Ich war bis an das Ufer gefahren. Das hatte ich alleine noch nie geschafft. Mir schmerzten die Hände und die Ellenbogen, aber für das was ich vor hatte, würde ich sie nicht brauchen. Die Beine waren die Hauptakteure in meinem Theaterstück.
Um vier Uhr morgens ließ der eingestellte Alarm mein Handy vibrieren und bevor ich es erreichen konnte, fiel es vom Nachttisch. Gerade als ich mich aus dem Bett in den Rollstuhl zog und meine gelähmten Beine wie ein lästiges Anhängsel hinter mir her schleppte, begann im Baum vor meinem Zimmerfenster eine Amsel sachte zu flöten, eine feine, helle Stimme gegen die Dunkelheit und für den Neuanfang. Da wusste ich, dass es ein außerordentlicher Tag werden würde.
Ich hatte trainiert und mich vorbereitet. Ich tat nichts anderes, seit ich nach der Operation in dieses verdammte Reha-Zentrum gekommen war. Schlafen, Frühstück, Lauftraining - Mittagessen, Schwimmen, Kaffeepause, Ergotherapie - Rollstuhltraining, Abendessen, Schlafen – so vergingen meine Tage seit fünfeinhalb Monaten.
„Sie machen Fortschritte“, hatte der Chefarzt gesagt, der sich einmal wöchentlich zu diesen Turnstunden blicken ließ. Ich steckte in einem Geschirr, dass wie eine überdimensionale Windel um meinen Unterleib gelegt war und mit vier stabilen Bändern und einer Rollenkonstruktion an der Decke verankert war. Der Arzt betonte die 'Schritte' und grinste dabei, als habe er einen großartigen Witz gemacht. Die Hände auf zwei Barren schleppte ich meinen nutzlosen Unterkörper zu dezenter Unterhaltungsmusik über die Matte. Hin und her – her und hin – und zurück. Endlose Male.
„Fünfzehn mal, Johannes, dann sind Sie fast fünfzig Meter gelaufen heute“, sagte der Therapeut aufmunternd. Na, großartig! Früher war ich 42 Kilometer in zwei Stunden einunddreißig gelaufen oder war am Nachmittag auf die Alpspitze gestiegen und rechtzeitig zum Abendessen zurückgekommen. Jetzt zitterten meine Arme von der Anstrengung, für fünfzehn Minuten einen Teil meines Körpergewichtes tragen zu müssen.
Ich hatte nie daran gezweifelt, dass ich wieder laufen würde. Es war einfach eine Frage der Zeit, Zähigkeit und mentaler Vorübungen. Gleich nach dem Unfall, im Krankenhaus, in der Hektik, die um mich herum herrschte, wusste ich, dass der jetzige Zustand ein vorübergehender war. Ich würde mich in Geduld üben müssen, sagte man mir. Nur gehörte Geduld nicht zu meinen Stärken.
Der See lag träge wie ein riesiges, friedlich schlafendes Tier in seiner Mulde und rührte sich nicht. Die Sonne war noch hinter der Alpenkette verborgen und die Berge wirkten in dem fahlen, hellrosa Morgenlicht wie ein Scherenschnitt oder die billige Kulisse einer Theaterproduktion, deren Bühnenbildnern das Geld für Details fehlte.
Auf dem Uferweg war an diesem Morgen noch kein Mensch zu sehen. Im Winter war ich mit Bettina hier gewesen. Sie hatte sich über das Geländer gelehnt, das den Fußweg vom Seeufer trennte, und hatte endlos ins Wasser hinein gestarrt. Eine Strähne ihres blonden Haar wehte im Wind und fiel ihr in immer wiederkehrenden, sanften Wellen auf den Rücken wie das Lederband einer Peitsche. Es war der Tag gewesen, an dem sie das letzte Mal gekommen war. Das hatte ich damals natürlich nicht gewusst, sonst hätte ich die Bilder dieses Tages, des Sees, der Berge und vor allem ihr Bild in einem anderen mentalen Ordner abgespeichert; vielleicht in dem, der mit „Enttäuschungen“ betitelt ist, oder gleich unter „Verletzungen“. Aber ich hatte ihn in perfekter Erinnerung und den Platz schon damals als Kulisse für den heutigen Morgen gewählt.
Ich manövrierte meinen Rollstuhl direkt bis an das Geländer und arretierte die Bremse. Dann schloss ich die Augen. Mit maximaler Anspannung, die nur mit geschlossenen Augen erreichbar ist, sandte ich in der Dunkelheit eine meditative Botschaft an alle beteiligten Nerven und Muskeln. Dann griff ich mit schlafwandlerischer Sicherheit an das Geländer und schloss die Hand darum. Die Kälte des Metalls brannte schmerzhaft in der Handfläche, dennoch ließ ich nicht los, sondern griff noch fester zu. Ich begann mich aus dem Sitz hochzuziehen. Zentimeter für Zentimeter, gleichmäßig , als ob ein Kran mich in die Senkrechte ziehen würde, erhob ich mich. Meinen Schwerpunkt, das Gesäß, schob ich aus der Sitzposition unter meinen Körper.
Ich stand - zwar noch an das Metall geklammert, aber ich stand ohne Hilfsmittel! Seit Monaten hatte ich diesen Moment herbei gesehnt und nun war er gekommen. Fast ein wenig unspektakulär, kein großes Orchester, kein Tusch, kein Blitzlichtgewitter. Ich öffnete die Augen. Der See war noch der gleiche – ich selbst nicht mehr. Mit einem tiefen Atemzug sog ich die Frühmorgenluft in meine Lungen. Mir schien, als sei die Luft jetzt besser, als atme ein Stehender mehr Sauerstoff, als jemand, der tief unten sitzt. Er erfüllte mich mit unbändiger Kraft - keine Vorrichtungen, Bänder oder gar die unerträglichen, mitleidigen Hände Fremder hielten mich noch. Mit äußerster Konzentration hob ich meinen rechten Fuß vom Grund, schob ihn zwanzig Zentimeter nach vorne und setzt ihn auf der Ferse ab. Verlagerte mein Gewicht nach vorne, rollte den Fuß ab, schob die Hand am Geländer ein Stückchen weiter.
Der erste Schritt war gemacht. Mein Körper schien sich endlich zu erinnern, wie das Laufen funktionierte. Als Kleinkind hatte ich es gelernt und bis zu meinem Unfall nie wieder einen Gedanken daran verschwendet, was alles zusammenspielen musste. Welche Nerven, Muskeln, Sehnen und Gelenke beteiligt waren, wie alles räumlich und zeitlich ineinander greifen musste, wie das Gleichgewicht über das Laufen herrschte und wie das Gehirn alles dirigierte.
Nach 23 Schritten war das Geländer zu Ende. Ich hielt für den Bruchteil einer Sekunde inne und rief meine inneren Heerscharen zur Ordnung. Dann ging ich weiter. Freihändig. Ein Schritt folgte auf den anderen, als ergäbe sich zwanglos einer aus dem anderen, ein wunderschöner Rhythmus. Ferse des einen Fußes aufsetzen, zeitgleich Zehenspitzen des anderen vom Boden abheben, und das im Wechsel. Eine weiche und harmonische Bewegung. Ich war mit dem Himmel verbunden und zeitgleich auf der Erde verankert. Meine Schritte wurden immer schneller, immer runder. Kein einziges Mal leisteten sich meine Beine eine Unsicherheit, war ich gestolpert oder gar gestürzt. In meinem Kopf entstand die Melodie zu einem „Queen“ Song und ich begann erst mitzusummen, dann laut zu singen. „Don't stop me now“ - das hatten Freddie Mercury und ich gemeinsam. Wir waren beide nicht mehr zu halten.
Der asphaltierte Teil der Uferpromenade ging zu Ende und der Weg setzte sich als geschotterter Pfad fort. Genau am Übergang zwischen dem Asphalt, den im Teer festgeklebten, auf ewig immobilisierten und den beweglich aufeinander liegenden Steinchen, begann ich zu rennen. In dem letzten Buch, das ich während meiner Bewegungslosigkeit gelesen hatte, war ich über den Ausdruck „he broke into a run“ gestolpert. Genauso fühlte ich mich jetzt. Ich „brach in Laufen“ aus. Die monatelange Versteinerung platzte auf und als sei ich in Zeitlupe durch eine Glasscheibe gebrochen, segelten die Scherben rechts und links von mir zu Boden. Meine Bewegungen waren harmonisch und effizient, wie zu besten Marathonzeiten. Federnd katapultierte ich mein Gewicht aus dem Fußgelenk, schwebte ein Stück und fing es mit dem Gelenk des anderen Fußes wieder ein. Ich hatte erwartet, nach der langen Zeit aus der Übung gekommen zu sein oder konditionelle Schwierigkeiten zu haben, aber nichts dergleichen war der Fall. Mein Atem hatte seinen alten Rhythmus gefunden, ein Atemzug auf drei Schritte, so würde ich endlos weiter laufen können. Ich wagte einen Sprung und schrie vor Glück, als auch der gelang. Die Welt hatte mich wieder. Mit Johannes Karlberg, dem erfolgreichen Marathonläufer würde man demnächst wieder rechnen müssen. Ich sah die Schlagzeilen der Presse vor mir: 'Karlberg hat sich nach seinem Autounfall im letzten Herbst – wir berichteten - wie durch ein Wunder von seinem Querschnitt erholt. Momentan unterzieht er sich einem Höhentraining im Marathon-Camp bei La Paz in Bolivien'.
Der Weg schlängelte sich durch dichtes Schilf direkt am Seeufer entlang. Ich sprang über feuchte Baumwurzeln und landete in Pfützen wie ein übermütiges Kind. Mit jeder Wurzel flog ich höher und weiter, bis in die Baumwipfel, segelte über das Wasser, höher, immer weiter, bis auch der See und das Bergmassiv seine Konturen verlor, die Erde als Ball unter mir lag und Stille und Schwärze mich umfingen wie ein dunkles, kühles Tuch.
Zum schmerzhaften Schrillen einer Alarmglocke platzen Menschen in meine Ruhe. „Der Johannes“, ächzt mein Bettnachbar erschrocken. „Erst hat er g'sungen, nacha hat er g'schrien und am End isser aus'm Bett ausser g'foin. Und vo Bolivien hat er a no g'red.“
Sanfte, mitleidige Hände heben mich, der ich unbeweglich wie ein Stock auf dem kalten Fußboden liege, hoch und betten mich in die Kissen.
„Herr Karlberg“, seufzt die Nachtschwester, als sie die Bettdecke mit geübten, flinken Händen unter meiner Matratze festklemmt. „Sind Sie wieder gelaufen?“ Ich nicke.
„Ich muss ein Gitter anbringen lassen, wenn das noch einmal passiert. Wollen Sie morgen wieder an den See? Ab halb vier habe ich frei – wenn Sie wollen, fahre ich Sie hin.“
Sie schaltet im Hinausgehen das Licht und den blinkenden Alarmknopf wieder aus.
Ich liege festgeklemmt wie in einem Briefumschlag und kann kaum atmen. Die Amsel vor meinem Fenster singt immer noch ihr Lied.
Letzte Aktualisierung: 23.09.2007 - 14.08 Uhr Dieser Text enthält 9624 Zeichen.