„Wo ist er?“
Andreas schob sich an seiner Mutter vorbei in den Flur.
„Im Wohnzimmer. Ach, Junge, es tut mir so Leid!“
„Abwarten. Das soll er mir selbst ins Gesicht sagen!“
Andreas preschte auf das Wohnzimmer zu wie ein Basketballspieler auf den Korb. Sein Gesicht war zu einem Knoten aus geballter Wut verzerrt.
Sein Vater saß in seinem Schaukelstuhl und studierte die Tageszeitung. Die Pfeife hing ihm wie gewohnt lässig im Mundwinkel.
„Was ist mit dir los? Was soll das?“ schnaubte Andreas.
„Guten Tag, mein Junge.“
„Ich hab dich was gefragt!“
„Ich habe dich gehört.“
„Ja und? Bekomme ich eine Antwort?“
„Setz dich.“
Der alte Kauz deutete auf das Sofa ohne von seiner Lektüre aufzublicken. Andreas ließ sich in die Polster fallen.
„Ich verstehe dich einfach nicht! Wieso tust du mir das an?“
„Möchtest du was trinken?“
„Himmel nein! Ich möchte endlich wissen was los ist!“
Andreas´Vater faltete sorgfältig seine Zeitung zusammen und legte sie neben sich auf den Boden. Nachdenklich schaute er den Rauchkringeln nach, die über seinem Kopf in der Luft tanzten. Andreas beobachtete ihn. Seine Wut verwandelte sich in Enttäuschung.
„Kannst du denn nicht verstehen, wie wichtig das morgen für mich ist? Es ist dir gewidmet, es trägt deinen Namen! Wieso willst du nicht dabei sein? Bist du denn nicht stolz?“
„Junior, ich werde dir jetzt etwas sagen und dann wirst du wissen, warum ich nicht kommen werde.“ Andreas verschränkte die Arme vor seiner Brust, als müsste er sich vor den Worten seines Vaters schützen.
„Du weißt, dass ich bis vor 43 Jahren selbst Koch war.“
„Ja, du hast aufgehört, als ich geboren wurde, weil du mehr Zeit für deine Familie haben wolltest.“
„Das ist die offizielle Version.“
„Stimmt sie denn nicht?“
„Ich war 35, als ich meinen ersten Stern vom „Guide de Michelin“ erhielt. Viele Experten waren sich sicher, dass ich schnell mindestens drei erreichen würde. Ich war der Beste.“
„Natürlich warst du der Beste. Genauso wie Großvater vor Dir und wie ich jetzt. Deswegen verstehe ich nicht, warum du -“
„Am Tag deiner Geburt wollte ich frei nehmen, um deiner Mutter beistehen zu können. Aber mein Freund Fred von der Zeitung hat mir verraten, dass einige Restaurantkritiker kommen würden. Somit war ich nicht abkömmlich.“
Andreas´Vater senkte seinen Blick und kaute auf dem Mundstück seiner Pfeife wie an einem Stück harten Brot.
„Es war ein schrecklicher Tag. Wir hatten zu wenig Personal und alles ging drunter und drüber. Ich war nicht bei der Sache. Deine Mutter lag in den Wehen und brauchte mich.“
„Vater, ich verstehe immer noch nicht, was -“
„Ich habe ihn verloren!“ Heinrich Weidmanns Stimme bebte und seine blauen Augen verdunkelten sich wie das Meer, wenn eine Wolke darüber zieht.
„Wen verloren?“
„Den Stern! Was denn sonst? Meinen Stern haben sie mir genommen!"
„Was? Warum hast du mir das nie erzählt?“ Andreas war geschockt.
„Was sollte ich da schon groß erzählen? Ich habe den Grund selbst nie erfahren. Das einzige, was in dem Brief, den sie mir geschickt haben, stand, war, dass man mir noch immer einen hohen Grad an Kochkunst, Kreativität und Qualität bescheinigen könne.“ Er lächelte gequält.
„Deswegen hast du aufgehört? Das ist doch kein Grund! Natürlich ist es hart den Stern zu verlieren, aber gerade dann hättest du weiter machen müssen! Vor allem, weil es sicher nicht an dir, sondern am Service gelegen hat. Du weißt doch, dass die Kritiker alles bewerten und nicht nur den Koch. Schließlich geht der Stern an den Koch und das Restaurant." Andreas´Vater schüttelte den Kopf.
"Eine schlimmere Katastrophe hätte mich gar nicht treffen können, so ehrgeizig wie ich damals war. Und Deinen Großvater erst! Für ihn war es bis zu seinem Tode eine nicht wieder gut zu machende Schande für unsere Familie. Das hat er mich bis zum Schluß spüren lassen."
"Obwohl du danach all die Jahre director de cuisine im Schlosshotel warst?" Andreas rang noch immer um seine Fassung.
"Ja. Er wollte mich eben erfolgreich kochen sehen und nicht delegieren." Die beiden Männer schwiegen. Ihre Blicke schienen nach unsichtbaren Flecken auf dem Teppich zu suchen.
„Aber dann müsste es dich doch umso mehr freuen, wenn dein Sohn morgen sein Gourmet-Restaurant in deinem Namen eröffnet! Du musst dabei sein!“ Andreas´Vater schüttelte den Kopf.
„Es tut mir Leid, mein Junge. Mein Entschluss steht fest. Ich werde nicht kommen. Genieße den Presserummel und freue dich, solange die Kritiker dir wohl gesonnen sind.“
„Aber ich möchte, dass du morgen an meiner Seite -“
„Ich habe dir dazu nichts mehr zu sagen.“
Andreas stand auf. Sein "alter Herr" nahm die Zeitung vom Boden auf und vergrub sich in den Wirtschaftsteil.
"Großvater war ein alter Dickschädel. Und du bist genau wie er!"
Die Eröffnung schien ein voller Erfolg zu werden. Das Restaurant glich einem voll besetzten Theatersaal. Andreas erledigte gewissenhaft und perfekt wie immer seine Arbeit in der Küche. Aber die Enttäuschung über den Entschluss seines Vaters schwebte wie eine schwere, schwarze Wolke über ihm. Als er schließlich aus der Küche in den Speiseraum trat, um ein paar Worte an die Gäste und die Presse zu richten, erhoben sich alle von ihren Plätzen und applaudierten. Ein Fernsehteam und mehrere Reporter umzingelten ihn wie Bodyguards.
„Herr Weidmann, im Namen unseres Senders - und ich denke auch im Namen aller hier anwesenden Gäste - möchte ich Ihnen herzlich zu Ihrem zweiten Michelin-Stern und zur Eröffnung Ihres eigenen Gourmet-Restaurants gratulieren!“ sagte einer der Reporter und drängte sich näher an Andreas heran.
„Danke sehr.“
„Sagen Sie, Herr Weidmann. Sie haben in ihrer 24jährigen Karriere mehr Auszeichnungen erhalten als andere in ihrer ganzen Laufbahn. Jetzt haben Sie Ihren zweiten Stern erhalten und Ihr eigenes Restaurant eröffnet. Haben Sie noch Wünsche?“
Andreas´ Lächeln verschwand. Er ließ seinen Blick durch den Raum wandern, der endlose Dimensionen zu haben schien. Sein Herz wog plötzlich zwei Tonnen und er atmete tief ein.
„Ja. Ich habe einen Wunsch. Aber ob der sich erfüllt, weiß ich nicht.“ antwortete er und blickte zur Tür. Jemand öffnete sie vorsichtig.
Letzte Aktualisierung: 13.10.2007 - 21.59 Uhr Dieser Text enthält 6283 Zeichen.