Ganz schön bissig ...
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September 2007
Existieren als bevorzugte Lebensform
von Anna Stern

Das Haus war gegenüber der einzigen Haltestelle des Dorfes. Uli starrte jeden Tag darauf, während er auf den Bus wartete, der ihn in die Stadt brachte. Manchmal hockte er schon so früh auf der mit Graffiti beschmierten Bank, dass er beobachten konnte, wie der silberfarbene Mercedes um Punkt 8.45 geräuschlos aus der Einfahrt rollte. Verpasste er den 9 Uhr Bus, sah er träge zu, wie die schlanke, blonde Frau kurz vor 10 Uhr den roten Smart aus der Garage manövrierte. Und kam er mal wieder gar nicht aus dem Bett, was immer öfter passierte, begegnete ihm der Smart um 14 Uhr, wenn er lethargisch in Richtung Bushaltestelle schlurfte.

Tatsächlich machte es für ihn kaum einen Unterschied, ob er tagsüber ziellos durch die Stadt schlenderte oder einfach im Bett blieb. Ausschlaggebend war an den meisten Tagen seine Mutter, die ab 8 Uhr unangemeldet in sein Zimmer kam um die Vorhänge aufzuziehen. Ihre vorwurfsvollen Blicke konnte er noch einigermaßen ignorieren, die abendlichen Anfragen seines Vaters, wann er sich verdammt noch mal endlich eine Arbeit suchte, waren dagegen schwieriger zu überhören. Manchmal spielte er mit dem Gedanken, einfach in der Stadt zu bleiben; was ihn davon abhielt war die nicht unbegründete Sorge, sein Vater könne über Nacht das Schloss auswechseln. Also schleppte er sich abends nach hause, schlang ein paar Brote hinunter und fiel wieder zurück auf sein Bett.

Wann ihm der Gedanke das erste Mal gekommen war, ließ sich schlecht sagen. Vielleicht an dem Tag, an dem er durch fast geschlossene Augenlider um kurz vor Zwei beobachtet hatte, wie die blonde Frau nicht wie üblich durch die Garage das Haus betreten hatte. Stattdessen war sie zur Haustür gelaufen, hatte einen kleinen Gegenstand aus dem voluminösen Blumenkübel gefischt und die Tür aufgeschlossen. Danach hatte sie das Ding wieder zurück in die Erde gedrückt und war im Haus verschwunden. Schlüssel vergessen, hatte er desinteressiert gedacht. Vielleicht war ihm aber doch in diesem Moment aufgegangen, dass das Haus zwischen 10 und 14 Uhr leer war. Und dass er nun wusste, wie man hinein kam. Nicht, dass er sofort an die Möglichkeiten gedacht hatte, die diese Konstellation eröffnete. Aber wie ein unscheinbarer Samen war der Gedanke immer weiter gewachsen, jedes Mal wenn er an der abgewrackten Bushaltestelle saß und wartete.

Auch hatte Uli keine Ahnung, warum gerade heute der entscheidende Tag war. Die Blicke seiner Mutter waren nicht missbilligender und die Sprüche seines Vaters nicht gehässiger als sonst gewesen. Wahrscheinlich lag es daran, dass er heute einfach keine Lust hatte, in die Stadt zu fahren. Eigentlich war er einfach nur sitzen geblieben, als der 9 Uhr Bus gekommen war. Eine Viertelstunde vorher war der Mercedes pünktlich aus der Einfahrt gefahren. Kurz vor 10 Uhr kam dann wie üblich der rote Smart aus der Garage, und Uli lehnte noch immer schläfrig an der zerkratzten Plexiglasscheibe.

Erst als der 10 Uhr Bus ebenfalls den Weg in die Stadt genommen hatte, wurde ihm bewusst, dass die Ereignisse gewissermaßen ihren Gang gingen. Sein Mund war plötzlich eigenartig trocken, und das Blut begann schneller als gewöhnlich durch seinen Adern zu fließen. Er merkte, dass er auf den hellrosa Blumenkübel starrte. Mit wackeligen Beinen stand er auf und bewegte sich wie in Trance langsam über die Straße. Sein Blick klebte auf der weißen Tür mit dem goldenen Knauf, als er seine verschwitzte Hand in die kühle Erde des Kübels steckte, fast sofort den Schlüssel fand, ihn herauszog, wie selbstverständlich in das Schloss steckte, umdrehte, die Tür aufdrückte und hindurchging. Innen blieb er im Flur stehen bis das Rauschen in seinen Ohren leiser geworden war. Dann wagte er einen Blick aus dem Türspion und sah nichts und niemanden auf der Straße. Ein glückliches Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

Müßig wanderte er eine Weile durch das modern und teuer eingerichtete Haus. Er zog hier eine Schublade auf und öffnete dort eine Schranktür, steckte sich eine Praline in den Mund, durchsuchte den Kühlschrank und bestaunte die Stereoanlage. Als er am Fuß der Treppe stand, die ins obere Stockwerk führte, waren erst 15 Minuten vergangen. Das Grinsen war die ganze Zeit nicht von seinem Gesicht gewichen.

Ganz gegen seine Gewohnheit sprang er fast federnd die Stufen nach oben, folgte dem Gang leichtfüßig um eine Ecke – und stolperte jäh zurück. Vor ihm stand ein Rollstuhl und in dem Rollstuhl saß eine alte Frau, die ihn kühl musterte. Einen Moment lang bekam Uli keine Luft vor Schreck, dann musste er wieder atmen, verschluckte sich und röchelte hilflos vor sich hin. Dabei starrte er in die klaren grünen Augen der alten Frau, deren Gesichtsausdruck keine Furcht zeigte, was er fast ein wenig als kränkend empfand. Seine Handflächen schwitzten und in der vollkommenen Leere in seinem Kopf gab es keine Gebrauchsanweisung für das weitere Vorgehen. Dann füllte die überraschend kräftige Stimme der alten Frau das Vakuum. „Wie bist du in das Haus gekommen? Hat die blöde Schnepfe wieder den Zweitschlüssel im Blumenkübel versteckt.“ Angesichts dieser energischen Feststellung war lediglich ein kurzes Nicken angemessen. Die alte Frau rollte verächtlich mit den Augen. „Damit selbst Dummbeutel wie Du keine Probleme haben, hier einzubrechen.“ Ulis Gesicht wurde heiß, aber sein Hals war zu trocken um Protest zu äußern. Er stand mit hängenden Schultern vor der aufrecht sitzenden Gestalt und konnte sich nicht rühren.

Als er nicht reagierte, seufzte die Frau und zuckte mit den Schultern. „Na gut, wenn dir nicht nach Konversation ist, zeige ich dir jetzt mal die Geldverstecke.“ Ihre Worte schwebten an seinem Bewusstsein vorbei, bis er ihren Sinn begriff und fast mit den Händen danach geschnappt hätte. Er brachte ein gekrächztes „Was?“ hervor. „Du bist doch wegen Geld und Schmuck hier. Oder was darf es sonst sein? Ich kann auch eine Sammlung völlig wert- und geschmackloser Porzellanfiguren anbieten, akribisch zusammengetragen von meiner dümmlichen Schwiegertochter.“ Uli wurde lebendig und winkte automatisch ab. „Nein. Lieber Geld und Schmuck. Echten Schmuck, natürlich,“ beeilte er sich hinzuzufügen. Die alte Frau nickte verständnisvoll und wendete den Rollstuhl. „Im Schlafzimmer.“ In Ulis Kopf machte es laut und deutlich „klick“. „Bleiben Sie sofort stehen,“ rief er. „Sie wollen mich doch verarschen. Sie denken nicht im Traum daran, mir das Geld zu zeigen. Sie halten mir gleich eine Waffe an den Kopf oder so. Ich bin doch nicht blöd.“

Die alte Frau drehte sich wieder um, in ihrem Blick lag Mitleid. Vorsichtig formulierte sie: „Sagen wir es einmal so, du bist auch nicht übermäßig intelligent. Aber ich kann deine Bedenken natürlich nachvollziehen.“ Sie legte ihren Kopf schief, während sie nach erklärenden Worten suchte. „Ich habe eine Lähmung in den Beinen,“ begann sie. Uli zuckte mit den Schultern. „Ein bisschen mehr Mitgefühl kann nicht schaden,“ murmelte die Frau pikiert. „Aber gut. Aufgrund meines Alters und meines Gebrechens bin ich der Ansicht, dass ich ein wenig mehr Anteilnahme und Fürsorge seitens meines Sohnes und seiner vollkommen verblödeten Ehefrau erwarten kann. Stattdessen, wie du gut weißt, lassen sie mich täglich mehrere Stunden hilflos und allein in diesem Haus. Nicht nur, dass Einbrüche drohen, nicht wahr, sondern ich könnte mit dem Rollstuhl umkippen, einen Schlaganfall bekommen, oder vielleicht möchte ich einfach nur einen heißen Tee aus der Küche im Erdgeschoss. Aber mein Schicksal ist ihnen vollkommen gleichgültig,“ schloss sie dramatisch und sah Uli erwartungsvoll an. Als er sichtlich wenig Bemühen zeigte, ihren Gedankengang zu vervollständigen, erklärte sie ungeduldig: „Ich habe gar kein Interesse daran, sie davor zu bewahren, dass sie ausgeraubt werden.“

In Ulis Kopf begannen sich ein paar halb verrostete Rädchen zu drehen. „Sie glauben, sie lassen Sie nicht mehr alleine, wenn sie Angst vor einem weiteren Einbruch haben?“ Die alte Frau nickte zufrieden. „Den Teufel würden sie tun. Ich kann auf der Stelle tot umfallen, aber wenn die Ersparnissen weg sind, bricht die Hölle los.“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Also?“ Die Gedanken in Ulis Kopf rasten nun in nahezu schwindelerregender Geschwindigkeit durcheinander. Er traute sich kaum zu fragen: „Und Sie werden mich nicht verraten?“ Wieder die rollenden Augen. „Solange du nicht geschnappt bist, werden sie sich nicht sicher fühlen.“ Dann tippte sie mit dem knochigen Zeigefinger auf das Ziffernblatt der goldenen Armbanduhr. „Blondchen kommt übrigens in einer Stunde wieder.“

War es dämlich gewesen ihr zu vertrauen? Im Nachhinein fand Uli die Frage ziemlich schwierig. Er hatte ein paar Bündel Scheine aus dem Versteck unter dem Bett mitgenommen, zusammen mit dem Schmuck aus der Kommodenschublade in die Plastiktüte gesteckt, die ihm die alte Frau in die Hand gedrückt hatte, und auf ihren besonderen Wunsch ein paar von den Porzellanpüppchen im Wohnzimmer zerbrochen. Dann hatte er sich etwas linkisch verabschiedet, noch kurz überlegt, ob er sich bedanken sollte, hatte das aber albern gefunden und war durch die Vordertür verschwunden, nicht ohne den Schlüssel an seinen alten Platz zu legen.

Dass er geschnappt wurde, lag wohl auch eher daran, dass er nicht daran gedacht hatte, Handschuhe anzuziehen um Fingerabdrücke zu vermeiden. So hatten schon einen Tag später ein paar Polizisten vor der Tür gestanden und ihn gleich mitgenommen; wobei es ihm vor allem leid tat, dass er noch nicht dazu gekommen war, mehr als ein paar Euro für ein Fastfood-Maxi-Menü von seiner Beute auszugeben. Immerhin musste er sich jetzt keine Gedanken mehr darüber machen, wie er den Schmuck versilbern sollte. Und überhaupt machte es auch eigentlich keinen Unterschied, ob er nun bei seinen Eltern oder im Knast herumhing. Schlaff sackte Uli auf dem Bett in der Untersuchungszelle zusammen und ließ seine Beine von der Matratze herunterbaumeln.

Letzte Aktualisierung: 21.09.2007 - 22.21 Uhr
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