Das alte Buch Mamsell
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September 2007
freigelegt
von Stefanie Kißling

Herbert, der Pfirsichkern, wand sich in seinem Fruchtfleisch. Er machte es sich bequem.
„Du bist also der Neue hier“, sagte Bine, ein Nektarinenkern.
„Ja“, antwortete Herbert. „Aber nicht mehr lange, dann werde ich freigelegt.“
„Du bist ja ganz schön von deinem Fruchtfleisch überzeugt!“ Bine lachte. „Wenn du dich da mal nicht täuschst! Ich liege schon mindestens einen Tag hier rum. Ich glaube, die Familie, in die wir geraten sind, isst nicht so gern Obst.“
„Das glaub ich nicht“, entgegnete Herbert, „sonst würden sie uns ja nicht kaufen.“
„Eine Birne kam mit mir in diese Obstschale und fing schon an zu faulen. Zum Glück lag sie nicht so dicht bei mir, sodass ich nichts abbekommen habe“, erzählte Bine und seufzte. „Weißt du“, fügte sie hinzu, „es gibt nichts Erniedrigenderes als mit dem Fruchtfleisch im Biomüll zu landen.“
„Das stimmt“, meinte Herbert. „Aber ich glaube nicht, dass es bei mir so sein wird. Strahlend weiße Zähne werden sich an mir reiben, zarte Lippen werden an mir saugen und mein Fruchtfleisch liebkosen.“
„Wie poetisch“, sagte Bine. Sie schwiegen einen Moment lang.
„Die Mücken“, entfuhr es ihr plötzlich - es klang wie ein Aufschrei. „Die Mücken sind das Schlimmste! Die krabbeln auf meinem Fruchtfleisch herum und das Geräusch ihrer Schritte hallt so laut, dass es weh tut.“
„Schlimm ist das nicht“, entgegnete Herbert. „Das macht mir nichts aus. Vielleicht ist dein Fruchtfleisch nicht mehr so frisch?“
„Pah, mit dir kann ich’s allemal noch aufnehmen!“
„Krieg dich wieder ein. Es geht…“
„Psst. Ich höre Schritte. Da kommt wer. Vielleicht hat das ewige Warten jetzt ein Ende.“

Tapptapp Tapptapp.
Dann Stille. Schließlich flüsterte Bine: „Herbert? Bist du noch da?“
„Natürlich. Wieso flüsterst du? Die können uns doch sowieso nicht hören.“
„Ich weiß es nicht. Ich bin immer so aufgeregt, wenn jemand an der Obstschale vorbei läuft.“ Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: „Ich glaube, die legen uns nicht mehr frei.“
„Mich schon“, meinte Herbert selbstbewusst. „Ich weiß, was mein Fruchtfleisch zu bieten hat. Das ist eins-a. Völlig ungespritzt. Sag mal, hat man dich im Supermarkt gekauft?“
„Nein, ich bin aus dem Bioladen.“
„Du auch? Na, dann musst du dir keine Sorgen machen. Trotzdem glaube ich, dass ich zuerst gegessen werde.“
„Aber die Birne war auch aus dem Bioladen.“
„Du immer mit deiner Birne. Vielleicht stehen sie nicht so auf die. Birnen mag nicht jeder. Aber Pfirsiche schon.“
„Wo nimmst du das Selbstbewusstsein her?“, fragte Bine mit Anerkennung in der Stimme.
Herbert lachte. „Ich nehme es mir nirgendwo her, ich habe es. Und jetzt lass mich mal in Ruhe. Du machst mich nervös mit deinem Geplapper, das schadet meinem Fruchtfleisch.“

„Du?“, fragte Bine nach einer Weile vorsichtig.
„Ja?“, antwortete Herbert genervt.
„Woher weißt du das mit den strahlend weißen Zähnen, die dich freilegen werden?“
„Die legen alles Obst frei. Haben die anderen auf den Bäumen dir das nicht erzählt?“
„Doch, aber ich frage mich einfach, woher die das wissen.“
„Du denkst zuviel“, sagte Herbert. „Es ist einfach so. Hast du etwa Zweifel daran?“
„Nein. Aber sag mir bitte; was sind denn Zähne?“
„Das wirst du wissen, wenn du sie siehst.“
„Glaubst du wirklich?“
„Ja“, antwortete Herbert. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass man so naiv sein konnte. ‚Was sind denn Zähne?’ Gute Frage. Aber er glaubte… Nein, er [i]wusste[/i], dass man es einfach weiß, wenn man ihnen begegnet. Und [i]dass[/i] man ihnen begegnet, daran musste man glauben, das musste man hoffen, davon sollte man überzeugt sein, sonst… Für Herbert gab es kein Sonst. Er hatte das nicht nötig. Jeder Zweifel, alle schlechten Gedanken schadeten dem Fruchtfleisch und waren somit passé. Denn ohne gutes Fruchtfleisch keine Freilegung und ohne Freilegung keinen Blick auf die Welt. So einfach war das.
„Du?“
„Was ist denn jetzt schon wieder?“
„Was glaubst du, wie das Leben nach dem Fruchtfleisch aussehen wird? Ich meine…“
„Du wirst frei sein. Ganz einfach. Du wirst alles, was um dich herum passiert, sehen können.“
Bine schwieg einen Moment. Sie dachte nach.
„Du?“, entfuhr es ihr dann wieder.
„Nein, jetzt ist mal gut mit der ewigen Fragerei. Philosophieren bringt dir nichts, das ändert alles nichts an der Situation. Also sei ruhig und hör’ auf damit.“
Von Bine kam kein Kommentar mehr. Offensichtlich war sie beleidigt.

Sie wussten nicht, wie lange sie schwiegen und warteten. Bine fühlte sich nicht besonders wohl, der Pfirsichkern hatte Recht; ihr Fruchtfleisch war inzwischen nicht mehr das Beste. Wahrscheinlich würde es sehr bald anfangen zu faulen. Und dann war es aus. Dann wurde sie nicht mehr freigelegt, konnte keinen Blick mehr auf die Welt riskieren und nackt in den Biomüll eintauchen, nein, dann musste sie, eingekleidet von ihrem Fruchtfleisch, vergammeln, ohne je die Welt gesehen zu haben. Das war die größte Schmach, die sie sich vorstellen konnte, die größte Schmach, die es für Obst nur geben konnte. Gefangen in einem Mantel aus Biomüll, ohne, dass Licht, Wärme, Leben einen jemals berührt hatte…
Und ja; sie war nervös. Sehr nervös sogar. Der Pfirsichkern hatte gut reden, sein Fleisch war auch noch ganz frisch. Aber ihres? Nicht mehr denken, schalt sie sich. Einfach nicht mehr denken, zurücklehnen, abwarten.
Viel mehr konnte sie auch nicht tun.

Herbert lag nicht lange. Dann griff ihn sich jemand. Zähne bohrten sich in sein Fruchtfleisch. Er jauchzte. Vorfreude macht sich in ihm breit. Auch eine gewisse Erleichterung. Er dachte nur eine Sekunde an Bine, die wohl immer noch in der Obstschale lag. Die wohl keiner mehr anrühren würde. Sie hatte Pech gehabt. So einfach war das im Leben; der eine hatte Pech, der andere Glück. Bine konnte ja auch nichts dafür, dass sie als Nektarinenkern geboren worden war.
Er hatte es geschafft. Die Zähne gruben und gruben. Der Saft musste dem Menschen schon am Kinn kleben. Das Wort „gierig“ fiel ihm ein. Er hatte es ja immer gewusst; als Pfirsichkern geboren zu werden, war die beste Vorraussetzung für ein gutes Leben. Und für ein gutes Ende. Vielleicht fand er später sogar ein Stück Boden, in das er getreten wurde. Nahrhaften Boden. Dann konnte er sich voll entfalten. Und wenn nicht, dann war es auch in Ordnung. Dann hatte er die Welt erblickt. Gleich. Gleich würde er sie sehen, ihren Duft einatmen.
Und schon spürte er Licht auf seiner Haut.

Er war nicht mehr dazu in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Innerlich gelähmt vor Entsetzen blickte er auf das, was er sah. Halb freigelegt war er gerade mal. Das war nicht die Welt, wie er sie sich vorgestellt hatte. Wie in Zeitlupe stießen die Zähne plötzlich hervor. Sie waren gelb. Zwei angefaulte Backenzähne konnte er erkennen. Sie wirkten bedrohlich und gigantisch. Der Mund schloss sich, um sich wieder zu öffnen. Es gab kein Entrinnen, keinen Ausweg. Am liebsten wäre Herbert in der Obstschale bei Bine geblieben, aber welche Wahl hatte man ihm gelassen? Er kannte keine Bewegungsfreiheit. Er war immer dort gewesen, wo man ihn abgelegt hatte. Mundgeruch berührte ihn und ließ ihn schaudern. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Er hatte geglaubt, alle Zähne wären weiß, wunderschön, er hatte geglaubt, das Gefühl, von ihnen freigelegt zu werden, sei einfach wunderbar. Was er aber sah, war grauenvoll, unzumutbar grauenvoll. Spröde, rissige Lippen berührten seine dicke Haut. Der Schock umarmte ihn solange, bis er ihn zu zerquetschen drohte.
„Nein!“, schrie er, als er sich halbwegs wieder unter Kontrolle hatte. Doch dann, erst halb freigelegt, warf man ihn in die Mülltonne.

Letzte Aktualisierung: 09.09.2007 - 00.00 Uhr
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