Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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September 2007
Abschied
von Herbert Dutzler

Die Frau liegt in einem Bett, bis über die Brust straff mit einem weißen Laken zugedeckt, das unter ihren Achseln verschwindet und die Arme freigibt. Sie liegen ausgestreckt neben ihrem Körper, bis knapp über die Ellenbogen von hellblauen Ärmeln mit dunkelblauem Punktemuster bedeckt. Ihr Kopf liegt auf zwei Kissen etwas erhöht, dunkles grau durchsetztes Haar breitet sich strähnig über das Kissen aus. Die weit geöffneten Augen der Frau fixieren blicklos irgendeinen Punkt an der Decke. Bläulich verfärbte, dünne Lippen rahmen ihren offenen Mund ein, durch den sie geräuschvoll, stoßweise, mühsam atmet.
Dämmerlicht dringt durch die Fensterfront, wo ein Mann an die Fensterbrüstung gelehnt steht. Er ist groß, kräftig gebaut und trägt seine dunkelblonden Haare kurz geschnitten. Sein gestutzter Vollbart wie auch seine Schläfen sind bereits ergraut. Den Zeigefinger seiner linken Hand hat er über seine Lippen gelegt, der Daumen stützt sich am Kinn ab. Der Blick des Mannes ist auf die Frau gerichtet.
Er dreht sich zum Fenster um, sieht hinaus und beginnt zu sprechen. „Ich möchte dich so gerne unterhalten, dir etwas erzählen. Aber mir will partout nichts einfallen, keine Geschichte, die ich dir nicht schon erzählt hätte. Vielleicht interessiert es dich, was ich draußen sehen kann? Es ist heiß gewesen, heute. Immer noch. Da unten fährt gerade einer in einem offenen Auto vorbei. Wäre mir viel zu windig. Er hat eine Frau dabei, sie hat lange Haare. Komisch, sie wehen nach vorne, zur Windschutzscheibe. Nicht nach hinten, wie man das in Zeichentrickfilmen oft sieht. Erinnert mich an die Familie Feuerstein. Weißt du noch, wie ich mit Papa immer darum streiten musste, Familie Feuerstein zu sehen, als ich klein war? Er immer die Nachrichten – und ich hab so lang gejammert, bis er fuchsteufelswild hinausgerannt ist und ich heulend vor der Familie Feuerstein gesessen bin. Ob es das wert war, hast du gefragt, und ob ich jetzt zufrieden bin. Natürlich war ich nicht zufrieden.“
Der Mann dreht sich wieder herum, geht auf das Bett der Frau zu und setzt sich auf einen Stuhl, der aus einer Kunststoffschale auf Metallrahmen besteht. Er beugt sich über ihr Gesicht, sieht ihr beim Atmen zu. Dann nimmt er ihr linke Hand in seine, legt seine Finger um ihren Daumenballen und hält sie fest. Mit der rechten Hand streicht er ihr zaghaft und langsam über den Unterarm. Dessen Haut ist von grauen und violett schillernden Striemen, Flusslandschaften durchsetzt. Auch runde, dunkelblaue Flecken von Einstichen sind zu sehen.
Die Frau atmet weiter schwer und blickt weiter starr gegen die Decke. Wieder beginnt der Mann zu ihr zu sprechen. „Ich weiß ja nicht, ob du verstehst, was ich dir erzähle. Aber ich rede einfach mit dir, damit du weißt, dass jemand bei dir ist. Dass ich bei dir bin. Viel habe ich ja in den letzten Jahren nicht mit dir gesprochen, das tut mir heute leid. Vielleicht hätte es dir, nein, sicher hätte es dir geholfen, wenn ich dir mehr zugehört und dir mehr erzählt hätte. Aber ich habe mich in den letzten Jahren so zerrieben gefühlt, ich habe das Gefühl gehabt, für zwei Generationen zu sorgen, sich um dich und die kleinen Kinder zu kümmern, das ist einfach zu viel für einen Menschen.“
Die Tür öffnet sich fast geräuschlos, eine Krankenschwester in weiß und hellblau tritt herein, nähert sich dem Bett, blickt zuerst zu der Frau, dann zu dem Mann, ihre Miene ist besorgt, ängstlich. „Immer noch gleich?“, fragt sie den Mann. Der nickt nur. „War die Frau Doktor schon da?“ Wieder nickt der Mann zustimmend. „Ich meine, hat sie Ihnen schon gesagt, …“. Ihre Stimme versickert. Der Mann blickt zu ihr auf. „Ja, sie hat mir erklärt, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen gesetzt werden. Ich war damit einverstanden.“ Der Mann steht auf, wendet sich wieder dem Fenster zu, greift sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand an die Nasenwurzel. Die Schwester streicht das Laken zurecht, nimmt einen feuchten Lappen zur Hand und wischt der Frau über die Stirn, die Wangen, Kinn und Hals. Ohne das Tuch wegzulegen, richtet sie sich auf und spricht nochmals den Mann an: „Sie wissen schon, wenn es länger dauert …“. Wieder lässt sie ihre Stimme sinken, bis der Mann sich umdreht und sie ansieht. Die Schwester schluckt, ihr Adamsapfel bewegt sich ruckartig auf und ab. „Sie können gerne das zweite Bett da benutzen, ich meine, wenn es spät wird und sie schlafen wollen ... müssen. Einschlafen.“ Der Mann nickt. „Ja, danke, die Frau Doktor hat mir das auch schon angeboten. Es könnte bis morgen dauern, hat sie gemeint.“ Die Schwester nickt, verlässt mit dem Lappen in ihrer Hand das Zimmer.
Der Mann lehnt nun wieder, mit übereinander geschlagenen Beinen, am Fensterbrett. „Ich könnte dir auch etwas vorsingen, vielleicht gefällt dir das. Ich hab ja schon lange nicht mehr gesungen, aber ich singe gerne. Was soll ich denn singen?“ Mehrere Sekunden lang bleibt es still, abgesehen vom geräuschvollen Atem der Frau. Dann stimmt der Mann zaghaft ein Volkslied an, ein melancholisches Liebeslied. Zunächst ist seine Stimme zittrig und unsicher, bald jedoch wird sie, obwohl er sich bemüht, leise zu singen, kräftiger und präziser. Den Text scheint der Mann zu kennen, niemals sucht er nach Worten. Auf das erste Lied folgt ein zweites, danach wieder Stille. Er setzt sich wieder auf den Stuhl an das Bett.
„Hat es dir gefallen? Weißt du noch, wir haben viel gesungen. Vor allem im Advent, wenn wir am Sonntag die Kerzen am Adventkranz angezündet haben. Die meisten Lieder, die ich noch singen kann, sind Weihnachtslieder, aber bitte, das wäre ja jetzt völlig unpassend, wo in ein paar Tagen der Sommer beginnt. Du hast mir immer erzählt, dass dein erstes Weihnachten mit deinem Ehemann für dich so furchtbar war, weil niemand ein Instrument gespielt hat, dafür aber alle völlig falsch gesungen haben. Du hattest damals furchtbares Heimweh, hast du erzählt. Mir hat Weihnachten immer gefallen, so, wie es bei uns war. Obwohl du immer Stress hattest. Weißt du noch – einmal hast du mir am Heiligen Abend eine Ohrfeige verpasst, ich weiß nicht mehr, weswegen. Dann musstest du zu allem Überfluss noch mit mir zum Optiker, die Brille richten lassen, und hattest noch mehr Stress. Damals hast du darüber gelacht, als alles vorbei war.“
Der Mann steht wieder auf, geht auf das Fenster zu, stemmt die Arme in die Hüften und biegt seinen Oberkörper nach hinten durch. Dann schaukelt er langsam seinen ganzen Körper hin und her, verschränkt die Arme hinter dem Nacken und streckt sich nach hinten durch.
„Jetzt ist es schon fast dunkel. Ich glaube, die Abendbesuchszeit ist gerade aus, es kommen Leute vom Eingang herüber zu den Autos. Es ist immer noch so heiß, niemand hat einen Pullover oder eine Jacke an. Du, Mama, da unten ist eine ganz tolle Frau, mit einem tiefen Ausschnitt und einem kurzen Rock. Die würde mir gefallen. Dir wahrscheinlich nicht, du warst meinen Frauen gegenüber immer so kritisch. Du weißt es sicher noch, als Andrea und ich erst zwanzig waren, wir haben uns Ringe gekauft, mit einem roten Stein drinnen, ganz billige. Als du gesehen hast, dass wir die gleichen Ringe haben, bist du ausgezuckt, in Tränen ausgebrochen. Ich glaube, du hast Angst gehabt, mich zu verlieren.“ Er lächelt, lacht sogar kurz laut auf.
„Momentan haben wir ziemlich Stress. Du weißt ja, das Ende des Schuljahres, die Maturaprüfungen, der ganze Scheiß. Da werden die Abende lang. Aber ich kann mich sowieso nicht auf meine Arbeit konzentrieren, wenn du da herinnen liegst. Kann ich genauso gut hier stehen und dir allen möglichen Unsinn erzählen.“
Plötzlich keucht die Frau laut auf, es scheint als wolle sie die Brust nach oben drücken, den Kopf streckt sie nach hinten durch. Der Mann eilt zu ihrem Bett, hält wieder ihre Hand. Nach ein paar heftigen, krampfhaften Seufzern sinkt der Kopf der Frau wieder zurück, ihr Atem wird zunächst ruhig, bald immer leiser, kaum mehr hörbar, endet. Der Mann sitzt reglos daneben, hält weiter ihre Hand, streicht mit seinem Daumen über ihren Handrücken. Bleibt so sitzen, minutenlang. Dann hebt er seine rechte Hand und versucht, der Frau mit den Fingern die Augen zu schließen. Es gelingt nicht. Sie bleiben offen. Der Mann zieht seine Hand hastig zurück und drückt auf die Klingel, die an einem Kabel über der Brust der Frau baumelt. Wenige Sekunden danach betritt eine Ärztin den Raum, sieht zunächst zur Frau, dann zu dem Mann. „Ich glaube, es ist …“ Er bringt seinen Satz nicht zu Ende, kämpft gegen Tränen an, gewinnt den Kampf.
Die Ärztin beschäftigt sich, legt Wattebäusche, die in stark riechender Substanz getränkt sind, auf die Lider der Frau, schließt sie mit silikonhandschuhgeschützten Fingern, hält die Augenlider der Toten fest.
Der Mann sieht ihr dabei zu. „Ich habe es versucht, aber …“. „So leicht geht das nicht. Ihre Augen waren ausgetrocknet, die Lider schlecht durchblutet, steif.“ „Im Film siehst das immer …“ Wieder bringt er seinen Satz nicht zu Ende. „Ich weiß. So leicht aus.“
Plötzlich keucht die Frau noch einmal, mehrmals auf. Der Mann erschrickt und sieht die Ärztin fragend an. „Nicht erschrecken. Eine ganz normale Reaktion. Bedeutet nicht, dass sie lebt. Leider.“, fügt sie nach einer Pause noch hinzu.

„Wenn Sie möchten, können Sie noch ein wenig hier bleiben.“ „Ja,“, antwortet der Mann, „Ich bleibe noch ein wenig hier.“




Letzte Aktualisierung: 13.09.2007 - 11.41 Uhr
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