Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespĂĽrt.
Nichts konnten sie ausrichten, die Leuchtfeuer. Nichts die Wärme und Nähe der vielen vertrauten Menschen, die mich umschlossen hatten. Erbarmungslos griffen die Finger der Herbstkälte nach mir, tasteten in mich hinein, wie Faolán, der Druide, wenn er die Zukunft voraussagte aus den Gedärmen eines Schafes. Die Vorboten des Winters ließen sich in meinem Herzen nieder wie klamme Finger vor einem warmen Herd, wie Raben, die, aufgeschreckt durch den Klang einer Axt, wieder hinabgleiten auf die Felder, auf denen sie Nahrung finden.
Jede freie Minute dachte ich an ihn, doch von denen hatte es in den letzten Tagen wenige gegeben. So hatte ich nicht die Muße gehabt, hinunterzuschauen zum Weg und mir zu wünschen, er möge ihn hinaufkommen, wenn ich auf den Dorfplatz eilte, um Wasser zu holen oder die großen Bottiche mit dem warmen Fleisch der geschlachteten Tiere ins Haus trug.
Nun, ganz unvermittelt, war sie da, die Gestalt. Mein Bruder Bran, mehr Traum, denn Mensch, ein Schattenspiel vor der dunklen Silhouette der Bäume auf dem Weg zum Dorf hinauf. Das flackernde Licht des großen Feuers, das uns durch den Winter bringen würde, warf einen fremden Schein auf sein Gesicht. Verändert war es wie die Schafsknochen, der Hitze des Feuers übergeben, damit ihre Asche dem Boden neues Leben gibt im Frühling. Als er uns verlassen hatte, vor einem halben Menschenleben, war er ein anderer gewesen. Sein schwarzes, glänzendes Haar, einst zu einem geflochtenen Zopf getragen, war nun gestutzt und grau, seine Wangen voller, weicher, sein Schritt mehr wie sanftes Meereskräuseln, denn wie eine herannahende Woge, die vorwärts eilt, um brandend an den Strand zu schlagen.
So viele Jahre hatte ich mir gewünscht, er möge zurückkommen und sich in meine Arme schließen lassen, so sehr gewünscht und gleichzeitig doch gehofft, er möge nie zurückkehren. Warum war er hier? Hatten sie ihn hergeschickt?
Ich betete zur großen Mutter, sie möge ihn sich besinnen, umkehren lassen, bevor ihn jemand sah, doch sie hörte mich nicht, denn er schritt voran, leicht, fast gleitend wie ein Vogel, immer weiter, bis er schließlich stehen blieb, ein Ausgestoßener vor der Gruppe derer, die einmal die Seinen gewesen waren.
Wie eingefroren standen sie da, die Männer und Frauen des Dorfes und lange durchbrach nur das Prasseln des Feuers das dunkle Schweigen.
Schließlich trat Faolán aus der Gruppe hinaus.
„Schau an, Bran Og!“ Seine Stimme schneidend wie eine Klinge, die Augenbrauen kraus gezogen, sein massiger Körper trotzend wie eine Schutzwall zwischen meinem Bruder und uns, der Menge, als er Bran, den Mann, bei dem Namen rief, den er als Junge getragen hatte.
„Was treibt dich hier her? Haben deine Brüder dich hinausgeworfen?“ Die Spitzen Faoláns dunklen Bartes zuckten, als er Bran die Worte entgegenzischte.
Mein Bruder schaute ihn an aus weise funkelnden Augen, doch er antwortete nicht, war nur Gestalt, doch keine Stimme.
„Na, sag schon! Oder hast du etwa ein Schweigegelübde abgelegt?“ Faoláns Lachen war lauthals und bitter, voll Spott, Hohn und Vorwurf.
„Hast du keinen Respekt? Kein Ehrgefühl? Schädige uns, wenn du magst, aber liegen dir die Seelen der Unsrigen so wenig am Herzen? Verschwinde! Geh mir aus den Augen, geh zurück zu deinen heiligen Brüdern und besauft euch mit eurem Messwein. Du entehrst das Ehrenfest unserer Toten!“
Der Druide machte einige Schritte auf Bran zu, bereit zum Sprung wie ein Wolf, der seine Jungen schützt. Bran jedoch stand nur da wie ein Baum, tief verwurzelt, so nahe am nährenden Feuer, das Wärme und Leben schenkt, dass die Flammen fast an ihm zu lecken schienen.
Niemand sagte ein Wort, bis die weise Aisling schlieĂźlich das Schweigen brach.
Sie fasste Faolán am Arm, beschwichtigend wie eine Mutter. „Nun, nun, Faolán. Lass ab von dem Jungen! Schau, so voller Wut bist du, dass du ihm gar nicht zuhören würdest, selbst wenn er ein Wort spräche!“
„Gut nur, denn er soll ruhig schweigen. Niemand hier will hören, was er zu sagen hat. Wollen wir uns ungebührliche Respektlosigkeiten, Lügen anhören? Und was anderes könnte einer uns erzählen, der die Seinen missachtet, sich von ihnen abwendet, sich stattdessen den Brüdern anschließt, die es sich zum Ziel gemacht haben, uns alles, woran wir glauben, abzusprechen? Ausreden wollen sie uns unseren Glauben. Sie verleugnen ihren Ursprung, die große Mutter, das Leben, das in allem wohnt. Überreden wollen sie uns, nur noch diesen Christus anzubeten! Dieser Mann gehört jetzt zu ihnen und ist keiner mehr von uns!“ Mit ausgestrecktem Finger zeigte er auf Bran, der einfach nur dastand und schaute, während die Schattenfiguren, die dem Feuer entsprangen, um ihn herum wirbelten, als bäten sie ihn zum Tanz.
„Dieser Mann hat alles verraten, was uns lieb und teuer ist! Hat geholfen, die Axt zu schwingen, die uns fällen soll und jetzt bringt er diese Axt direkt in unsere Mitte! - Vertreibt ihn, sage ich, schickt ihn zurück zu seinen Brüdern!“
„Faolán, Faolán, hör auf zu Knurren, Wolf! Kannst du nicht sehen, dass der Junge nicht zu uns gekommen ist, um Bäume zu fällen? Schau hin! Er ist zurückgekehrt. Wollen wir uns nun mit weltlichen Dingen aufhalten und alte Fehden pflegen? Ist es das, was du möchtest? Oder wollen wir nicht lieber unseren verlorenen Sohn Bran, den Raben, aufnehmen in unserer Mitte und ihn teilhaben lassen am Freudenfest für unsere toten Ahnen und auch Eachna, seine Mutter, die vor zwei Monaten dem Fieber erlegen ist? Wir wollen doch nicht gram sein mit irgendwem am heutigen Tag, denn heute ist Samhain, das freudige Fest für all jene, die ihre wahre Gestalt annehmen und sich auf machen in die Anderswelt. Wollen wir nicht feiern und denen, die in diesem Jahr gestorben sind und uns heute für immer verlassen bis wir sie eines Tages wiedersehen, den Abschied geben, der ihnen gebührt? Dünn sind die Nebelschleier heute, welche die Anderswelt verbergen. Die Unsrigen sind hier bei uns heute an diesem Tag, zum letzten Mal.“
„Er soll gehen, sage ich! Das ist meine Meinung! - Doch du, Aisling, kennst die Zukunft anders, als ich es je vermag, so vertraue ich deinem Urteil und will ihn zumindest fragen, weswegen er gekommen ist.“
Faolán wandte sich an Bran. „Nun sag, Mann! Was willst du hier? Bist du gekommen, um uns zu bekehren? Dann verschwinde! Oder willst du Abschied nehmen? Ist das der Grund für dein Kommen, dann bleib und sei willkommen und dies von ganzem Herzen!“
Erwartungsvoll schauten wir ihn an, harrten seiner Antwort, doch Bran sagte noch immer nichts. Nur sein funkelnder Blick flog über die Menge, rastete auf jedem der vertrauten Gesichter, nur ein paar Flügelschläge lang. Seine Augen landeten auf mir, seiner Schwester, landeten in meinem Herzen und ich verstand. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er mir zunickte.
Dann mit einem knisternden Krachen im Astgetürm des Feuers war er verschwunden, der, der einst mein Bruder Bran gewesen war. Nur ein Rabe kreiste über uns, krächzte drei Mal wie zum Dank und flog in den dunklen Himmel, der jetzt sein Zuhause war, bis der Nebel ihn verschluckt hatte.
Letzte Aktualisierung: 25.11.2007 - 23.41 Uhr Dieser Text enthält 7157 Zeichen.