Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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September 2007
Von heut auf morgen
von Katharina Joanowitsch

Die Guppys beobachtet sie am Liebsten. Wie flink die sind. Ihre rot und orange schillernden Leiber schießen koboldartig durch das Aquarium, oder stehen reglos in dem träge bewegten Indischen Wasserfreund, einer Pflanze mit dem herrlichen, griechischen Namen Hygrophila polysperma. Wie einfach manche Freuden sind. Wie genügsam sie, Magdalena, geworden ist. Mit beiden Händen umschließt sie den wärmenden Teebecher. Das leichte Zittern ist abgeklungen. Langsam senkt sie ihre Augenlider, bis sie ganz geschlossen sind. Atmet in tiefen Zügen. Die Kerzen verströmen einen zuckrigen Vanilleduft. Wenn sie ihren Kopf zum Tisch dreht, nimmt sie ihre Flammen als leuchtende Flecken wahr. Bald wird Jonas hier sein, gemeinsam werden sie den Arzt aufsuchen, das Testergebnis wird hoffentlich vorliegen. Langsam öffnet Magdalena die Augen.

Vor drei Monaten, es war an einem der letzten Augusttage. Magdalena, noch ganz im Hochgefühl einer frischen Eroberung, beichtete Jonas nicht etwa, nein, sie schwärmte. Ein wüster Streit flammte zwischen ihnen auf und verschmorte ihre Beziehung zur Unkenntlichkeit. Jonas trieb die Verzweiflung aus dem gemeinsamen Bett und der Wohnung. Magdalena aber legte sich schlafen in der Gewissheit, Hannes – den Auslöser des Dramas – auf seiner Tournee zu begleiten. Am folgenden Morgen wunderte sie sich, dass es nicht hell werden wollte. Sie fingerte nach ihrer Nachttischlampe und knipste. Sie rief nach Jonas und erfühlte ein kaltes, glattes Laken. Sie riss ihre Augen weit auf und wedelte mit ihren Händen vor dem Gesicht. Sie hielt alles für möglich, nur nicht, dass sie über Nacht erblindet war. Panik ergriff vollständig Besitz von ihr, machtlos war sie gegen diesen Ansturm von Angst. Bis zur Wohnungstür tastete sie sich wimmernd, um endlich ihr Entsetzen ins Treppenhaus zu brüllen. Die alte Frau Schmidt von gegenüber stürzte heraus und versuchte sie zu beschwichtigen, nahm sie mit in ihre überhitzte Küche, wo das Rentnerpaar gerade beim Frühstück saß, und bedeckte Magdalenas Blöße mit einer Decke. Fassungslos kauerte Magdalena in einer Dunkelheit, die so vollständig war, dass es unmöglich ihre Wirklichkeit sein konnte. Unvertraute Geräusche bedrängten sie. Hilflos bewegte sie ihren Kopf von einer Seite zur anderen, doch ihr Orientierungssinn versagte und sie konnte sich weder an die Einrichtung von Schmidts Küche, noch an deren Gesichter erinnern. Ein heißer Becher wurde ihr in die Hand geschoben. Der Kaffeeduft tröstete und löste zugleich einen warmen Tränenstrom aus. Laut überlegten die Schmidts hin und her. Vielleicht eine latente Diabetes? Das wäre im Bekanntenkreis schon vorgekommen. Oder, um Himmels Willen, ein Schlaganfall! Während Frau Schmidt bereits aufgeregt die Notrufnummer wählte, tätschelte Herr Schmidt Magdalenas in die Decke verkrallten Hände. Keine Bange, mien Deern, Schlaganfall, nee, der sei ja wohl nicht möglich, dann dürfte doch nur ein Auge betroffen sein. Der Notarzt kam, wortlos stand er über Magdalena gebeugt, berührte sie an unerwarteten Stellen, keuchte ihr seinen verbrauchten Atem ins Gesicht, gab ihr eine Beruhigungsspritze und die Überweisung zum Augenarzt und ging wieder. Ach, Kindchen! hat Frau Schmidt wohl zum hundertsten Mal gesagt.

Magdalena schrickt zurück als plötzlich aus dem Wasserpflanzendickicht hervor ein großflossiger Fächerschwanzguppy schießt. Wie dumm doch ihre Duldsamkeit ist, wie lächerlich. So rasch wie der Fisch zuckt der Gedanke durch den Kopf. Schwer genug, dass sie körperlich so abhängig geworden ist von Jonas. Wie dankbar sie ist, sagt Magdalena ihm tagtäglich. Wie selbstlos er sich um sie gekümmert hat, als sie hilflos in ihrer Schwärze gefangen war, sogar seine Zwischenprüfungen hatte er abgesagt. Doch eines wird er nicht zu hören bekommen, eines wird sie ihm nicht sagen können, niemals, nie! Nie wird er von ihr hören, dass sie Reue empfindet. Diese kurze, heiße Liäson mit Hannes ist der eigentliche Quell aus dem sie schöpft, auch wenn sie mit niemandem, schon gar nicht mit Jonas, darüber sprechen kann. Auch wenn sich diese Perspektive binnen eines Tages als Illusion herausgestellt hatte. Doch seine Musik, seine Stimme, wird bleiben, alterslos und jederzeit abrufbar.

An jenem schwarzen Montag war Jonas am späten Abend erst aufgetaucht, zunächst verletzt und abweisend, dann, Magdalenas Zustand begreifend, abbittend und zerknirscht. Sie selbst war durch den Schmidttag, an dem ein Essen unterschiedslos in das nächste überging, so zermürbt, dass sie sich gleich an ihn klammerte. Frau Schmidt hatte sie unentwegt bemuttert, in eine ihrer Kittelschürzen gewickelt und kaum zehn Minuten allein gelassen. Die Augustsonne hatte das Hinterhaus aufgeheizt. Magdalena brütete vor sich hin und verfluchte Hannes bereits. Nach Stunden war es ihr gelungen, ihn zu erreichen, doch als sie ihm mit wenigen Worten ihre Situation geklagt hatte, war Hannes Stimmung schlagartig abgekühlt. Darauf könne er keine Rücksicht nehmen, es täte ihm zwar Leid, aber... dürre Worte des Abschieds.
Am Dienstag stellte der Augenarzt eine Uveitis fest, eine akute Entzündung der mittleren Augenhaut und verschrieb Cortison in hoher Dosierung. Eine Erklärung für die Ursache fand er nicht, doch eine Vermutung war bereits aufgetaucht: psychischer Stress. Der Arzt prognostizierte eine Verbesserung innerhalb von drei Wochen. Magdalena sollte absolute Ruhe halten, alles Aufregende sollte von ihr ferngehalten werden.
Das Cortison schlug rasch an, bereits nach drei Tagen lichtete sich die Schwärze ein wenig, Umrisse nahmen Gestalt an, doch war Magdalena zu ungeduldig, um sich daran zu freuen. Ihr vom Cortison vollmondartig aufgeblähtes Gesicht, das ihr nach drei Wochen geisterhaft aus dem Spiegel entgegenstarrte, schockierte sie dermaßen, dass sie ihn verhängte. War es ein gutes oder schlechtes Zeichen, dass Magdalena zu keinem Zeitpunkt Schmerzen empfand?
Das Aquarium war Jonas Idee. Wenn der Auslöser der Erblindung psychischer Stress wäre – nicht unwahrscheinlich bei Magdalenas Talent, möglichst drei Vorhaben gleichzeitig zu verwirklichen, mehr Studienfächer zu belegen, als notwendig, unzählige Kontakte in alle Welt zu unterhalten – so wäre eine Besänftigung des Augensinns doch das Richtige. Und so schleppte Jonas einen Glaskasten an, für den er die halbe Küche umräumen musste. Leise gluckernd erhellte das Aquarium nun die dunkelste Ecke, feine Luftperlenschnüre stiegen glitzernd durch das leuchtende Wasser und lockten Magdalena an. Bald saß sie davor und versank im Anblick der Miniaturwasserwelt.
Auf ihre Augen war Magdalena stolz. Dass sie faszinierend seien, hatte sie ihr Leben lang gehört. Sie gäben ihrer Erscheinung etwas Edles, Bezwingendes. Übergroß und leicht vorgewölbt, umkränzt von dichten Wimpern, würden sie gletscherblauen, glänzenden Spiegeln gleichen. Seelenspiegel, nannte Jonas sie, der wusste, wie haltlos man in ihnen versinken konnte. Nun erfuhr Magdalena schmerzlich, dass diese Augen auch ein Spiegel ihres Körpers waren, seiner Verletzlichkeit und Schwäche.
Tatsächlich war die Sehkraft nach drei Wochen im linken Auge zu fast hundert Prozent wieder erlangt, im rechten zu achtzig. Überglücklich stürzte sich Magdalena wieder in den Vorlesungsbetrieb, wechselte kühn Geschichte gegen Biologie, halste sich Hausarbeiten auf, an denen sie bis spät nachts schrieb, trank und rauchte unbekümmert. Doch erwachte sie vor einer Woche – an dem Tag sollte sie ihr Referat „Herkunft der Roma aus Indien“ halten – und konnte ihren Mund nicht öffnen, heraus kam nur ein Stöhnen. Sie fühlte die Lippen nicht, ihr rechter Arm lag schlaff und fremd neben ihr, das rechte Bein ein unbegreiflich reglos.

Magdalena lässt sich näher an den Tisch rollen, stellt den Teebecher ab. Draußen jagt eine regennasse Novemberböe der Buchenhecke zum Schmidt-Garten die letzten Blätter ab. Sie wird sich den Regenumhang überstülpen müssen, in dem sie so deprimierend zwergenhaft aussieht. Den Rollstuhl haben Schmidts organisiert. Sie benutzt ihn in der Wohnung aus Bequemlichkeit, obwohl die Beinlähmung fast aufgelöst ist, doch den Weg zum Neurologen wird Jonas sie schieben müssen. Schlüssel klackern gegen die Eingangstür, Jonas stößt die Tür auf und bringt neben dem bitteren Geruch nach feuchten Blättern auch einen verlockenden Duft nach asiatischem Essen mit. Bevor sie zu Dr. Elias aufbrechen, werden sie essen. Jetzt erst spürt Magdalena ihren Hunger.
Wie merkwürdig, wenn etwas Befürchtetes wirklich eintrifft. Magdalena und Jonas wissen nicht mehr: war ihre Hoffnung zu schwach oder ihre Furcht zu groß, so dass sie das Unglück förmlich herbeigefürchtet haben? Sie wissen nun aber, dass die neurologischen und radiologischen Untersuchungen der Krankheit den Namen ‚Multiple Sklerose’ gegeben haben. Und dass diese körperlichen Ausfallattacken dauerhaft zu Magdalenas Leben gehören werden, also zu ihrem gemeinsamen. Sie wissen nun auch, dass der Rollstuhl keine zwingende Endstufe sein muss. Magdalena empfindet bei dieser Aussicht keine Erleichterung, auch nicht bei der Aussicht, für eine Woche ins St.Georg Krankenhaus an den Tropf zu kommen, wie Dr. Elias dringend rät. Er telefoniert bereits mit der Station.
Aber Jonas ist an ihrer Seite. Er stülpt ihr diesen bescheuerten Zwergenumhang wieder über, als sie die Praxis verlassen und schiebt sie durch den stürmischen Regen nach Hause mit kleinem Umweg über den Backshop, um Brötchen und die Stadtzeitung zu kaufen. Zurück in der Wohnung, unter der Küchenlampe, sticht Magdalena die Schlagzeile der Zeitung in die Augen: „Folksänger im Rausch“. Ein Foto zeigt, unscharf aber erkennbar, Hannes, hingelagert zwischen zwei nackten Schönen. Magdalena spürt deutlich die hitzige Röte, die über ihr Gesicht flammt. Wütend kippt sie ihren Teepott auf die Zeitung. Der Tee ist verdammt heiß und es ist ganz normal, dass sie schreit, schreit, bis Jonas den Zeitungsmatsch in den Müll geschmissen hat und sie in den Arm nimmt.


©Joanowitsch 2007

Letzte Aktualisierung: 19.09.2007 - 21.01 Uhr
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