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September 2007
Das gewendete Leben
von Evelyn Sperber

Ich liege da und warte. Worauf? Ein neues Leben? Nein. Ich warte auf etwas Schönes, etwas, das mein altes Leben umkrempelt. Ich will nicht alles verÀndern, kein anderes Leben, nur dieses Leben umkrempeln.


Verdammt noch mal, ich muss hier durch. Ich stoße die Ellenbogen nach rechts und nach links, zwĂ€nge mich durch den schmalen Spalt, bleibe stecken, zappele mit den Beinen, die hĂ€ngen draußen. VorwĂ€rts geht nichts mehr. Eingeklemmt. Ich muss da durch. Ich bin der Retter, der einzige, der noch helfen kann. Ich schiebe die Wabbelmasse auseinander. Millimeter um Millimeter. Ich bin stark. Ich bin stark. Stoße im Rhythmus meiner Worte gegen die zĂ€hen WĂ€nde.


***„Da ist wirklich nichts mehr zu machen.“ Der Arzt zuckt mit den Schultern. Sein Gesicht drĂŒckt Bedauern aus.


So ein Schwachsinn. NatĂŒrlich ist da was zu machen. Hört bloß nicht auf diesen Quacksalber. Ich komme doch schon. Verdammt, wer hat den Gang so zugeschaufelt? Alles Schikane. Aber mich bremst keiner. Ich komme. Durchhalten! Ich schaffe es. Positiv denken. Ich bin stark. Ich bin stark.


Der Mantel meines Lebens ist abgewetzt, zerschlissen. Aber innen sieht er gut aus. Ihr mĂŒsst das Innere nach außen kehren. Mein Inneres ist wie neu, da war nie Zeit, es abzunutzen. Zu viel war immer zu tun. Der Mann, die Kinder, das Haus. Immer habe ich Dinge gesammelt, schöne Dinge, wunderschöne PlĂ€ne. Ich habe mein Inneres mit PlĂ€nen gepflastert. Mit wunderschönen PlĂ€nen fĂŒr die Zeit, wenn meine Zeit mir gehört. Krempelt mein Leben um, bitte, damit die PlĂ€ne frei werden, damit sie leben können. Wenn ihr mein Leben nach außen kehrt, kann ich es noch ein paar Jahre tragen.


***„Meinen Sie wirklich? Sie sieht doch aus, als ob sie schlĂ€ft.“

***Der Arzt schĂŒttelt bedauernd den Kopf.

***„Ich will nicht, dass meine Mutter leidet.“


MĂ€dchen, warte auf mich. Ich bin doch schon ganz nah. Oh, verflucht, wenn das hier bloß nicht so eng wĂ€re. Ich komme so langsam voran, hoffentlich nicht zu langsam. Womöglich schalten die die GerĂ€te ab, bevor ich da bin. Ich muss da durch. Ich schaffe es. Positiv denken. Ich bin stark. Ich zwĂ€nge mich vorwĂ€rts. Millimeter um Millimeter. Ich gebe nicht auf.


***„Wenn es meine Mutter wĂ€re, wĂŒrde ich die Apparate abschalten.“ Der Arzt lĂ€chelt der Tochter zu. „Wollen Sie Ihrer Mutter ein Leben zumuten, das schlimmer ist, als Sie es sich vorstellen können? GelĂ€hmt, hirntot, ohne Leben und GefĂŒhle?“


DrĂ€ng sie doch nicht so, noch ist nicht alles vorbei. Ich komme voran. Langsam, aber ich komme voran. Das ist die Hauptsache. Hoffentlich lĂ€sst die Tochter sich nicht so schnell ĂŒberreden. Ich brauche noch etwas Zeit. Einen Tag vielleicht oder auch zwei. Ein paar Minuten. Ich werde es schaffen, ich bin stark.

Ich will mein Leben umkrempeln, es auf die Glanzseite wenden. Mein Leben hat eine Glanzseite, das weiß niemand, nur ich. Ich will meine Glanzseite zeigen. Ich will tanzen und lachen und BĂŒcher lesen, Musik hören und spazieren gehen und – warum bin ich mit einemmal so traurig? Ich habe Angst. Angst vor all dem Schönen, nach dem ich mich Zeit meines Lebens gesehnt habe. Jetzt ist es greifbar nah und ich habe Angst. Angst, dass das Schöne nicht zu mir passt. Ich bin zu alt fĂŒr das Schöne.


***„Sehen Sie, meine Mutter weint.“

***„Das sind nur chemische Reaktionen. Zum Weinen braucht der Mensch GefĂŒhle. Ihre Mutter fĂŒhlt nichts mehr..“


Dem Kerl wĂŒrde ich am liebsten den Hals umdrehen. Was der fĂŒr einen Stuss redet. Aber ich darf mich nicht von meiner Wut lĂ€hmen lassen. Mich hĂ€lt nichts auf. Schon wieder zwei Millimeter geschafft. Mir klopft etwas entgegen. Das sind die PlĂ€ne. Wenn ich die PlĂ€ne erreiche, kann ich ihr Leben umkrempeln. Ich schaffe es.


Ich fĂŒhle das Leben. Mein Leben. Wendet doch endlich mein Leben. Wozu habe ich all die schönen PlĂ€ne gesammelt?


***„Ich bin unsicher. Vielleicht bekommt sie mehr mit, als wir denken.“

***Der Arzt schĂŒttelt schweigend den Kopf.

Gleich habe ich es geschafft. Ich höre die PlĂ€ne summen. Wenn ich bei denen bin, ist alles andere nur noch ein Kinderspiel. Hoffentlich hĂ€lt die Tochter durch. MĂ€dchen, du brauchst Bedenkzeit! Sag ihm das. Ich rufe so laut ich kann, aber sie hört mich nicht. Steht da und sieht die Mutter an, weint. Verdammt, wenn sie jetzt aufgibt, waren alle meine Anstrengungen vergebens. Nicht aufgeben! Ich schreie, boxe mich durch das lahme Gewebe. Meine Verzweiflung gibt mir noch mehr Kraft. Ich durchstoße die Wand, hinter der ich die PlĂ€ne summen hörte. Da liegen sie vor mir. Ich lache, jubele. Geschafft!


Ich höre Mozarts Klarinettenkonzert und die Unvollendete von Schubert. Warum heißt sie unvollendet? Bilder sehe ich, BĂŒcher. Das ist mein Leben, das Leben, auf das ich gewartet habe, das auf mich gewartet hat. Man hat mein Inneres nach außen gewendet. Ich lebe neu. Ich freue mich auf die andere Seite meines Lebens. Ich bin glĂŒcklich.


***„Wenn Sie meinen, Herr Doktor.“


Nein! Nein! Ich bin doch schon durch. Habe das Leben gewendet. Nicht abschalten! Aufhören!


Ich werde so mĂŒde. Fast zu mĂŒde, um mich auf morgen zu freuen. Aber ich freue mich. Ich bin glĂŒck...


Das war das Letzte, was ich noch fĂŒr sie tun konnte. Mich in einen glĂŒcklichen Gedanken verwandeln. WĂ€re ich nur frĂŒher da gewesen. Sie hat mich gebraucht, sie brauchte den positiven Gedanken. Sie hĂ€tte die Augen aufgeschlagen. Ich habe es nicht geschafft. Auch ein Gedanke hat seine Grenzen. Und wenn er sich durch gelĂ€hmte Ganglien quĂ€len muss, braucht er Zeit. Viel mehr Zeit. Ich wollte rechtzeitig zur Stelle sein, jetzt sitze in einem toten Kopf und ich sehe ihre PlĂ€ne auseinanderfallen. Aber ich bin froh, dass ich ihr letzter Gedanke war. Ein glĂŒcklicher Gedanke.

Letzte Aktualisierung: 23.09.2007 - 14.10 Uhr
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