, und begehrt Einlass. Natürlich lassen wir sie rein. Schwiegermütter haben ein traditionelles Recht darauf, eingelassen zu werden, wenn sie klingeln.
Mama Lina nimmt dieses Recht auch ganz selbstverständlich in Anspruch, ohne Bedenken und ohne Rücksicht auf Pläne, die Tochter und Schwiegersohn möglicherweise haben könnten. Sie ignoriert unser Familienleben völlig und gestaltet den Donnerstagnachmittag zu ihrem Ritual, bevor sie, so um sechs, einigermaßen angesäuselt wieder verschwindet.
Zugegeben, dass sich dieser Besuch so ermüdend regelmäßig wiederholt, ist ein wenig auch meine Schuld. Als ich herausbekam, dass Madame ein Faible für Cocktails hat, versuchte ich irgendwann unvorsichtigerweise, mir mit einem Feuerball etwas Wohlwollen von ihr zu erkaufen.
Feuerball ist ein Getränk, und das heißt nicht nur so, es wirkt auch entsprechend. Reichlich Wodka und Cherry Brandy, zu gleichen Teilen gemischt, werden mit einem Spritzer Kaiserbirne verfeinert. In dieser Mixtur ertränkt man dann eine Cocktailkirsche.
Mit diesem Drink erntete ich zum ersten Mal einen anerkennenden Blick von meiner Schwiegermutter. Aber leider hatte dieser Erfolg auch seinen Preis. Seither betrachtet Mama Lina den Cocktail nämlich als festen Bestandteil ihrer regelmäßigen Visiten.
Das erste Glas hat bei ihrer Ankunft bereit zu stehen, natürlich gut gekühlt und mit Reifrand. Dazu habe ich die umgedrehte leere Cocktailschale zuvor ein wenig in Zitronensaft zu tunken und anschließend in Zucker. Das sieht nicht nur hübsch aus, es verfeinert angeblich auch den Geschmack. Diesen Drink leert sie immer stehend im Wohnzimmer.
Mit der zweiten Füllung, der Reifrand ist dann schon etwas abgelutscht, geht sie hinaus in unseren „Salon“, stellt sich vor den Erbspiegel, hebt ihr Glas pathetisch empor und prostet den edlen Dahingegangenen derer von Emscherbrücken zu. Keine Ahnung, warum sie das macht und wem die gesundheitserhaltenden Wünsche helfen sollen. Trinksprüche sind posthum doch völlig sinn- und wirkungslos.
Eleonore und ich, nehmen an der Zeremonie nicht teil, höchstens als Zuschauer. Wir lieben keine harten Drinks, und das Ritual ist ja schließlich Sache der letzten Vertreterin einer adligen Familie. Zu der gehören wir beide nicht, ich als popeliger Bürgerlicher von Haus aus und meine Frau deshalb, weil sie nur eine geborene Hülsmeyer und keine von Emscherbrücken ist.
Meine Schwiegermutter aber trinkt mit sichtlichem Genuss noch einen weiteren Feuerball. Aller guten Dinge sind schließlich auch in vornehmen Adelskreisen immer noch drei. Hat sie den Trunk zu ungefähr zwei Dritteln geleert, beginnt sie jedes Mal mit schon etwas schwerer werdender Zunge über unsere mangelnde Pietät gegenüber den Ahnen zu motzen. Dabei haben wir mit denen doch überhaupt nichts zu tun.
Sie spreizt sich kokett vor dem Spiegel, zupft an ihrem altmodischen Jabot, versucht eines der schwachvioletten Löckchen kess unter ihren Hut zurück zu biegen. Schließlich aber greift sie mit abfälligen Äußerungen über die Sauberkeit in unserem Heim zu einem Mikrofasertuch, das sie wie ein Magier plötzlich aus ihrem Ärmel zieht. Damit putzt sie dann wütend am Spiegel herum, der dabei abwehrend knarzt und knackt, weil es an ihm gar nichts zu putzen gibt.
Darüber ärgert sich Eleonore, die wirklich sehr reinlich ist, und die den ungeliebten Ahnenspiegel vor jedem Besuch ihrer Mutter besonders gründlich abledert. Es macht aber auch mich jedes Mal fuchsteufelswild. Nur nützt das nichts. Schwiegermutter findet stets ein paar unsichtbare Staubkörnchen und wischt heftig über das antike Glas, so hoch sie langen kann, Donnerstag um Donnerstag, Jahr um Jahr.
Schon am Mittwochabend spüre ich, wie die Wut langsam in mir hochsteigt bei dem Gedanken, dass morgen Nachmittag die gnädige Frau wieder an der Wohnungstür läutet, nach „ihrem“ Feuerball verlangt und mit der feierlichen Handlung beginnt: Ein Glas zum Einstimmen, ein zweites auf die vielen glorreichen Ahnen und das dritte dann mit gehässigen Bemerkungen über unseren, angeblich so schmuddeligen, bürgerlichen Haushalt.
Ich habe diese rituellen Besuche so satt, das hoheitsvolle Getue, den Alkoholkonsum der Alten und ihre Beleidigungen, unter denen besonders Eleonore so leidet.
Andererseits ist Familie schließlich Familie. Ich bin weder fähig, Mama Lina die Tür zu weisen, noch traue ich mich, den Spiegel ohne ihre Zustimmung einfach zu entfernen. Was also kann ich tun? Verdammt noch mal, der Spiegel muss verschwinden, oder meine Schwiegermutter, oder noch besser und am liebsten alle beide!
Zwei schmale Keile hat der Handwerker seinerzeit unter die Konsole getrieben. Zwei kleine Holzstückchen sollen das Möbel in unbedenklich senkrechter Lage halten, ein leichtes, in Jahrzehnten gewachsenes Gefälle im Boden unserer Diele ausgleichen. Leider haben die Dinger den Hang, auf dem gebohnerten Parkett und unter dem Druck des Gewichts, langsam wieder herauszurutschen. Dazu brauchen sie seltsamerweise ziemlich genau eine Woche.
Also schlage ich jeden Donnerstag mit einem Hammer die vorgeschlichenen Keile wieder zurück, um den Spiegel zu stabilisieren. Ohne diese Maßnahme schwankt das alte Stück bei jeder Berührung bedenklich. Anschließend reinigt meine Frau gründlich die Glasfläche, die ihre Mutter dann aber doch wieder als unsauber bezeichnet.
Ich mag dieses ungeliebte Relikt adeliger Sentimentalität aber nicht immer wieder standfest machen. Und ich will auch nicht, dass sich Eleonore ständig diesem sinnlosen, Reinigungsritual unterzieht.
„Du weißt doch genau, was geschieht.“ rede ich ihr zu. „Du kannst das Ding so gründlich reinigen, bis kein Mikroskop mehr ein Atömchen drauf findet. Trotzdem wird die Alte immer noch Unsauberkeiten darauf entdecken. Begreif doch endlich, dass das reine Schikane ist, und dass diese Gemeinheit ein Ende haben muss.“
Eleonore weint ein bisschen. Ihre Vernunft und eine unvernünftige Liebe zu ihrer despotischen Mutter kämpfen in ihr. Ich sehe das und versuche meine Frau zu trösten, während ich den Cocktail vorbereite. Schließlich erreiche ich, dass sie wenigstens heute die überflüssige Reinigungsprozedur unterlässt.
Lina Hülsmeyer, geb. von Emscherbrücken, kommt auch an diesem Donnerstag pünktlich. Wortlos vernichtet sie ihren ersten Feuerball, wie immer, bei uns im Wohnzimmer. Mit dem zweiten schreitet sie erhobenen Hauptes in die Diele, wo sie, wie üblich, den vielen Gottliebs, Eberhards, Karls, Damians und Kunos zuprostet, den längst vertrockneten Ästen am Stammbaum ihrer Familie.
Dann holt sich Mama Lina ihren dritten Cocktail. Dabei gönnt sie weder mir noch ihrer Tochter ein Wort oder einen Blick. Wieder draußen zückt sie unter den gewohnten Schmähreden über unseren verlotterten, schmutzigen Haushalt ihr Mikrofasertuch. Wir bleiben heute stumm im Wohnzimmer und können das nicht sehen, aber warum sollte es diesmal anders sein als sonst? Ich lege beruhigend meinen Arm um Eleonore, in deren Augen schon wieder ein paar Tränen stehen.
Da lässt uns plötzlich ein hoher, spitzer Schrei zusammenfahren, dem ein gewaltiges Poltern und Klirren folgt. Sekundenlang lähmt uns der Schreck. Jetzt rührt sich draußen nichts mehr. Es herrscht wahrhaft Totenstille.
Wir stürzen hinaus in unseren „Salon“. Mein Gewissen versucht sich ein bisschen zu schämen, weil ich es heute unterlassen habe, die losen Keile unter die Spiegelkonsole zu klopfen. Aber mein Herz macht unangebrachterweise einen kleinen, familien- und adelsfeindlichen, pietätlos fröhlichen Hopser.

Letzte Aktualisierung: 16.08.2007 - 23.41 Uhr
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