Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Armer Grischa! Woher bist du gekommen?
Eines Tages warst du einfach da, aus dem Nichts. Es ging so schnell und obwohl ich dich nicht kannte, liebte ich dich wie eine Mutter, echte, uneigennützige Liebe. Hätte ich etwas tun können? Hätte ich sollen?
Wärest du gegangen, hätte ein guter Freund einen Termin bei dem besten Psychologen am Platze für dich vereinbart?
Wahrscheinlich - und nötig wäre es auch gewesen, aber du hattest keinen guten Freund. Nur eine Mutter habe ich dir gegeben.
Und hätte ich dich zum Psychologen getrieben, was hättest du auf die obligatorische Frage nach deiner Kindheit geantwortet?
Wohl nichts. Instinktiv hättest du in deine Jackentasche gegriffen, doch sein strenger Blick hätte dich innehalten lassen, nur widerwillig hättest du den Griff um die Zigarettenschachtel gelockert, wärest dir mit der nun freien, unbeschäftigten Hand durchs Haar gefahren und hättest mit den Schultern gezuckt.
Wie konnte eine Kindheit schon sein, wenn man Grischa Maria Alexej Köhler hieß?
Mutter Köhler streichelte ihr zehnte-Woche-Bäuchlein, das noch keines war und dachte nach. Ja, etwas Russisches sollte es sein, obwohl ihr Sohn dem Pass nach wahrlich kein Russe werden würde. Grischa! Grischa, der russische Diminutiv von Georg und Gregor. Das klang bedeutend, nach so viel mehr, nach Niedlich-Kleinem und gleichzeitig Großem, bedachte man den Ursprung. Ihr Sohn eingereiht in eine Linie von Heiligen, Fürsten und Königen. Wegweiser würde der Name sein, ihn erinnern, wenn man ihn riefe, an die Bestimmung, die Mutter Köhler sich für ihn erdacht, an Erbtante Maria, die ein klein wenig der erhofften Glorie bereits in das Köhlersche Leben gebracht hatte, erheben würde er ihn über die missliche Unfreientradition, die noch im Nachnamen steckte.
Das Schreien deiner Mutter hallt mir in den Ohren, den Arzt höre ich sagen: „Ein Junge! Meinen herzlichen Glückwunsch!“ Selig lächelt sie, sie wird dir den richtigen Weg ebnen. Ich sehe sie über deine Wiege gelehnt, höre ihre Stimme traurige, russische Weisen singen, die sie in einem Buch gelesen hat. Ich sehe dein kleines Gesichtchen hin- und her wiegen, sacht und melancholisch, wie an Vergangenes erinnernd, wird Mutter sagen und Vater wird ob dieses Unsinns mitleidig den Kopf schütteln. Sie fängt dich ein, spinnt und spinnt, umspinnt dich mit einem klebrigen Netz mütterlicher Fürsorge, mütterlichen Wohlwollens, das du nicht verlieren willst, darfst, kannst, du hast doch nur sie. Sie hört nicht zu, dir nicht, Vater nicht, sie zuckt nur mit den Schultern, denn ihr Mutterherz weiß es so viel besser. So gut meint sie es, Größtes wünscht sie sich für dich, Größtes wie es ihrem einzigen Sohn gebührt. Du sollst es mal besser haben als sie.
Grischa war sieben, als er zum ersten Mal aus der Schule nach Hause kam und weinte. Es war sein erster Schultag. Schluchzend verfluchte er die Lehrerin, die Schule, die Mutter, seinen Namen, doch Mutter Köhler zuckte nur mit den Schultern und verschwand in der Küche, um das Essen zu bereiten, während der Vater ihm in die Seite knuffte, lächelte und sagte: „Jeder hat halt seine eigene fixe Idee und sie hat eben eine Vorliebe für die Romanows. Sei froh, dass sie dich nicht Rasputin genannt hat!“ Doch das vermochte Grischa nicht zu trösten.
Ich sehe dich in deiner Klasse sitzen, zusammengekauert, die Schultern hochgezogen. Du bist ein sanftes Kind. Scheue Blicke wirfst du den vielen fremden Kindern unter deinem langen Pony zu. Deine geschwungenen Wimpern zucken, als die Lehrerin alle Kinder mit ihrem vollen Namen aufruft. Die Kinder glucksen, kichern, lachen, so fremd klingt dein Name, so anders, so seltsam, so lächerlich. So anders fällt dein Haar, so anders der Ärmel deines Hemdes über die blauen Adern deiner blassen Handgelenke. Es ist eine Tortur, aber du arrangierst dich damit, du musst es ja. Sogar zur Ski-Freizeit fährst du schließlich mit in deinem Abschlussjahr. Ich sitze an deinem Bett im Krankenhaus, nehme den Desinfektionsgeruch wahr, als du das Skifahren verfluchst und dir über den Gips streichst, der deine zertrümmerte Hand ruhigstellt. Du hasst diesen Geruch und ich weiß, dass ich ihn dir viele Male nicht werde ersparen können, wie sehr ich mich auch bemühe, und du weißt es auch. Von heute an werde ich mich jeden Tag mehr um dich sorgen, jeden Tag um dich herumhetzen, geschäftig und zugleich so paralysiert. Um dich herum werde ich aufräumen, nicht nur jeden Stein dir aus dem Weg räumen, damit du nicht fällst, jeden Gehsteig dich umwandern lassen, damit du nicht stolperst, sondern auch jede Scherbe, jede Klinge verschwinden lassen, bevor du den Raum betrittst. Dann werde ich nicht weitermachen, sondern zum Joggen gehen, mich im Kino ablenken oder vielleicht sogar meine Krimskramsschublade in der Küche aufräumen, nur damit ich mich nicht an den Schreibtisch setzen muss, denn ich kenne dein Dilemma besser als jede andere, es quält mich, dich aber nicht, du erahnst es vielleicht, aber weißt es noch nicht.
Als der Anruf aus dem Südtiroler Krankenhaus kam, frohlockte Mutter Köhler gleich zweifach. Hatte sie es nicht immer gewusst? Vorher war es einzig mütterliche Intuition gewesen. So ein untrügliches Gefühl, das Mütter haben, wenn sie ihr Kind unter dem Herzen tragen, wissend, dass es nicht nur nach beschützender Mutterliebe lechzte, sondern auch weitaus mehr in ihm steckte, als der Sohn einer Hausfrau und eines Maurers zu sein. Dann waren die Zeichen dazu gekommen. Grischas von jeher aristokratische Nase, diese zarten, feingliedrigen Finger, die für Arbeit nicht geschaffen waren, ferner seine von Muttern unterstützte, geradezu geförderte Liebe zum Aufenthalt im Freien in kalten Wintern und zu Hochprozentigem, denn waren sie nicht ein Anzeichen für das erwartete Herausbrechen der russischen Gene? Und jetzt auch noch diese Bestätigung für die Richtigkeit von Annahmen und Rechtfertigung von Verhalten - Grischa war fast ein Bluter, litt unter einer angeborenen, vom Alkohol eventuell vorangetriebenen Störung der Blutplättchenbildung! Schützen, beschützen, leiten, umso mehr jetzt, wo seine Krankheit erkannt war - und sie tat es. Als absoluten Beweis empfand Mutter Köhler es damals, doch ein weiterer sollte folgen – Grischa heiratete tatsächlich Nina Romanowski, die Tochter von Mutters Jugendfreundin, wenige Jahre später.
Ich bin Trauzeugin bei deiner Hochzeit mit N. und dein Blumenmädchen. Ich sehe Mutters Lächeln als ihr euch das Ja-Wort gebt. Endlich. Sie hat dich darauf vorbereitet, das Leben zu leben, das für dich bestimmt ist. Sie glaubt es wirklich, Grischa, glaubt, dass du leben sollst, was ihr verwehrt geblieben ist, weil niemand vor ihr die Wahrheit erkannte, die Wahrheit, dass blaues Blut in ihren und deinen Adern fließe, dass die übrigen zwei Zarenkinder nicht an diesem Tag gestorben, sondern die Welt unter anderem mit dir bevölkert haben. Du belächelst sie, gleichzeitig liebst du sie. Sie meint es doch so gut. N. liebst du auch und N. dich. Sie versucht es, kämpft, zerrt an dir, will dich befreien aus dem Mutter-Kokon, lange, doch du bist wie ein Kaugummi zwischen Mutters Schuhsohle und N.s Bodenhaftung. Irgendwann gibt sie auf, lässt dich unter Mutters Schuh weiterwandern. Du leidest wie ein Tier, als N. dich verlässt.
Stumm beobachte ich dich bei deinem Termin beim Scheidungsanwalt. Du bist inzwischen 37 Jahre alt. Immer wieder höre ich Musik, ein Requiem. Ich will das alles nicht wissen! Ich springe vom Schreibtisch auf, will geschäftig sein, um nicht daran zu denken, um nicht von dieser Bürde erschlagen zu werden und gehe wieder joggen. Als ich den Computer herunterfahre und meine Laufschuhe anziehe - vorher bin ich nie gelaufen, Grischa, du hast mich dazu gebracht! - denke ich: Es liegt in meiner Hand und meine Hand kann dich nicht töten.
Als Mutter Köhler es erfuhr, konnte sie es nicht fassen, dachte, jemand hätte sich einen üblen Scherz mit ihr erlaubt. Aber, nein, es war Grischas schwungvolle Handschrift, keine Frage. Er schrieb, er habe etwas verstanden, er könne so nicht weitermachen. „Es tut mir Leid, aber versteh bitte, Mutter! Wenn du diese Zeilen liest, habe ich die Stadt und mein altes Leben verlassen! Ich möchte endlich mein Leben leben und nicht das, das du dir für mich erdacht hast! Mein Leben war deine Fiktion, doch damit ist jetzt Schluss! Bitte suche mich nicht! In Liebe, dein Sohn Grischa.“
Mutter Köhler sah in das Gesicht ihres Mannes, der ihr am Tisch gegenübersaß. Dann sprang sie auf, langte nach ihren Schuhen und dem Telefon, rief, man müsse los und ihn suchen, doch ihr Mann griff nach ihrem Arm. „Lass den Jungen endlich gehen!“, sagte er.
Dein Leben ist meine Fiktion. Gut müsste es sich anfühlen, aber meine Liebe zu dir schmeckt mir schal. Ich klammere, klebe. Was bin ich für eine Mutter, die dir deinen ureigenen Weg versperrt?
Als Mutter Köhler es erfuhr, konnte sie es nicht fassen, dachte, jemand hätte sich einen üblen Scherz mit ihr erlaubt. Aber, nein, es war Grischas Handschrift, keine Frage. Er schrieb, er habe etwas verstanden, er könne so nicht weitermachen. „Es tut mir Leid, aber versteh bitte, Mutter! Wenn du diese Zeilen liest, habe ich diese Stadt und diese Welt und dieses Leben hinter mir gelassen! Ich kann nicht das Leben leben, das du für mich erdacht hast, denn es ist nicht meins! Mein Leben war deine Fiktion und niemals mehr als das! In Liebe, dein Sohn Grischa.“
Mutter Köhler sah in das Gesicht des Mannes, der ihr am Tisch gegenübersaß. Dann sprang sie auf, schrie, doch ihre Beine konnten diese überschwere Last nicht tragen und auch die Tränen machten sie nicht leichter. Der Arzt, der im Türrahmen bereit gestanden hatte, eilte herbei und gab ihr eine Beruhigungsspritze. Als der Pfarrer vom Tisch aufstand, griff Vater Köhler nach dessen Arm. „Wie...?“, fragte er. „Pulsadern, der arme Junge.“, antwortete der Pfarrer, tätschelte dem Vater die Hand, in die er Grischas Abschiedsbrief legte und ging.
Letzte Aktualisierung: 27.09.2007 - 14.20 Uhr Dieser Text enthält 10098 Zeichen.