Er streckte die Beine, während er langsam den Kopf hob. Es war still in der Wohnung. Nur dann und wann drang ein Ton von außen herein. Deshalb lebte er hier, deshalb liebte er es hier. In einem Haus aus dickem Stein konnte er zuhause sein, fand er Ruhe.
Der Dielenboden war kalt geworden. Seit einer Woche musste er heizen. Genau seit dem Abend, an dem er sie getroffen hatte, war es kalt. Vielleicht war es ihre Schuld. Vielleicht auch nicht. Er fühlte die Seiten seines Buches und schauderte. Nur noch wenige Seiten übrig. Bald würde er auch diese Welt hinter sich lassen müssen. Noch bevor die Kerze heruntergebrannt war.
Er fühlte sich müde, seit sie geradewegs aus seinen Gedanken und in sein Leben gestolpert war. Es war ihre Schuld, dass er müde war. Sicherlich ihre Schuld. Sie war dafür verantwortlich, dass er nicht schlief. Sie nicht allein lassen konnte und ihr im Geiste auf Schritt und Tritt folgte. Dafür verantwortlich, dass ihm heiß und kalt war. Dass er mehr Bücher verschlang und mehr Welten verbrauchte, als je zuvor. Sie hatte diese Phase eingeläutet und er hatte keine Macht darüber. Um sich nicht in ihrer Welt zu verlieren, stürzte er sich kopfüber in fremde Universen, die ihn forttrugen.
Jetzt stand sie vor seiner Wohnungstür, während er seine Füße betont langsam über den Dielenboden streckte. Sie wartete darauf, dass er die Hand auf die Klinke legte. Dass er auf sie zu ging und ihr den Weg öffnete. Sein Kopf drehte sich ohne sein Zutun langsam zur Tür. Vorhin hatte er geglaubt, den Schatten ihrer Füße vor der Tür zu sehen. Aber er hatte nur einen flüchtigen Blick riskiert.
Seit er sie getroffen hatte, traute er sich selbst nicht mehr über den Weg. Aber so sehr er jetzt auch schaute, ihre Füße waren nicht zu sehen. Im Flur brannte schon lange kein Licht mehr und selbst wenn sie noch dort wäre, könnte er sie nicht sehen. Nicht einmal in dem Spalt unter der Tür. Sicherlich war sie noch da. Sie würde warten, bis er herauskam. Er würde nicht gehen. Würde hier bleiben, bis sie gegangen war. Bis er sicher war, dass er allein war.
Das Kribbeln in den Beinen steigerte sich von einem leisen Knistern zu einem Feuerwerk. Aber er zuckte mit keiner Wimper. Sicherlich war sie schon gegangen. Wenn sie jemals hier gewesen war. Schließlich legte er das Buch zur Seite und trat ans Fenster. Die Bäume schaukelten im Novemberwind und hatten ihm nichts zu erzählen. Bäume mochte er, auch weil sie nicht in ihn drangen. Seine Glieder waren noch steif vom Sitzen, sein Rücken war kalt wie die Wand. Aber das Gefühl der Dielen unter seinen Fußsohlen war fest und schwankte nicht. Es sei denn, er dachte an sie. Dabei war es sie, die gestolpert war. Und er der sie in seinen Armen gerettet hatte. Ihr Lächeln hatte das Gleichgewicht gestört, als er sie am Fuß der Treppe aufgefangen hatte.
Als das Telefon durch die Stille schnitt, zuckte er zusammen ohne sich vom Fenster abzuwenden. Woher sie seine Nummer hatte, fragte er sich. Aber das Telefon gab ihm keine Antwort. Ihr Lächeln hatte alles verändert. Jetzt quälte sie ihn mit einem weiteren Schrillen. Und dann mit einem weiteren. Schließlich drehte er sich um und betrachtete das Telefon, dessen Wählscheibe zu vibrieren schien, wenn es die Stille unterbrach. Er zählte die Sekunden zwischen den Tönen. Gleich würde er abheben und ihre Stimme würde das unerbittliche Schrillen ablösen. Nur noch ein Klingeln. Oder vielleicht noch eines mehr.
Sie würde auflegen. Er würde es tun, wenn er sie wäre. Würde aufgeben, wenn er ohne Antwort bliebe. Hatte aufgegeben, weil er ohne Antwort geblieben war. Viel zu viele Male. Sie musste es einfach tun, nur dieses eine Mal. Musste ihn erlösen. Aber das Telefon gellte weiter in die Stille hinein. Er würde abheben. Aber dann würde sie etwas sagen, das Gleichgewicht noch einmal stören. Vielleicht würde sie ihn erlösen aus seinem Gefängnis mit Kerzenschein. Vielleicht aber, und davor hatte er Angst, würde sie vor seinen Augen die Tür für immer verschließen. Wenn er abhob, konnte sie ihn erreichen. Wenn er es nicht tat, würde sie gehen. Vielleicht war es gar nicht sie.
Gleich würde er es tun. Nur nicht zu spät, denn wenn sie aufgab, wäre alles vorbei. Die Kälte, das Klingeln und ihre Stimme. Alles vorbei, viel zu früh. Versunken in die Gedanken an sie auf der Treppe, an das Stolpern in sein Leben, hatte er die Stille nicht bemerkt. Er hatte sie nicht erkannt, als sie nach dem Telefon griff und den Hörer eisern herabdrückte, die Gabel niederhielt. Aber sie war gekommen und hatte die Oberhand gewonnen. Wieder einmal. Die Stille war nicht wie die Bäume. Sie hatte eine Geschichte, und sie schrie sie heraus. Umkreiste ihn und zog ein, wenn er einen Moment lang nicht an sie dachte.
Es war ihr zu gemütlich geworden, seit Lara ausgezogen war. Seit sie alles genommen hatte, was ihr gehörte und ihn in seinen Büchern allein zurückgelassen hatte. Lara hatte ihr Leben von seinem getrennt und Jahre der Gelassenheit und Ruhe in Stille verwandelt, die alles durchdrang und alles verschlang. Seitdem lungerte die Stille in den Schatten herum und belästigte ihn. Drang durch Mark und Bein ohne jedes Erbarmen.
Es war zu spät. Zu tief hinein, zu weit entfernt, zu kalt, zu dunkel, zu lange her. Der Dielenboden schnitt tiefe Strukturen in seine bloße Haut. Unruhig lief er zwischen den Bücherbergen hin und her, die den leeren Raum in Zonen teilten, dem Dielenboden folgten, ihn schnitten und beherrschten, während der Schatten der Kerze Monumente aus ihnen formte. Wieder und wieder begann das Telefon zu läuten und focht seinen Kampf. Aber wenn er abhob musste er etwas sagen. Und wenn er das Falsche sagte, würde sie gehen, so wie Lara es nicht verziehen hatte. Er würde schweigen, diese eine Mal, um nicht zu verletzen, wenn er heilen wollte. Um nicht zu vertreiben, wenn er gefunden werden wollte. Aber während die Stille und die Müdigkeit sich um ihn balgten, lauschte er auf sie und ihren Kreuzzug gegen die Einsamkeit.
Er ließ sich wieder an der Wand herabsinken, griff nach dem Buch, dessen Ende ihm drohte wie die kahlen Bäume ohne Geschichte und zog zurück in die Welt, die ihn herausspeien würde, wenn er den Einband zudrücken musste. Er hatte begonnen, auf das Ende zu warten, bevor etwas begann. All dies sollte ein Ende haben, sobald sie aufgab. Aber sie würde wieder anrufen. Würde noch einmal nach dem Hörer greifen, ihn in Versuchung führen und dann zurückweisen. Sie war wie Lara.
Niemand war wie Lara. Niemand konnte es sein. Das Buch zitterte in seinen Händen, als er den Gedanken herumschob. Er hatte den Boden mit Tränen getränkt, weil er es glauben wollte und nicht glauben konnte und keinen Sinn darin sah, daran zu denken, während er sie vergessen wollte. Aber die Tränen waren versiegt und die eine war eingezogen um die andere zu ersetzen. Sie war wie sie war nicht wie sie war immer noch sie. Das Kettenkarussell der Bilder drehte sich in vollkommenem Schweigen über den Seiten des Buches und ließ ihn schwindeln.
Schritte vor der Tür, durch die Lara gegangen war. Sie ließen ihn tiefer zwischen die Seiten tauchen. Wieder schrillte das Telefon Mal um Mal, unerbittlich. Aber die Pausen wurden länger. Direkt vor der Tür musste sie es hören. Musste hören, dass kein Laut herausdrang, außer dem Angriff des Telefons. Sie musste glauben, dass er nicht hier wäre. Dass er sie nicht hören könnte.
Er fürchtete sich vor den Pausen mehr als vor dem Lärm. Und davor, dass der Anruf mit diesem Klingeln endete. Davor, dass es der letzte Anruf war. Dass sie ihn nicht retten würde. Dass sie ihn verlassen würde, bevor es begonnen hatte. Lara hatte es getan. Warum sollte sie es nicht tun. Ihre Hand schlug wieder und wieder gegen das Holz, als wolle sie es zerbrechen. Aber er würde sich von der Tür fernhalten. Würde warten, bis sie ging. Das Buch schob sich von einer Hand in die andere. Würde warten, bis sie ging. Wenn sie nicht näher kam, würde sie ihn auch nicht erreichen. Wenn er sie nicht erreichte, würde sie gehen und alles konnte wieder seinen Lauf nehmen.
Im Kerzenschein wirkten die Bücherstapel unüberwindlich wie die chinesische Mauer. Als er auf sie herabsah, drehte sich sein Kopf. Um den Schwindel zu besiegen, hielt er sich am Türrahmen fest. Er hatte nicht aufstehen wollen. Hatte nicht damit gerechnet, dass er es tun würde. Es war zu schnell gegangen. Aber hinter ihm schrillte das Telefon und vor ihm vibrierte das Holz der Tür. Schweißperlen rannen auf seine Stirn und verfingen sich in den Augenbrauen.
Mit der Hand über der Klinke sog er scharf die Luft ein. Dann wieder. Und wieder. Schließlich sank die Hand und mit ihr glitt er zu Boden, den Rücken gegen die Tür gedrückt, als könne er sie damit fernhalten. Ihre Wärme drang durch das Holz zu ihm herein und ließ das Fieber glühen. Die Kerze verlosch und in der Dunkelheit erreichte ihn die Stille schneller, als er es für möglich gehalten hatte. Ihre Schritte auf der Treppe hörte er leiser und leiser, dann ihre Tür.
Letzte Aktualisierung: 25.09.2007 - 23.57 Uhr Dieser Text enthält 9080 Zeichen.