Der Tod aus der Teekiste
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Oktober 2007
Schicksalssterne
von Michael Rapp

Achim lag in einem Trümmerfeld aus grünen Gelatinebrocken und zog die Luft in kurzen, unkontrollierten Zügen ein. Zuerst hatte er gar nicht atmen können, doch allmählich ließ der Schmerz nach, der von seiner Wirbelsäule ausstrahlte. Er erkannte, dass er nicht sterben würde.
„Wow, ich hoffe, Sie haben sich nicht weh getan!“, krähte jemand neben ihm. Achim drehte vorsichtig den Kopf. An seiner Seite kniete ein beliebter Fernsehclown und sah ihn halb besorgt, halb belustigt an. Neben dem Berufsspaßmacher war ein Kameramann in Stellung gegangen, der mit seinem Arbeitsgerät ungeniert in Achims Gesicht zielte.
„Das Zeug sollte eigentlich flüssig sein“, sagte der Fernsehstar entschuldigend, „Schleim eben, verstehen Sie? Wieso das diesmal als Block runtergekommen ist ... tja, ein echter Betriebsunfall.“ Er wandte sich der Kamera zu, um ein sympathisch verlegenes Lachen abzuschießen. „Das ist das erste Mal in fünf Jahren Fiese-Fallen-TV, dass ich so etwas erlebe.“
Achim hätte dem geständigen Fallensteller zu gern die Nase gebrochen, schaffte es aber nicht, sich weit genug zu drehen, um einen Schlag anzubringen.
„Nein, nein, bleiben Sie einfach liegen“, versuchte der Star ihn zu beruhigen, „wir haben schon den Notarzt gerufen. Sobald der Sie untersucht hat, können wir die versicherungstechnischen Fragen klären.“ Er erhob sich. „Jetzt müssen Sie mich bitte entschuldigen.“
Während sein Chef sich zurückzog, machte der Kameramann noch ein paar Aufnahmen.
Achim versuchte erfolglos, ihm ein Bein zu stellen.
„Wie ist das, sieht man wirklich Sternchen, wenn einem etwas Schweres auf den Kopf fällt?“, fragte der Kerl grinsend, während er über die plumpe Fußangel einfach hinwegstieg.
„Die sehe ich andauernd“, antwortete Achim bitter.
Eine Zeit lang lag er still und beobachtete die Schaulustigen, die sich offenbar nicht entscheiden konnten, was interessanter war, er oder die Fernsehcrew auf der anderen Straßenseite. Schließlich schaffte er es, aufzustehen. Still ging er die Einkaufsstraße herunter, während die eben eingetroffenen Rettungssanitäter sich mit Autogrammkarten eindeckten.
–
Hinter ihm versteinerten die Türme der Stadt in der Dämmerung, als Achim die Flanke des Galgenhügels hinaufstieg. Die Schmerzen in seinem Rücken hatten nachgelassen, nur noch gelegentlich, nach unvorsichtigen Schritten, schoss ein lähmender Impuls durch seinen Körper, der Bewegung und Atmung für Sekundenbruchteile einfror.
Das Mondlicht floss um die knorrigen Äste der Blutlinde und fiel weich auf den Platz um die breite Basis des Baumes. Grobe Steinbänke erinnerten an die Geschichte dieses Ortes. Noch zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts waren hier Todesurteile gefällt und auch vollstreckt worden. Kein anderer Flecken Erde in weitem Umkreis hatte mehr Volkssagen inspiriert. Achim erschien er gerade deshalb als der einzig mögliche Ort, um seine Klage vorzubringen.
Zornig riss er sich den grüngesprenkelten Mantel vom Leib, breitete die Arme aus und sah auf zum Himmel. „Glaubt ihr wirklich, ich hätte es nicht längst verstanden. All die Zeichen: immer wieder Sterne. Als Julia mich für diesen Yuppie verlassen hat, waren ihre Ohrringe Sterne. Und als ich den besten Job verlor, den ich jemals hatte: Ich habe von der geplanten Übernahme zuerst aus dem STERN erfahren. Überall taucht ihr auf und bringt mir Unglück. Erst letzte Woche wurde mein Auto von Stardust Inkasso eingezogen.“
Ein leichter Regen setzte ein und ließ schmutzige Tropfen über seine Haut laufen. „Wieso? Steigt gefälligst runter und erklärt mir das! Ich bin kein schlechter Mensch, habe nie jemandem etwas angetan, warum also diese Heimsuchung?“
Der Kosmos schwieg. Die Sternbilder standen auf ihren angestammten Plätzen. Nur Fledermäuse zogen ihre verwinkelten Bahnen.
„Ich wäre heute fast verreckt!“, brüllte Achim. „Ist es dass? Wollt ihr mich tot sehen?“
„Schrei hier nicht rum! Ich will schlafen!“ Die Worte brummten hinter der Linde hervor und trafen Achim mit Wucht.
„Komm raus! Zeig dich! Du bist einer von denen, stimmt's?“
Ein breiter, bärtiger Kopf schob sich um die Rundung des Baumes „Einer von welchen?“
Achim lief hastig, um den Fremden zu begutachten. An der Basis des Stammes saß ein riesiger Mann, sehr korpulent, sehr haarig. Bekleidet war er mit einem alten, grünen Wollmantel, der offen an ihm hing, und einer dunklen Hose. Was Achim aber gleich ins Auge sprang, war das Sweatshirt, das sich über seinem gewaltigen Bauch spannte. Der rote Stern darauf wurde so nach außen gepresst, dass er fast aus dem Stoff zu schlüpfen schien.
„Ich hab's gewusst!“
Der Riese gähnte ausgiebig. „Ich fürchte, du verwechselst mich mit jemandem. Ich bin bloß ein Wanderer, der für die Nacht ein ruhiges Plätzchen gefunden hat – jedenfalls dachte ich, es sei ruhig.“
Achim ließ sich nicht verunsichern. „Du trägst das Zeichen!“
„Welches Zeichen?“, fragte der Fremde wenig interessiert.
„Den Stern – den elenden Schicksalsstern, der mir das Leben zur Hölle macht!“ Bei diesen Worten trat Achim vor und griff nach dem Sweatshirt. Doch schon auf halbem Weg stoppte ihn der Knauf eines altmodischen Wanderstocks, der sich in seinen Magen bohrte. Keuchend fiel er zu Boden. „Scheiße –“
„Ganz ruhig mein Junge.“ Der Riese richtete sich auf. Sein Bauch gab der Bewegung die Grazie eines Mondaufgangs. „Ich habe verstanden, dass dich das Schicksal nicht gerade auf Rosen gebettet hat, aber glaubst du wirklich, dein Unglück sei mehr als bloßes Pech?“ Er streckte Achim eine schwielige Hand hin, um ihm aufzuhelfen.
Achim zögerte, sie zu ergreifen. „Wie soll es sonst sein? Niemand hat so viel Pech wie ich, und immer geschieht es im Zeichen eines Sterns.“
„Also denkst du, eine höhere Macht hat es auf dich abgesehen?“
Der skeptische Blick des Fremden schmerzte. Rücksichtslos zwang sich Achim auf die Beine. „Sag es ruhig laut: Ich benehme mich wie ein Verrückter.“
Der Riese seufzte und stützte sich schwer auf seinen Stock. „Ich denke nicht, dass du verrückt bist. Es gibt eben Menschen, die im Leben mehr leiden müssen als andere. Ich habe selbst viel erlebt, glaub mir, ich verstehe etwas vom Unglück – aber auch vom Glück. Und weißt du: Meiner Erfahrung nach ist es so, dass viele sich in ihrem Unglück richtiggehend einrichten. Sie gewöhnen sich so sehr daran, Pech zu haben, dass sie es schließlich sogar selbst anziehen.“
Achim schüttelte traurig den Kopf. „So ist es nicht. Aber wie soll man sich von Sternen fernhalten? Sie sind überall – besonders wenn man durch die Einkaufsstraßen geht, kann man ihnen nicht entgehen. Sie lauern an jeder Ecke. Dabei ist erst Oktober!“
„Vielleicht solltest du dich einfach wieder mit deinem Glück versöhnen“, entgegnete der Fremde.
„Was meinst du?“
„Ich denke, du solltest die Sterne nicht als Feinde sehen. Solange du dein Leben damit verbringst, vor dem Unglück zu fliehen, wird dich das Glück nicht finden.“
„Das klingt ja sehr lyrisch.“
„Hör mal“, sagte er Riese ernst, „willst du wirklich, dass alles für dich so bleibt, wie es im Moment ist? Die ständige Angst, das Gefühl des Belauert-Werdens?“
„Nein, aber ...“
„Es gibt kein Aber! Ich sage dir: Ich war verloren und habe den Weg wieder gefunden – Halleluja!“ Er donnerte die Lobpreisung in die Nacht. „Und du kannst das auch. Du musst es nur wollen.“
Achim wollte schon. „Aber wie?“
„Ändere deine Haltung zu den Dingen. Lass die Furcht gehen, und fülle deine Gedanken mit Vertrauen, Glauben und Zuversicht.“ Der Riese überlegte einen Augenblick, dann zog er sich den Wollmantel aus und das Sweatshirt über den Kopf. „Hier, zieh das an.“
Achim wich einen Schritt zurück. „Warum?“, fragte er verunsichert.
„Du fürchtest die Sterne, weil du glaubst, dass sie dir schaden wollen. Aber du wirst sehen: Wenn du das Shirt trägst und unter dem Zeichen des Sterns wanderst, wird dir nichts Schlechtes passieren. Versuch es – nimm, ich kann es entbehren.“
Der Riese ignorierte Achims abwehrende Geste und stülpte ihm das Kleidungsstück einfach über den Kopf.
Achim musste kämpfen, bis er das übergroße Shirt endlich gebändigt hatte. Nun baumelte es wie eine Zeltplane an ihm und stank erbärmlich nach Schweiß und Bier. Er zwang sich zu lächeln. „Na, wenn das mal gut geht.“
„Das steht dir super“, sagte der Riese aufmunternd. „Denk immer daran: Das Glück kommt zu dem, der es in sein Herz lässt.“ Er grinste breit. „Sieh mich an: Ich habe mich schlafen gelegt, mit nichts in den Taschen als warmer Luft, und dennoch weiß ich, dass ich morgen nicht hungrig bleiben werde. Warum? Weil ich das Leben beim Schopf packe und auf mein Glück vertraue.“ Freundschaftlich legte er Achim die Hand auf die Schulter. „Deshalb wird es für mich jetzt aber auch Zeit, weiterzuziehen. Du wirst es schon packen.“
Obwohl Achim versuchte, ihn zum Bleiben zu bewegen, raffte der Riese eilig sein Bündel und stürmte mit weiten Schritten den Hügel hinunter. Zweimal drehte er sich um und schob einen Arm aus der graugrünen Masse seines Körpers zum Gruß.
Achim blickte dem Fremden nach, bis dieser endgültig in der Nacht verschwand. Die seltsame Begegnung hatte ihm gut getan. Er fühlte sich erleichtert, konnte wieder durchatmen. Müde ließ er sich am Stamm der Linde nieder und betrachtete die friedlich strahlenden Himmelskörper, bis er einschlief. Dass sein Mantel mit der Brieftasche verschwunden war, bemerkte er erst am nächsten Morgen.

Letzte Aktualisierung: 26.10.2007 - 21.53 Uhr
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