Ganz schön bissig ...
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September 2007
Das Picknick
von Stefan Seifert

Mich weckte ein Geräusch, das ich für entferntes Donnergrollen hielt. Ich ließ die Augen geschlossen und gab mich angenehmen Träumereien hin. Gewitter und regnerische Tage mochte ich. Man konnte ruhigen Gewissens zu Hause bleiben und es sich gemütlich machen. Bei schönem Wetter hingegen war man verpflichtet, etwas zu unternehmen, hinauszugehen in eine fremde, nicht selten tückische Umgebung und sich völlig nutzlosen und deprimierend eintönigen Anstrengungen zu unterwerfen. Schließlich hatten wir Urlaub. Luise, meine Frau, war in diesem Punkt sehr entschieden. Jeden Tag plante sie etwas anderes: Lange Wanderungen, Berge erklimmen, landschaftliche Sehenswürdigkeiten bewundern. Ich machte gute Miene zum bösen Spiel, denn am Ende hatte sie stets die besseren Argumente. Was gibt es Gesünderes als viel Bewegung an frischer Luft? Und wo ist es schöner als in der freien Natur?

Erwartungsvoll öffnete ich die Augen und blickte in Richtung des Fensters. Ich hatte gehofft, dunkle Wolken zu sehen, je schwärzer, um so besser. Aber der Himmel war von einem makellosen, hellen Blau. Nicht der geringste Schatten einer Regenwolke war auch nur zu erahnen. Wie ärgerlich. Aber woher kam dann dieses Grollen? Vielleicht von meinem Magen oder dem meiner Frau, die noch ruhig neben mir schlief?

Ich schielte auf die Uhr und stellte verwundert fest, daß es erst sechs Uhr morgens war. Vor halb, dreiviertel acht standen wir nie auf. Also drehte ich mich auf die andere Seite, um noch etwas Schlaf zu erhaschen. Aber es klappte nicht. Immer, wenn ich gerade einzuschlafen schien, hörte ich wieder das Geräusch. Einmal hielt ich es für ein irgendwo in der Ferne abziehendes Gewitter, dann wieder für das Knurren eines wilden Tieres. Aber was für ein Tier könnte das sein? Und warum war es hier? Schlich es auf Nahrungssuche hungrig um das Haus? War es etwa gefährlich...?

„Max, steh auf, Zeit zum Frühstücken.“

Luise rüttelte an meiner Schulter. Ich war also doch wieder eingeschlummert. Kaffeeduft stieg mir in die Nase. Gähnend rieb ich den Schlaf aus den Augen.

„Es ist wunderschönes Wetter draußen“, verkündete Luise fröhlich, als ich aus dem Bad kam und mich an den Frühstückstisch setzte. „Weißt du, was wir heute machen? Ein Picknick! Eine Mahlzeit im Freien! Ist das nicht eine wunderbare Idee? Ich habe schon angefangen, den Korb zu packen: Schinken, Käse, Tomaten, Hühnerkeulen und Baguette. Und eine Flasche Rotwein mit Gläsern und einem Tischtuch, damit es richtig zünftig wird. Wie bei den französischen Malern, bei Manet, Renoir, Toulouse-Lautrec …“

„Sag mal“, unterbrach ich sie während ich mein Ei schälte. „Hast du mitgekriegt, daß es heute Nacht ein Gewitter gegeben hat? Ich habe gegen Morgen so etwas gehört…“

„Das kann nicht sein“, erwiderte Luise empört. „Ein Gewitter hätte ich bemerkt. Es hat auch nicht geregnet, draußen ist es völlig trocken. Du mußt das geträumt haben. Immer träumst du so komische Sachen. Und versuche bitte nicht schon wieder, mir meine gute Laune zu verderben. Diesen Urlaub möchte ich einmal ganz unbeschwert genießen, das habe ich mir fest vorgenommen.“

Luise hatte panische Angst vor Gewittern, erst recht hier draußen, auf dem Land, in einer schlichten Holzhütte ohne Blitzableiter. Beim ersten Donnerschlag wäre sie mit Sicherheit munter geworden, hätte mich geweckt und bei mir Schutz gesucht. War das Grollen, das ich gehört hatte, also doch das Knurren eines wilden Tieres gewesen? Aber davon sagte ich Luise lieber nichts. Sie hätte geglaubt, ich wollte ihr Furcht einflößen, um ihre Picknickpläne zu torpedieren und wäre wütend auf mich geworden. Das wollte ich auf jeden Fall vermeiden.

Gleich nach dem Frühstück brachen wie auf. Luise trug ein leichtes, weißes Sommerkleid und hatte einen Strohhut mit einer breiten Krempe und einem langen blauen Band auf dem Kopf. Sie trällerte Melodien aus „Carmen“ und „La Bohème“ vor sich hin und schien ausgesprochen gut gelaunt. Die Idee eines Picknicks beflügelte sie offensichtlich. Ich folgte ihr mit dem vollen Korb, der zwar malerisch aussah, sich aber auf längeren Strecken schlecht tragen ließ. Meine Arme ermüdeten schnell. Immer wieder wechselte ich das schwere Ungetüm von einer Seite auf die andere.

Luise lief vorneweg und machte mich auf alles Schöne und Bemerkenswerte aufmerksam. Da war eine besondere Blume, dort ein prachtvoller Schmetterling. Mir erschien der Weg weit unerfreulicher: Staubig, steinig und mühsam zu gehen. Die Grasbüschel und Sträucher am Rand waren von der Sonne versengt und bräunlich gefärbt. Lange begegneten wir keiner Menschenseele. Das wunderte mich nicht im geringsten. Kein vernünftiger Mensch kam ohne einen zwingenden Grund in diese gottverlassene Gegend hinaus.

Nachdem wir geraume Zeit gegangen waren und ich immer sehnsüchtiger nach einem Rastplatz Ausschau hielt, kam uns eine ältere Frau entgegen. Es war eine Bäuerin mit einem Kopftuch, einem dunklen, verwitterten Gesicht und einer Kiepe auf dem Rücken. Sie schien uns nicht zu beachten, Luises freundlicher Gruß blieb unerwidert. Statt dessen blickte sie starr vor sich hin und murmelte ununterbrochen etwas, das sich wie eine Gebetslitanei anhörte. Luise sah ihr nach, bis die Frau hinter einer Wegbiegung verschwunden war.

„Wie aus einem Gemälde von Millet!“ rief sie entzückt.

Etwas später begegneten wir zwei weiteren Einheimischen, einem alten Mann und einem Knaben von sieben oder acht Jahren. Sie mochten Großvater und Enkel sein. Der alte Mann machte eine finstere Miene, der Knabe wirkte ängstlich. Im Vorbeigehen warf er mir einen teils furchtsamen, teils fragenden Blick zu. Wovor mochte er Angst haben? Ich versuchte mich zu erinnern, was ich in seinem Alter gefürchtet hatte. Etwas Unbekanntes, nicht Sichtbares, aber immer Gegenwärtiges, das schon hinter der nächsten Ecke lauern konnte…

Diesmal sagte Luise nichts.

Schließlich kamen wir in eine hügelige Landschaft. Die Bäume des Mischwaldes, der die umliegenden Berge bedeckte, rückten näher. Unter freudigen Ausrufen, immer wieder die schöne Umgebung bewundernd, erklomm Luise einen mit Gras bewachsenen Hang. Bei einer Gruppe großer Steine machte sie im Schatten der ausladenden Äste einer Buche halt. Nicht weit davon entfernt begann der Wald mit Büschen und Sträuchern, die ein dichtes, schwer zu durchdringendes Unterholz bildeten.

„Hier bleiben wir“, entschied Luise bestimmt. „Das ist der ideale Platz für ein Picknick.“

Etwas atemlos und schwitzend kam ich nach und stellte erleichtert den Korb ab. Meine Arme und Hände spürte ich kaum noch und der Rücken schmerzte. Nachdem ich wieder zu Atem gekommen war, versuchte ich, das Gras an jener Stelle ein wenig zu glätten und entfernte störende Steine und Äste. Luise breitete ein weißes Tuch aus und arrangierte die mitgebrachten Speisen darauf wie für ein Stilleben. Zufrieden lächelnd betrachtete sie ihr Werk. Ich öffnete die Flasche Rotwein, füllte zwei Gläser und wir stießen an. Meine Hand zitterte noch vom Tragen, was ich durch rasche Bewegungen zu verbergen suchte.

Die Aussicht war tatsächlich schön. Man sah auf die sanft geschwungenen Berge und in das Tal. Von hier wirkte alles viel freundlicher als aus unmittelbarer Nähe. Die Farben waren wieder frisch, das Gras und das Laub der Bäume smaragdgrün. Die Dächer eines halb versteckten Dorfes leuchteten in hellem Rot. Von fern grüßte die Spitze eines Kirchturms. Ein Maler fände hier reizvolle Motive. Wir aßen mit Appetit und tranken die Flasche Wein leer. Ich fühlte mich wohl und war für den Moment mit der Idee eines Picknicks in freier Natur einigermaßen ausgesöhnt.

Nach dem ausgiebigen guten Essen wurde ich schläfrig und machte es mir bequem, indem ich mich der Länge nach ausstreckte und den Kopf an einen der großen Steine lehnte. Luise hingegen hatte beschlossen, Sommerblumen zu pflücken, die überall auf dem Hang blühten. Diese Tätigkeit nahm sie völlig gefangen und sie entfernte sich immer mehr, den allmählich umfangreicher werdenden bunten Strauß wie eine Puppe in ihrem Arm haltend. Ich schloß die Augen, öffnete sie wieder und sah in der Ferne Luise mit Ihrem weißen Kleid und dem blaubebänderten Strohhut inmitten der flimmernden, von Mohnblüten rot betupften Wiese. Es sah aus wie ein Bild von Monet. Für einen Moment richtete sie sich auf und winkte mir zu. Ich winkte zurück, dann schloß ich erneut die Augen.

Fast wäre ich eingeschlafen, träge, satt und mit der Welt zufrieden. Da hörte ich wieder das Geräusch, zweifelsfrei ein drohendes Knurren. Es klang wild und ganz nah. Ich erschrak. Sollte ich es wagen, die Augen zu öffnen? Meine Lider waren wie zugeklebt. Schlafe und beachte es nicht, raunte mir eine innere Stimme zu. Du träumst nur. Doch dann wurde aus dem Knurren ein so entsetzlicher, gurgelnder und rasselnder Laut, daß ich es nicht mehr ertrug. Ich riß die Augen auf und sah vor mir etwas Großes, Dunkles, Zottiges. Ein Paar kleiner, schwarzer Pupillen musterte mich scharf. Ohne zu zögern stürzte sich das Wesen auf mich und schlug seine scharfen Raubtierzähne in meine Seite.

„Oh mein Gott!“ schrie ich entsetzt, von erbarmungslosem Schmerz gepeinigt. „Es frißt mich bei lebendigem Leib!“

Für einen Moment schien das Ungeheuer innezuhalten. Es starrte mich an, als wollte es sagen: Was soll das Gejammer? Du bist Fleisch und dazu da, verzehrt zu werden. Dachtest du etwa, du wärst etwas anderes als eine Speise?

Dann setzte es seine Mahlzeit mit unvermindertem Eifer fort.

Letzte Aktualisierung: 12.09.2007 - 20.28 Uhr
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